Lernziele

Nach der Lektüre dieses Beitrags …

  • kennen Sie die Einteilung und die Entstehung der Bindungsmuster.

  • sind Sie in der Lage, Bindungsstörungen zu erkennen.

  • wissen Sie, wie Sie vorgehen müssen, um Bindungsstörungen zu diagnostizieren.

  • kennen Sie Differenzialdiagnosen zu Bindungsstörungen.

  • kennen Sie das interdisziplinäre Vorgehen bei Bestehen einer Bindungsstörung.

Hintergrund

Die Bindungsentwicklung ist nach John Bowlby (1907–1990), dem Begründer der Bindungstheorie, ein genetisch angelegtes motivationales Bedürfnis, das zum Überleben eines Kindes und auch des Erwachsenen absolut notwendig ist. Wenn Kinder mit einer sicheren Bindungsqualität Angst erleben, versuchen sie durch ihr Bindungsverhalten – wie z. B. Protest, dem Erwachsenen folgen, rufen, weinen und anklammern – ihre Bindungsperson auf sich aufmerksam zu machen und Nähe zu ihr herzustellen, um auf diese Weise bei ihr Schutz und Sicherheit zu erleben. Dieses sichere Bindungsmuster gilt in der Bindungsforschung allgemein als ein Resilienzfaktor. Er schützt vor der Entwicklung einer Psychopathologie.

Dagegen stellen unsicher-vermeidende sowie unsicher-ambivalente Bindungsmuster Risikofaktoren dar. Kinder mit einem unsicher-vermeidenden Bindungsmuster zeigen eine Verhaltensstrategie, mit der sie sich an das zurückweisende Verhalten ihrer Eltern, die auf ihre Bindungssignale hin erfolgten, durch Vermeidung anpassen. Sie haben gelernt, dass das Signalisieren von Nähewünschen von ihren Eltern eher mit Abweisung beantwortet wird. Unsicher-ambivalent gebundene-Kinder dagegen wissen, dass ihre Signale und ihr Suchen nach Schutz und Sicherheit von den Bindungspersonen mit ängstlichem Verhalten beantwortet werden. In einer aktuellen Metaanalyse über die Eltern-Kind-Bindung und die transgenerationalen Zusammenhänge [1] zeigten 52,2 %Footnote 1 der Kinder eine sichere und 24, 6% 1 der Kinder eines der beiden unsicheren Bindungsmuster. Die organisierten Muster (sicher, vermeidend, ambivalent) gelten als Strategien, mit denen sich die Kinder schon im ersten Lebensjahr an die Reaktionen ihrer Bindungspersonen angepasst haben.

Das desorganisierte Bindungsverhalten (23,2 % 1 [1]) kann dagegen schon nicht mehr als eine adaptive Strategie angesehen werden; es ist definitiv aber noch keine Bindungsstörung. Hierbei können bei den Kindern in Situationen, die ihnen Angst machen und ihr Bindungsverhalten aktivieren, widersprüchliche Verhaltensweisen – wie zur Bindungsperson hinlaufen, stehen bleiben, umkehren, Einfrieren der Bewegung, motorische Stereotypien – beobachtet werden. Diese wirken auf einen außenstehenden Beobachter wie ein „verwirrtes“ Verhalten. Dieses Verhalten wird einerseits bei kindlichem Risiko (z. B. bei Frühgeborenen oder bei Kindern mit einzelnen traumatischen Erfahrungen) sowie andererseits bei elterlichem Risiko (etwa bei ungelöstem Trauma oder ungelöstem Verlust der Eltern) beobachtet.

Wenn es dagegen schon im Säuglings- und Kleinkindalter zu lang andauernden, häufigen Traumatisierungen des Kindes durch seine Bindungspersonen gekommen ist, entwickeln Kinder im weiteren Verlauf häufig Bindungsstörungen. Die werden als frühe emotionale Psychopathologie angesehen.

Ätiologie

Die Entstehung von Bindungsstörungen wird ätiologisch auf Traumata – wie die frühen Erfahrungen des Kindes von Misshandlung, Missbrauch, Gewalt und extremer Vernachlässigung durch Bindungspersonen – zurückgeführt.

In klinischen Stichproben finden sich bei Bindungsstörungen tiefgreifende Veränderungen und Deformierungen in der Bindungsentwicklung. Die umfassendsten Erkenntnisse über die Entwicklung und die Entstehung von Bindungsstörungen stammen aus den längsschnittlichen Untersuchungen über die emotionale Entwicklung von Säuglingen und Vorschulkindern. Dies waren unter den Bedingungen schwerer früher Deprivation in rumänischen Heimen aufgewachsen und wurden dann von englischen und kanadischen Familien adoptiert. Die Längsschnittstudien zeigen, dass diese Kinder teilweise auch viele Jahre später noch unter den Symptomen ausgeprägter reaktiver Bindungsstörungen mit zusätzlichen Störungen in Bezug auf das Aufmerksamkeitsdefizit-und Hyperaktivitätssyndrom (ADHS) sowie unter solchen Verhaltensweisen litten, die einer Autismus-Spektrum-Störung ähnelten [2].

Prävalenz

Man kann davon ausgehen, dass Bindungsstörungen mit einer sehr niedrigen Prävalenz auftreten. In der ersten epidemiologischen Studie von Pritchett et al. [3] fand sich eine allgemeine Prävalenz von 1,4 % für Bindungsstörungen in einem Sample von 1600 Kindern im Alter von 5 bis 8 Jahren. Diese waren sehr differenziert mithilfe verschiedener Instrumente einem Screening auf Bindungsstörungen unterzogen worden. Bei fast allen Kindern mit der Diagnose Bindungsstörung konnte im Rahmen der weiteren Diagnostik Vernachlässigung und Misshandlung in der Lebensgeschichte erhoben werden. In Untersuchungen und Stichproben zu Kindern, die unter extrem vernachlässigenden Bedingungen in Heimen aufgewachsen sind, steigt die Prävalenz für Zeichen von Bindungsstörungen auf 40 % und mehr an [4]. Allerdings wurden in manchen Untersuchungen der Begriff und die Diagnose Bindungsstörung unspezifisch und undifferenziert für viele Formen von emotionalen Schwierigkeiten angewendet.

In kinderpsychiatrischen Kliniken, Ambulanzen, Waisenhäusern, Kinder- und Jugendhilfeeinrichtungen dürfte der Prozentsatz von Kindern mit schweren frühen emotionalen Vernachlässigungserfahrungen und auch Misshandlungen sowie daraus resultierenden Bindungsstörungen groß sein. In dem Patientenkollektiv der MOSES-Studie, das sich aus früh und schwer traumatisierten Kindern zusammensetzt, trifft die klinische Diagnose „Bindungsstörung“ vor Beginn der Behandlung fast immer zu [5].

Diagnostik

Diagnostische Manuale

In der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD-10) wird eine „reaktive Bindungsstörung im Kindesalter (Typ I, F94.1)“ von einer „Bindungsstörung des Kindesalters mit Enthemmung (Typ II, F94.2)“ unterschieden. Die Diagnose „reaktive Bindungsstörung im Kindesalter“ (Typ I F94.1) in der ICD-10 beschreibt Kinder, die in ihrer Bindungsbereitschaft gegenüber Erwachsenen sehr gehemmt sowie mit Ambivalenz und Furchtsamkeit auf Bindungspersonen reagieren, z. B. vor ihnen weglaufen, wenn sie Angst haben. Beim Typ II (F 94.2 – Bindungsstörung des Kindesalters mit Enthemmung) zeigen Kinder ein konträres klinisches Bild mit enthemmter, distanzloser Kontaktfreudigkeit sogar gegenüber ihnen vollkommen fremden Personen. Dieses Verhalten erscheint in der DSM-5-Klassifikation unter „symptoms of disinhibited social engagement disorder“ (DSED). Beide Typen der Bindungsstörung werden als direkte Folge extremer emotionaler und/oder körperlicher Vernachlässigung und Misshandlung oder als Folge ständigen Wechsels der Bezugspersonen angesehen. Somit müssten beide Subtypen der Bindungsstörung im Prinzip als „reaktiv“ benannt werden.

In sämtlichen Diagnosesystemen gibt es kein übergeordnetes Erklärungsmodell. Dies ist erstaunlich, denn schon in früheren Jahren wurden vor dem Hintergrund der Bindungstheorie Typologien von Bindungsstörungen beschrieben, die aber in die oben angeführten Klassifikationssysteme bis heute keinen umfassenden Eingang gefunden haben. Brisch [6] hat eine erweiterte Typologie von Bindungsstörungen beschrieben, um klinisch hoch auffälliges Bindungsverhalten differenzierter zu erfassen. Der Gewinn dieser differenzierteren zusätzlichen Einteilung besteht darin, dass der Kliniker bei entsprechender Symptomatik an Bindungsprobleme und Traumatisierungen des Kindes denken kann. Hierzu zählen etwa Kinder, die gar keine Anzeichen von Bindungsverhalten zeigen (auch wenn sie maximal gestresst und in Panik sind), Kinder mit Unfallrisikoverhalten, übersteigertem Bindungsverhalten, aggressivem Bindungsverhalten, Bindungsverhalten mit Rollenumkehr, Bindungsstörung mit Suchtverhalten und Kinder mit psychosomatischen Reaktionen auf eine extreme Bindungstraumatisierung.

Bei Kindern mit einer Bindungsstörung werden ganz erhebliche Veränderungen im Verhalten gegenüber den verschiedensten Bezugspersonen beobachtet. Diese Verhaltensweisen treten nicht nur situativ auf, sondern sind als stabiles Verhaltensmuster über einen längeren Zeitraum hinweg in verschiedenen Situationen als pathologische Verhaltensweisen zu beobachten.

Eine Bindungsstörung sollte nicht vor dem 8. Lebensmonat diagnostisch überlegt werden. Kinder in diesem Alter zeigen normalerweise das „Fremdeln“, und ihr Bindungsverhalten kann noch nicht valide untersucht werden. Es wird vorgeschlagen, dass psychopathologische Auffälligkeiten mindestens über einen Zeitraum von 6 und mehr Monaten mit verschiedenen Bindungspersonen bestehen und die pathologischen Bindungsverhaltensweisen schon vor dem 5. Lebensjahr auftreten müssen [6].

Grundsätzlich ist die enge Zusammenarbeit in der Diagnostik zwischen Pädiatern, Kinder- und Jugendpsychiatern, Pädagogen sowie Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeuten dringend erforderlich.

Differenzialdiagnosen und Komorbiditäten

In einer Studie von Pritchett et al. [3] erhielten 85 % der Kinder mit Bindungsstörungen mithilfe von Screeninginstrumenten mindestens eine weitere Diagnose, so z. B. ADHS (52 %), oppositionelles Trotzverhalten (29 %), Störung des Sozialverhaltens (29 %), „posttraumatic stress disorder“ (PTSD, 19 %), Autismus-Spektrum-Störung (14 %), spezifische Phobien (14,3 %) und Tic-Störung (5 %).

Symptome der Autismus-Spektrum-Störungen könnten mit dem Muster der reaktiven Bindungsstörungen mit Hemmung des Bindungsverhaltens verwechselt werden. Anamnestische Angaben über den Beginn der Verhaltensstörung und ihr Auftreten – nur in bindungsrelevanten Situationen wie bei Bindungsstörungen oder eher generalisiertes Auftreten wie bei autistischen Störungen – sind zur Differenzierung erforderlich. Sie können in einer Kombination aus klinischem Interview mit den Eltern sowie aus zusätzlich angewandten Fragebogen erhoben werden. Bei einigen Kindern ist die Unterscheidung allerdings schwierig und benötigt klinisch erfahrene Untersucher und eine Verlaufsbeobachtung, die manchmal über mehrere Monate erfolgen muss.

Diagnostische Methoden

Bindungsstörungen

Es existieren verschiedene diagnostische Möglichkeiten, um Bindungsverhalten und Bindungsmuster zu ermitteln [6]. Kinderärzte könnten erste Anzeichen und Hinweise auf eine Bindungsstörung entdecken. Die spezifische Diagnostik, evtl. unter Zuhilfenahme entsprechender Methoden der Bindungsdiagnostik, sollte durch Fachleute, wie z. B. Kinder- und Jugendpsychiater und Kinderpsychotherapeuten oder in sozialpädiatrischen Zentren erfolgen.

Der diagnostische Prozess umfasst immer:

  • ausführliche Anamnese über Art, Dauer, Beginn, Ausprägung, Variation und Kontextbedingung des Verhaltens des Kindes,

  • Verhaltensbeobachtung mit verschiedenen Bindungspersonen in der Exploration, z. B. im gemeinsamen Spiel und in bindungsspezifischen Kontexten, etwa in einer Trennungssituation, und, wenn möglich,

  • diagnostische Abklärung kindlicher Traumatisierungen.

Zu allen Punkten sind fremdanamnestische Angaben, sowohl von den Bindungspersonen selbst als u. U. von den Betreuungspersonen des Kindes in Kindergarten, Schule, Hort und evtl. von Jugendhilfemitarbeitern, einzuholen. Weiterhin ist eine körperliche Untersuchung durch den Kinderarzt erforderlich, um als Ursache des Verhaltens physische Erkrankungen, etwa eine neurologische Behinderung oder eine Stoffwechselstörung sowie eine schwere geistige Behinderung auszuschließen. All diese können zu Entwicklungsverzögerungen oder auch Verhaltensauffälligkeiten führen, wie sie ebenfalls bei bindungsgestörten Kindern zu beobachten sind.

Die Diagnose Bindungsstörung kann bereits bei 12 Monate alten Kindern gestellt werden; weitere Beobachtungen und Untersuchungen des Kindes im zweiten Lebensjahr sind aber noch zur Sicherung der Diagnose erforderlich. Das bindungsgestörte Verhalten zeigt sich bereits mit 12 Monaten in ängstigenden Alltagssituationen.

Vorläufer von Bindungsstörungen

Sehr auffällige Störungen der elterlichen Feinfühligkeit in den frühen Interaktionen mit ihrem Säugling können Vorläufer von Bindungsstörungen sein, wie Längsschnittstudien zeigen [7].

Störungen in der Eltern-Kind-Interaktion können am besten mithilfe von Videoaufzeichnungen diagnostiziert werden. Die Diagnostik der elterlichen Feinfühligkeit mit der Skala von Ainsworth [8] ist eine qualitative Einschätzung, die bei Bedarf durch mikroanalytische Methoden ergänzt werden kann. Ebenso können die Einschätzungen mithilfe der Emotional Availabilty Scale (EAS) von Biringen et al. [9] ausgewertet werden.

Bereits in der Schwangerschaft können Eltern durch primäre Präventionsprogramme, wie „Sichere Ausbildung für Eltern“ (SAFE), geschult werden [10].

Altersspezifische diagnostische Untersuchungen

Säugling- und Kleinkindalter.

Die Qualität der Bindungsentwicklung wird mithilfe der von Ainsworth et al. [8] entwickelten „strange situation procedure“ („fremde Situation“) analysiert. Diese kann etwa ab dem 12. Lebensmonat durchgeführt werden und ist bis zum 19. Lebensmonat valide. Sie besteht aus verschiedenen Episoden von Trennung und Wiedervereinigung. Das Verhalten des Kindes kann in den jeweiligen Reaktionsweisen gegenüber den Bindungspersonen analysiert und in Form der beschriebenen Bindungsqualitäten (sicher, unsicher-vermeidend, unsicher-ambivalent, desorganisiert) klassifiziert werden. Es besteht allerdings keine spezifische Auswertungsklassifikation für Bindungsstörungen. Zur Diagnostik können jedoch die klinischen Auffälligkeiten im kindlichen Verhalten in der fremden Situation herangezogen werden.

Die „fremde Situation“ sieht folgenden regulären Ablauf vor: Zur Mutter oder zum Vater und dem Kind gesellt sich eine fremde Person hinzu. Die Bindungsperson verlässt kurz den Raum, und das Kind bleibt mit der fremden Person zurück. Verhält sich das Kind in der Trennungssituation z. B. soziabel und freundlich gegenüber der fremden Person, sucht mit dieser sogar Körperkontakt, lässt sich von ihr sehr gut trösten und beruhigen, reagiert dagegen bei der Rückkehr der Bindungsperson dieser gegenüber sehr ängstlich bis erschrocken und läuft von dieser weg und zur fremden Person hin, ist dies ein sehr auffälliges Verhalten, das in keiner der Bindungskategorien sicher, unsicher-vermeidend, unsicher-ambivalent beschrieben wird. Es zeigen sich somit in der „fremden Situation“ bereits im Kleinkindalter erhebliche Anzeichen, die oftmals noch als desorganisiertes Verhalten klassifiziert werden, aber bereits den Verdacht auf eine beginnende Bindungsstörung aufkommen lassen können und weitere Diagnostik erfordern.

Diese Methode der „fremden Situation“ erfordert allerdings eine spezifische Ausbildung für die Durchführung und Analyse des Bindungsverhaltens. Die Untersuchung kann nicht im Alltag einer kinderärztlichen Praxis durchgeführt werden.

Dennoch können Kinderärzte – in Kenntnis der klassischen kindlichen Verhaltensweisen aus der „fremden Situation“ – das unterschiedliche Verhalten von Kindern in ängstigenden Situationen einschätzen, besonders in Bezug auf ihre Reaktion gegenüber ihrer Bindungsperson. Wenn z. B. ein Kind im 2. Lebensjahr nach einer Impfung oder Blutentnahme auf dem Arm der Mutter untröstlich weint, schließlich weinend seine Arme nach der Sprechstundenhilfe ausstreckt und sich von dieser rasch beruhigen lässt, spricht dies z. B. nicht für eine sichere Bindung an die Mutter, sondern eher für eine desorganisierte Bindung oder sogar eine beginnende Bindungsstörung mit Hemmung.

Kindergarten- bis Ende des Grundschulalters.

Von Marvin und Britner [11] wurde eine modifizierte „fremde Situation“ für das Vorschulalter entwickelt. So kann in den entsprechenden Trennungssituationen auch bindungsgestörtes Verhalten beobachtet und den zuvor genannten ICD-10-Codes zugeordnet werden. Eine Bindungsstörung mit Hemmung wird z. B. dann erkennbar, wenn das Kind bei der Rückkehr der Bindungsperson vor dieser flieht, deutliche Angst vor ihr zeigt oder sogar verbal äußert und bei der fremden Person, die noch im Raum ist, Schutz und Sicherheit sucht.

Für diese Altersgruppe gibt es als Diagnoseinstrument verschiedene Puppenspiele, die den Kindern Geschichten mit bindungsrelevanten Hinweisreizen anbieten [12]. Die Kinder müssen dann im Puppenspiel die ihnen vorgespielten Anfänge von bindungsrelevanten Geschichten ergänzen und spielen, wie die Geschichte weitergeht und ein Ende findet. Auf der Grundlage von Transkriptionen und Videoaufzeichnung kann das Bindungsmuster des Kindes valide ausgewertet werden [12]. Unter dem Bindungsmuster oder dem „inneren Arbeitsmodell“ von Bindung versteht man, dass das Kind im Laufe der Jahre ein inneres Muster angelegt hat, wie es etwa in angstmachenden Situationen reagieren wird, die sein Bindungsbedürfnis aktivieren.

Auch diese Methoden können nicht einfach schnell in der pädiatrischen Praxis eingesetzt werden, sondern erfordern Ausbildung und Training in der reliablen Auswertung. Dennoch ist die Kenntnis der Verhaltensweisen der Kinder während dieser diagnostischen Methoden hilfreich, weil ein Kinderarzt in der Praxis schneller erkennen könnte, wenn ein Kind – etwa im Rahmen einer Untersuchung – deutliche Zeichen von Angst gegenüber seiner Bindungsperson zeigt oder sich – in einer ängstigenden Situation – selbst verletzt, einen Wutanfall bekommt oder die Bindungsperson aggressiv angreift statt bei ihr Schutz und Sicherheit zu suchen. Diese Verhaltensweisen wiederum sind eher Zeichen von desorganisierter Bindung oder beginnender reaktiver Bindungsstörung vom Typus mit Hemmung des Bindungsverhaltens.

Jugendalter.

Ab einem Alter von etwa 7 Jahren kann das Kinder-Bindungsinterview (CAI [13]) und ab etwa 17 Jahren das Erwachsenen-Bindungs-Interview (AAI, [14]) zur Erfassung der mentalen Bindungsmuster („Bindungsrepräsentationen“) durchgeführt werden.

Fragebogeninstrumente

Für das Kindergartenalter wurde von Brisch [15] ein Fragebogen zu Bindungsauffälligkeiten entwickelt. In einer mit diesem Fragebogen durchgeführten Pilotstudie fanden sich positive Zusammenhänge zwischen erlebten Traumatisierungen der Kinder und hohen Werten für Verhaltensstörungen [16].

Zur vollständigen Diagnostik ist ebenso die Untersuchung der Bindungspersonen des Kindes, also etwa von Mutter und Vater, erforderlich. Um die Bindungsmuster der Bindungspersonen zu untersuchen, gibt es vielfältige Fragebogeninstrumente. Einige kombinieren zur Einschätzung von Bindung auch Interviews und Fragebögen [17].

Behandlung

Nach eingehenden körperlichen Untersuchungen und dem Ausschluss körperlicher Ursachen – sowie ggf. bei Vorhandensein deren Behandlung – steht die Psychotherapie des Kindes, seiner Eltern und der gesamten Familie im Vordergrund. Dies gilt für alle im Folgenden aufgeführten Altersgruppen.

Säuglinge und Kleinkinder

Zeigen Säuglinge bzw. Kleinkinder bereits Zeichen einer beginnenden Bindungsstörung, hat die feinfühlige Interaktionsbehandlung des Säuglings unter Einbeziehung der Bezugspersonen höchste Priorität. Daher ist eine frühzeitige Intervention, evtl. ein Milieuwechsel durch Herausnahme des Kindes aus der Familie und seine Zuführung zu Bindungspersonen, die im Kontakt emotional feinfühlig und bindungsorientiert handeln können, die wichtigste Überlegung. Allenthalben sind eine Aufnahme der Mutter (des Vaters) mit dem Baby in einem Mutter-(Vater‑)Kind-Heim oder in einer Eltern-Kind-Station und eine Psychotherapie der Bindungspersonen sehr hilfreich.

Kindergartenkinder

Manchmal zeigt sich die Entwicklung einer Bindungsstörung im Kindergartenalter. Hier wird sie z. B. durch indifferentes Bindungsverhalten des Kindes gegenüber allen Betreuungspersonen im Kindergarten erkennbar. In diesem Fall sind dringend eine diagnostische Abklärung und eine intensive psychotherapeutische Behandlung des Kindes, etwa als Spieltherapie, indiziert.

Grundschulalter

Es ist zu erwarten, dass die frühen Bindungsstörungen im Grundschulalter – neben der Auffälligkeit im Bindungsverhalten – sich mit vielfältigen komorbiden Symptomen zeigen können, so etwa als ADHS, Sprachentwicklungsverzögerung oder Störung des Sozialverhaltens.

Auch hier ist die individuelle kinderpsychotherapeutische Behandlung des Kindes für das Erleben neuer, möglichst sicherer Bindungsbeziehungen in der Spieltherapie von größter Bedeutung. Die intensive pädagogische Arbeit in den Gesprächen mit den Bindungspersonen des Kindes ist dringend erforderlich. Eine Herausnahme des Kindes aus seiner Familie und seine weitere Betreuung durch Pflegeeltern müssen ebenso bedacht werden.

Schwerste Bindungsstörungen mit massiven Problemen im Gruppenverhalten bei Grundschulkindern und Kindern in der Pubertät stellen oftmals eine Indikation für stationäres Behandlungssetting dar. Sie zeigen sich etwa in sozialen Interaktionsstörungen, aggressiven und dissoziativen Entwicklungen, Schulversagen und Schulverweigerung.

Medikamentöse Behandlungen mit Psychopharmaka können zwar kurzfristig affektive Ausbrüche des Kindes eindämmen, führen aber letztendlich nicht zu einer Heilung der frühen Bindungsstörung. Hierzu braucht es intensivere psychotherapeutische stationäre Behandlungsmethoden, wie sie im Konzept der MOSES-Intensivtherapie [18, 19] entwickelt und erfolgreich angewandt werden.

Die stationären Behandlungen im Rahmen des MOSES-Therapiemodells erfolgen vollkommen ohne Gabe von Psychopharmaka. Die Kinder, die aktuell in der laufenden MOSES-Studie untersucht werden, zeigen nach der Behandlung klinisch deutliche Entwicklungsfortschritte. Neben Veränderungen auf der emotionalen und der Verhaltensebene wurden in den bisher analysierten Einzelfällen auch Zunahmen in der Konnektivität traumaspezifischer Hirnareale (z. B. Amygdala, Hippocampus, präfrontaler Kortex) im „functional magnetic resonance imaging“ (fMRI) und Änderungen auf hormoneller Ebene (Cortisol, Oxytocin, Vasopressin in Reaktion auf einen Stressstimulus) gesehen.

Jugendalter

Ein ähnlich intensives Konzept wäre auch für die Behandlung von Jugendlichen mit Bindungsstörungen erforderlich. Einige Jugendhilfeeinrichtungen haben jetzt begonnen, das MOSES-Intensivtherapiekonzept in Modifikation einzuführen, in der Hoffnung, dass in einer Kombination von therapeutischer und pädagogischer Arbeit Hilfestellungen für die Entwicklung dieser schwer kranken Jugendlichen gegeben werden können.

Fazit für die Praxis

  • Bindungsstörungen sind Ausdruck schwerer früher emotionaler Entwicklungsstörungen.

  • Sie können im Kontext von traumatischen Erfahrungen mit Bindungspersonen auftreten. Frühe Diagnostik und frühe Intervention steigern die Chance auf eine positive Entwicklung.

  • Eine intensive Psychotherapie des Kindes und die immer indizierte begleitende Arbeit mit den Bindungspersonen sind dringend notwendig.

  • Kinderärzte könnten sehr früh beginnende Bindungsstörungen zumindest erkennen und eine Verdachtsdiagnose stellen. Danach ist die weitere Diagnostik in enger Zusammenarbeit mit Kinder- und Jugendlichenpsychiatern sowie Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten und Pädagogen erforderlich.

  • Eine gemeinsame Planung aller an der Behandlung des Kindes Beteiligten, zusammen mit den Bindungspersonen und dem Jugendamt, ist notwendig, um das weitere Vorgehen in Helferrunden zu besprechen und aufeinander abzustimmen.