Biografische Vorbelastungen und verhaltensbasierte Indikatoren der Radikalisierung im Vorfeld islamistischer Gewalt

Nils Böckler, Mirko Allwinn, Carim Metwaly, Beatrice Wypych & Jens Hoffmann

Praxis der Rechtspsychologie 31 (2), Dezember 2021, S. 165–190
Deutscher Psychologen Verlag GmbH, Berlin
https://doi.org/10.51625/pdr20210208

Zusammenfassung

Die Autoren und die Autorin vergleichen an einem deutschen Sample verurteilter Täterinnen und Täter (N = 76) die biografischen Charakteristika und prädeliktischen Warnverhaltensweisen von nicht gewalttätigen islamistischen Aktivistinnen und Aktivisten (n = 60) mit jenen von islamistischen Attentäterinnen und Attentätern (n = 16). Während mit den biografischen Charakteristika neben Alter und Bildung die soziostrukturellen, familiären und sozialen Stressoren der Verurteilten in den Blick genommen werden, fokussiert die Exploration von Warnverhalten potenziell beobachtbare Handlungsmuster, die mit Radikalisierungsprozessen bzw. schweren zielgerichteten Gewalttaten assoziiert sind. Datengrundlage bilden Anklage- und Urteilsschriften in entsprechenden Strafverfahren. Für die Identifizierung biografischer Charakteristika und sozialer Vorbelastungen, wurde ein standardisiertes Instrument zur quantitativen Aktenanalyse im Kontext von Mord- und Totschlagsdelikten genutzt (Göbel et al., 2016). Zur Untersuchung früher verhaltensbasierter Radikalisierungsindikatoren wurde der Screener Islamismus (Böckler et al., 2017) und zur Identifikation von gewaltassoziierten Verhaltensmustern die Warnverhaltenstypologie (Meloy et al., 2012) herangezogen. Während alle islamistischen Straftäterinnen und Straftäter ihre Tat im frühen Erwachsenenalter begingen und in ihrer Biografie verschiedene soziale Vorbelastungen aufwiesen, unterschieden sich islamistische Nicht-Attentäterinnen und Nicht-Attentäter von Attentäterinnen und Attentätern signifikant durch das von ihnen prädeliktisch gezeigte Warnverhalten. Insbesondere Tatplanungs- und Vorbereitungshandlungen (Weg zur Gewalt), neuauftretende Formen von Aggressionen (Neue Form der Gewalt), und Handlungsmuster, die anzeigen, dass sich die Person in einer biografischen Sackgasse wähnt (Letzter Ausweg), konnten zwischen den Gruppen differenzieren und wurden von Attentäterinnen und Attentätern häufiger gezeigt.

Den Ergebnissen kann aus präventiver Perspektive eine besondere Relevanz zugesprochen werden, da sie Grundlage für die Verbesserung einer verhaltensbasierten Früherkennung von gewaltassoziierten Radikalisierungsprozessen in gesellschaftlichen Institutionen sein können.

Abstract

Using a German sample of convicted perpetrators (N = 76), the authors compare the biographical characteristics and preoffence warning behaviours of non-violent Islamist activists (n = 60) with those of Islamist assassins (n = 16). While the biographical characteristics focus on the socio-structural, familial and social stressors of the convicted in addition to age and education, the exploration of warning behaviour focuses on potentially observable patterns of action associated with radicalisation processes or serious targeted acts of violence. The data basis is formed by indictments and verdicts in corresponding criminal proceedings. A standardised instrument for quantitative file analysis in the context of murder and manslaughter offences was used to identify biographical characteristics and previous social burdens (Göbel et al., 2016). The Screener Islamism (Böckler et al., 2017) was used to examine early behaviour-based radicalisation indicators and the Warning Behaviour Typology (Meloy et al., 2012) was used to identify violence-associated behaviour patterns. While all Islamist offenders committed their crimes in early adulthood and had various social backgrounds in their biographies, Islamist activists and violent offenders differed significantly in the warning behaviour they displayed before committing an offence. In particular, acts of planning and preparation (pathway to violence), new forms of aggression (novel aggression), and patterns of action that indicate that the person feels he or she is at a biographical dead end (last resort) were able to differentiate between attackers and non-attackers.

The results are particularly relevant from a preventive perspective, as they can be the basis for improving behaviour-based early detection of violence associated radicalisation processes in social institutions.

Über die Zeitschrift

Gegründet als Mitteilungsblatt für die Mitglieder der Sektion Rechtspsychologie im Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen e.V. (BDP) hat sich die Zeitschrift Praxis der Rechtspsychologie im Laufe der Jahre zu einem renommierten Fachorgan entwickelt, das Bezüge zwischen Wissenschaft und Praxis herstellt und somit einen Beitrag zu einer wissenschaftlich begründeten Praxis liefert. Neben den Themenbereichen der Rechtspsychologie werden psychologisch relevante juristische und rechtspolitische Probleme behandelt. Jede Ausgabe enthält mehrere Beiträge zu einem Schwerpunktthema, zudem Diskussions- und Praxisbeiträge, Falldarstellungen, Tagungsberichte, Rechtsprechung und Literaturhinweise. Die Schwerpunktthemen werden durch Gastherausgeber:innen koordiniert.

Die Zeitschrift richtet sich auch an Vertreter:innen angrenzender Fachgebiete wie Justiz, Anwaltschaft, Ministerien, Gerichte, Rechts-, Sozial- und Kriminalpolitik sowie im Bereich der sozialen Arbeit Tätige.

Über den Deutschen Psychologen Verlag

Der im Jahr 1984 gegründete Deutsche Psychologen Verlag GmbH ist der Verlag des Berufsverbandes Deutscher Psychologinnen und Psychologen e.V. (BDP). Der Verlag veröffentlicht Praxisratgeber, Arbeitsmaterialien und Tools für die berufliche Praxis von Psycholog:innen und Psychotherapeut:innen. Zu den bekannten Publikationen zählen die Fach- und Verbandszeitschrift des BDP Report Psychologie sowie die Fachzeitschriften Wirtschaftspsychologie aktuell, VPP aktuell und Praxis der Rechtspsychologie, sowie der Informationsdienst Praxis Schulpsychologie. Daneben erscheinen im Verlagsprogramm elektronische Medien, Tools für Coaching und Psychotherapie sowie zahlreiche Buchveröffentlichungen zu praxisrelevanten Themen im Arbeitsfeld Psychologie und Psychotherapie.