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BY 4.0 license Open Access Published by De Gruyter November 1, 2019

Jan Georg Schneider, Judith Butterworth & Nadine Hahn. 2018. Gesprochener Standard in syntaktischer Perspektive. Theoretische Grundlagen – Empirie – didaktische Konsequenzen (Stauffenburg Linguistik 99). Tübingen: Stauffenburg. 313 S.

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Jan Georg Schneider, Judith Butterworth & Nadine Hahn. 2018. Gesprochener Standard in syntaktischer Perspektive. Theoretische Grundlagen – Empirie – didaktische Konsequenzen (Stauffenburg Linguistik 99). Tübingen: Stauffenburg. 313 S.


Diese Monografie basiert auf einem DFG-Projekt zum gesprochenen Standarddeutsch, das zwischen 2013 und 2017 an der Universität Koblenz-Landau durchgeführt wurde. Sie stellt einen wichtigen Beitrag zur Erforschung gesprochener Sprache dar, genauer gesagt: zur Erforschung des gesprochenen Standarddeutsch, eines Forschungsthemas, das sich in letzter Zeit eines regen Interesses erfreut. Im Titel und Untertitel wird darauf hingewiesen, dass der Fokus auf einem spezifischen Aspekt der gesprochenen Standardsprache, und zwar auf der Syntax, liegt und des Weiteren, dass ein Hauptziel der Arbeit darin besteht, eine Brücke zwischen der wissenschaftlichen Untersuchung und deren didaktischer Anwendung zu schlagen. Die Relevanz der Ergebnisse sowohl für den muttersprachlichen als auch für den DaF/DaZ-Unterricht wird dann auch gleich im Vorwort betont. Nota bene: Die AutorInnen erklären (S. 14), dass sie sich in ihrem Projekt auf den gesprochenen Standard in der Bundesrepublik Deutschland beschränkt haben – ein wichtiger Vorbehalt, der dem plurizentrischen Charakter der deutschen Sprache insofern Rechnung trägt, als dass die AutorInnen nicht den Anspruch erheben, sich auf den gesamten deutschsprachigen Raum zu beziehen. Der Band hat eine klare und transparente Struktur mit einer relativ starken Binnengliederung, ein Stichwortverzeichnis wäre allerdings sehr nützlich gewesen und hätte das Buch übersichtlicher gemacht.

Aufgrund der Analyse eines Talkshow-Korpus mit 20 transkribierten Anne-Will-Sendungen und 92 Unterrichtsstunden und anhand von Kriterien, die in Kapitel 2.3 ausführlich besprochen werden, wird eine Reihe von syntaktischen Konstruktionen, die potentiell als dem gesprochenen Standarddeutsch zugehörig betrachtet werden können, identifiziert (z. B. Aussage-Referenz-Struktu­ren wie „wir wollen das gemeinsam lösen dieses problem“, S. 238). Daten aus einer Online-Umfrage sowie eine qualitative exemplarische Analyse einiger Unterrichtsgespräche und Sequenzen aus dem Talkshow-Korpus mit Blick auf darin vorkommende Korrektur- und Reparaturpraktiken erhellen das Verhältnis zwischen dem tatsächlichen Gebrauch von Konstruktionen in formelleren Kommunikationssituationen (die AutorInnen bezeichnen sie als „standardnah“) und der expliziten Bewertung dieser Konstruktionen von SprecherInnen. Es wird plausibel argumentiert, dass Konstruktionen, die in „standardnahen“ Situationen mit großer Häufigkeit vorkommen, die nicht kommentiert bzw. korrigiert/repariert werden und die auch in der Online-Umfrage positiv bewertet werden (z. B. die Adverbialklammer: „ich kann mir da wirklich nichts drunter vorstellen“, S. 238), als Varianten eines gesprochenen Standarddeutsch betrachtet werden können.

In der Einleitung (Kap. 1) besprechen die AutorInnen die Tatsache, dass es in der Sprachwissenschaft gegenwärtig keinen Konsens darüber gibt, „ob es überhaupt sinnvoll ist, einen gesprochenen Standard zu (re‑)konstruieren“ (S. 10).[1] In diesem Band wird von einem gebrauchs­basierten Standardbegriff ausgegangen und die AutorInnen sagen explizit, dass sie keine Normierung anstreben, auch wenn sie, anders als zum Beispiel Maitz & Elspaß (2013), die Kodifizierung von gesprochener Sprache nicht grundsätzlich ablehnen. Die Argumente für und wider die Anteilnahme von SprachwissenschaftlerInnen an der Kodifizierung und Normierung werden hier ausführlich abgehandelt (siehe Kap. 2.1) und die AutorInnen erklären und begründen hinreichend ihre Entscheidung für eine bestimmte Vorgehensweise. Sie halten die Konstruktion eines gesprochenen Standards im Sinne überregionaler mündlicher Gebrauchsnormen für möglich und erwünscht, u. a., weil er SprecherInnen das Leben erleichtern kann, indem er „Unsicherheiten mindert“ (S. 10). Er könne auch Lehrenden, die Standarddeutsch in der Schule vermitteln sollen, als Orientierungshilfe und fundierte Grundlage für ihre Arbeit dienen. Darüber hinaus sollten Lehrende aufgrund der in diesem Band beschriebenen Spezifika des gesprochenen Standards für die Unterschiede zwischen gesprochener und geschriebener Sprache sensibilisiert werden, damit die möglichen Auswirkungen eines written language bias bei ihrer Evaluierung der Leistungen ihrer SchülerInnen überwunden bzw. abgeschwächt werden könnten. Die AutorInnen beziehen sich des Weiteren auf Bourdieus Vorstellung von Sprache als „sozialem Kapital“ (Bourdieu 1982), um die Vermittlung eines gesprochenen Standards als einer in bestimmten Situationen verlangten Prestigevarietät zu begründen. Allerdings ist es hier ein wenig irritierend, dass die Standardvarietät des Deutschen ein paar Mal als „unauffällig“ beschrieben wurde. Meiner Meinung nach ist jede Sprachform in bestimmten Situationen auffällig/markiert und in anderen nicht: Der Standard ist keine neutrale Varietät, auch wenn er oft als solche dargestellt wird (vgl. Davies 2018: 191–192).

Im DaF/DaZ-Unterricht wird die Wichtigkeit eines Standards generell akzeptiert, auch wenn die Meinungen darüber, wie elastisch er sein darf, auseinandergehen (vgl. Durrell 2012). Ein Problem für DaF-Lehrkräfte wie für ihre KollegInnen im muttersprachlichen Bereich ist die mangelnde Klarheit darüber, was als Standardsprache, vor allem, aber nicht nur in deren mündlicher Realisierung, zu gelten hat (vgl. Davies & Langer 2014). Die vorliegende Arbeit kann sicher dazu beitragen, den DaF/DaZ-Unterricht relevanter und authentischer zu machen, wenn die darin beschriebenen empirischen Daten als Grundlage für Lehrmaterialien verwendet werden. Dazu muss man aber bemerken, dass in diesem Band gesprochenes Standarddeutsch mit einer Sprachform gleichgestellt wird, die in formelleren Gesprächssituationen gebraucht wird (S. 87). Es wird nicht der – meines Erachtens wichtigen – Frage nachgegangen, ob gesprochenes Standarddeutsch nicht auch in informellen Registern vorkommen kann.

Das zweite Kapitel des Bandes ist den theoretischen Grundlagen der Untersuchung gewidmet, hier werden die Begriffe ‚Standard‘, ‚Medialität‘ und ‚syntaktische Konstruktion‘ ausführlich diskutiert. Ein Bewusstsein für medialitätsbedingte Unterschiede zwischen geschriebener und gesprochener Sprache ist, so die AutorInnen, wichtig, ansonsten werden „Abweichungen“ vom geschriebenen Standarddeutsch zu oft als „umgangssprachlich“ betrachtet, auch wenn solche Unterschiede im Mündlichen auch in „standardnahen“ Situationen regelmäßig vorkommen und keinen Sanktionen unterliegen.

Im dritten Kapitel werden die Methoden und das Korpus beschrieben, dann folgt im vierten Kapitel der wichtigste Abschnitt der Monografie und deren wichtigster Beitrag zum Forschungsthema. Kapitel 4 ist ein umfangreiches Kapitel, in dem die empirischen Analysen der von der Projektgruppe erstellten Korpora vorgestellt und besprochen werden. Auf der Basis akribischer Analysen des Talkshow-Korpus als primären Korpus werden rekurrente Konstruktionen identifiziert. Wenn festgestellt werden kann (hier werden auch die Unterrichtsgespräche hinzugezogen), dass sie auch in formellen, überregionalen Kontexten regelhaft und unmarkiert sind, d. h., wenn keine Fremd- oder Selbstreparaturen vorgenommen werden, gelten sie als Konstruktionen des gesprochenen Standards (S. 77–79). Beispiele hierfür sind Konstruktionen mit Verberststellung, z. B. schön hast du super ergänzt, oder Referenz-Aussage-Strukturen, z. B. der Pausenraum der sah wohl absolut verheerend aus. Die Fülle an neuen Daten und deren fundierte Analyse und sorgfältige Interpretation stellen die besondere Stärke dieses Bandes dar.

In der Online-Umfrage, deren Ergebnisse auch in diesem Kapitel analysiert und interpretiert werden, geht es um explizite sprachliche Bewertungen, die indirekt über einen Fragebogen erhoben wurden. Die Vor- und Nachteile dieser Methode werden diskutiert, u. a. die Tatsache, dass die Stichprobe ein convenience sample ist und dass die Ergebnisse somit keinen repräsentativen Querschnitt abbilden (S. 241–242). Diese Vorbehalte werden von den AutorInnen bei der Interpretation der Daten adäquat berücksichtigt und obwohl die Ergebnisse der Umfrage mit Vorsicht gedeutet werden müssen, lassen sich einige Tendenzen feststellen. Diese Tendenzen sind meines Erachtens nicht besonders überraschend: SprecherInnen aus Süddeutschland zeigen sich toleranter gegenüber den präsentierten Hörbeispielen (einer Auswahl von im Korpus vorkommenden Konstruktionen) als SprecherInnen aus dem Norden (S. 249) und Lehrkräfte und angehende Lehrkräfte sind ebenfalls toleranter als Nicht-Lehrkräfte (S. 249). Allerdings hätte man gerne erfahren, wie einheitlich die Bewertungen der Lehrkräfte waren, wie groß die Standardabweichung innerhalb der Gruppe war und ob es alters- oder herkunftsbedingte Unterschiede gab.

Wie weiter oben bereits erwähnt, wollen die AutorInnen, dass ihre Ergebnisse in die schulische Praxis einfließen und im Klassenzimmer Anwendung finden. Jedoch werden die didaktischen Konsequenzen und Anwendungen nur in dem relativ kurzen letzten Kapitel (Kap. 5) abgehandelt, in dem auch alle Forschungsergebnisse zusammengefasst werden. Dazu muss man aber fairerweise sagen, dass es eine Webseite gibt, auf der in Zukunft (laut Vorwort) zusätzliche Materialien, beispielsweise Unterrichtsvorschläge, zur Verfügung stehen werden.[2] Ich nehme an (und hoffe sehr), dass die Ergebnisse der Untersuchung auch in fachdidaktischen Zeitschriften, wie zum Beispiel Der Deutschunterricht oder Info Daf,[3] veröffentlicht und in Seminaren für Lehramtsstudierende und in Lehrerfortbildungskursen besprochen werden. Die Ergebnisse sollten auf jeden Fall ein breiteres Publikum erreichen und auf diese Weise ein bewussteres Umgehen mit Sprachvariation fördern, das auf fundiertem Wissen beruht.

Literatur

Bourdieu, Pierre. 1982. Ce que parler veut dire. L’économie des échanges linguistiques. Paris: Fayard.Search in Google Scholar

Coupland, Nik. 2000. Sociolinguistic prevarication about „standard English“. In: Journal of Sociolinguistics 4, 622–634.Search in Google Scholar

Davies, Winifred V. 2000. Linguistic norms at school: A survey of secondary school teachers in a Central German dialect area. In: Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik 67, 129–147.Search in Google Scholar

Davies, Winifred V. 2018. Sprachnormen in der Schule aus der Perspektive der „Critical Language Awareness“. In: Albrecht Plewnia & Alexandra N. Lenz (Hg.). Variation – Normen – Identitäten. Berlin, Boston: De Gruyter, 177–196.Search in Google Scholar

Davies, Winifred V. & Nils Langer. 2014. Die Sprachnormfrage im Deutschunterricht: das Dilemma der Lehrenden. In: Albrecht Plewnia & Andreas Witt (Hg.). Sprachverfall? Dynamik – Wandel – Variation. Jahrbuch des IDS 2013. Berlin, Boston: De Gruyter, 299–321.Search in Google Scholar

Durrell, Martin. 2012. Zur Relativierung von hochsprachlichen Normen in der deutschen Sprache der Gegenwart. Der Blick von außen. In: Susanne Günthner, Wolfgang Imo, Dorothee Meer & Jan Georg Schneider (Hg.). Kommunikation und Öffentlichkeit: Sprachwissenschaftliche Potenziale zwischen Empirie und Norm. Berlin, Boston: De Gruyter, 89-105. Search in Google Scholar

Maitz, Péter & Stephan Elspaß. 2013. Zur Ideologie des „gesprochenen Standarddeutsch“. In: Jörg Hagemann, Wolf Peter Klein & Sven Staffeldt (Hg.). Pragmatischer Standard. Tübingen: Stauffenburg, 35–48.Search in Google Scholar

Trudgill, Peter. 1975. Accent, Dialect and the School. London: Edward Arnold.Search in Google Scholar

Published Online: 2019-11-01
Published in Print: 2019-12-04

© 2019 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

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Downloaded on 8.6.2024 from https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/zrs-2019-2024/html
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