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BY-NC-ND 3.0 license Open Access Published by De Gruyter January 14, 2016

Claudia Maria Riehl. 2014. Mehrsprachigkeit. Eine Einführung

  • Juliana Goschler EMAIL logo

Rezensierte Publikation:

Riehl Claudia Maria 2014 Mehrsprachigkeit. Eine Einführung Darmstadt Wissenschaftliche Buchgesellschaft 163 S.


Einführungen in das Thema Zweitspracherwerb gibt es schon einige, trotzdem ist es Claudia Maria Riehl mit ihrer Einführung zur Mehrsprachigkeit gelungen, eine Lücke in der bisher vorhandenen Studienliteratur zu schließen. Riehl selbst kündigt im Vorwort eine soziolinguistische, psycholinguistische und textlinguistische Perspektive auf Mehrsprachigkeit an. Dementsprechend geht diese Einführung deutlich über einen Abriss theoretischer und empirischer Grundlagen zum Zweitspracherwerb hinaus und verbindet Fragen nach Mehrsprachigkeit auf der Ebene einzelner Sprecher/innen mit dem Thema der Mehrsprachigkeit auf gesellschaftlicher Ebene. In dieser konsequenten Verknüpfung liegt eine der Stärken dieser Einführung. Das spiegelt sich in der Struktur des Buches wider: Nach einer kurzen allgemeinen Einführung wendet sich Riehl im zweiten Kapitel zunächst den empirischen Grundlagen der Mehrsprachigkeitsforschung zu und erläutert die gängigsten benutzten empirischen Forschungsmethoden (qualitative vs. quantitative Methoden, Längs- vs. Querschnittstudien, soziolinguistische, psycholinguistische und neurophysiologische Methoden). Dieser Teil ist sehr knapp gehalten und ersetzt keineswegs eine Einführung in die empirischen Methoden der Zweitspracherwerbsforschung. Doch gibt er einen kurzen und gut verständlichen Einblick in die Frage, wie die im weiteren Verlauf des Buches präsentierten Fakten und Informationen überhaupt gewonnen wurden.

Das dritte Kapitel ist den kognitiven und neuronalen Grundlagen von Mehrsprachigkeit gewidmet. Riehl geht darin zunächst auf die Lokalisation und Repräsentation von Sprachen im Gehirn ein, um sich dann auf der Grundlage konkreter Beispiele dem bilingualen mentalen Lexikon und Modellen bilingualer Sprachproduktion zu nähern. Eine Diskussion der kognitiven Konsequenzen von Mehrsprachigkeit rundet dieses Kapitel ab. Es ist im Vergleich zu den anderen recht ausführlich gehalten und geht an vielen Stellen auch auf Details ein. Dies mag dem Umstand geschuldet sein, dass das Selbststudium der dort zusammengefassten Forschungsliteratur für Anfänger/innen tatsächlich kaum zu leisten wäre.

Das vierte Kapitel diskutiert die gesellschaftspolitischen Grundlagen von Mehrsprachigkeit. Hier wird dementsprechend der Fokus nicht auf individuelle Sprecher/innen, sondern auf mehrsprachige Gesellschaften gelegt. So werden unterschiedliche Formen mehrsprachiger Gesellschaften erläutert, Spracherhalt und Sprachwechsel anhand einiger Beispiele erklärt und schließlich ein Einblick in verschiedene Arten der Sprachenpolitik und des Sprachenmanagements auf gesellschaftlicher Ebene gegeben.

Der Übergang vom dritten zum vierten Kapitel stellt einen beträchtlichen thematischen Sprung dar, aber dadurch wird auch deutlich, wie breit das Spektrum von Perspektiven auf das Thema Mehrsprachigkeit ist. Da diese verschiedenen Perspektiven gerade in (bildungs-)politischen Diskussionen oft unreflektiert vermengt werden, ist es gut, den/die Leser/in schon an dieser Stelle des Buches darauf aufmerksam zu machen, dass es sich sowohl theoretisch als auch empirisch um sehr unterschiedliche Zugänge zum Thema Mehrsprachigkeit handelt. Ebenso wird spätestens in diesem Kapitel deutlich, dass die in Deutschland oft anzutreffende Einschätzung von Mehrsprachigkeit als „Problem“ nicht nur auf der individuellen, sondern auch auf der gesellschaftlichen Ebene durch den Kontext einer langen Tradition von stark sprachlich definierter Nationalstaatlichkeit entstanden ist und sich sowohl linguistisch als auch politisch nicht halten lässt.

Im fünften Kapitel liegt der Fokus wieder auf der individuellen Mehrsprachigkeit, diesmal jedoch mit dem Schwerpunkt auf der Entwicklung über den Zeitraum des Lebens hinweg. Entsprechend werden Fragen des Zusammenhangs von Sprache und Identität diskutiert, die grundlegenden Unterschiede und Gemeinsamkeiten bilingualen Erstspracherwerbs und frühkindlichen und späteren Zweitspracherwerbs erläutert und schließlich Fragen nach der Entwicklung (und dem Verlust) sprachlicher Kompetenzen in späteren Lebensphasen und im Alter erörtert. Gerade das letztgenannte Thema fehlt bisher in vielen Einführungen zum Thema Zweitsprache, da dort oft ausschließlich auf den kindlichen Spracherwerb eingegangen wird.

Das sechste Kapitel bringt mit seiner Thematisierung mehrsprachigen Sprachgebrauchs die beiden nebeneinanderstehenden Perspektiven zusammen, indem es sowohl individuelle Formen des mehrsprachigen Sprachgebrauchs erklärt (unter anderem Code-Switching und Code-Mixing, aber auch verschiedene Arten von Transfer und Interferenzen) als auch die Auswirkungen vielfacher individueller Mehrsprachigkeit auf das Sprachsystem – hier kommen entsprechend Lernervarietäten und Ethnolekte zur Sprache.

Das siebente Kapitel widmet sich der Mehrschriftlichkeit, und damit einem Thema, das in der Zweitspracherwerbsforschung mit seiner Konzentration auf die gesprochene Sprache bisher zumindest in Einführungen meist ausgespart blieb. Dieses Kapitel stellt vor allem die Besonderheiten des Erwerbs verschiedener Schriftsysteme und Orthographien dar. Dabei ist dieses Kapitel keine didaktische Handreichung für die Alphabetisierung mehrsprachiger Menschen, sondern vor allem eine Beschreibung des Ist-Zustandes. Riehl zeigt hier außerdem die Auswirkungen mehrsprachigen Schreibens auf verschiedene Texte und Textsorten bis hin zu historischen Beispielen mehrsprachiger Texte und verknüpft damit – wie schon in den vorigen Kapiteln – die individuelle Erwerbs- und Gebrauchsebene mit der Perspektive auf das Sprachsystem.

Das achte Kapitel schließlich thematisiert sehr knapp Fragen der Mehrsprachigkeit im deutschen Bildungssystem und weist auf die drängendsten Probleme hin, erwähnt aber auch bereits erprobte Modelle zur Förderung von Mehrsprachigkeit. Hier mögen einige didaktisch interessierte Leser/innen vielleicht die Nennung sprachsensibler Unterrichtsmethoden – so etwa das sprachliche „Scaffolding“ – vermissen, das man an dieser Stelle hätte kurz erläutern können. Ebenso hätten die verschiedenen, größtenteils nicht unproblematischen sprachlichen Test- und Screeningverfahren erwähnt werden können, die im deutschen Bildungssystem zum Einsatz kommen und die größtenteils entweder nicht oder nur sehr unzureichend auf mehrsprachige Kinder und Jugendliche hin konzipiert sind oder die diese Gruppe schon von vornherein als „problematisch“ einstufen und entsprechend nur diese testen. Allerdings sind genau diese Bereiche in vielen Einführungen in das Thema Deutsch als Zweitsprache bereits sehr präsent, so dass der Verzicht auf eine weitere Thematisierung in diesem Buch nachvollziehbar ist.

Jedes Kapitel schließt mit einer kurzen Zusammenfassung und einigen wenigen Übungsaufgaben ab – beides hilfreich zur Reflexion des Gelesenen, aber vielleicht auch als Anregung zur Seminargestaltung. Zudem werden Lösungsvorschläge am Ende des Buches geliefert. Es fehlt allerdings die auf dem hinteren Buchdeckel von Verlagsseite angekündigte kommentierte Bibliographie.

Grundsätzlich wäre es – wie bei jeder Überblicksdarstellung – möglich, die Auswahl und Anordnung der Themen und die jeweilige Gewichtung zu kritisieren. Aber da jede Einführung vor der Aufgabe steht, komplexe Zusammenhänge zu verdichten und gewisse Themen unbehandelt zu lassen, fiele diese Kritik sicher je nach individueller Interessenlage unterschiedlich aus. Aus der Perspektive der Mehrsprachigkeitsdidaktik etwa könnte man bedauern, dass die hierfür relevanten Themenbereiche zu einem großen Teil ausgespart bleiben. An anderen Stellen geht Riehl weit über das oft im bildungspolitischen Mittelpunkt des Interesses stehende Thema mehrsprachiger Kinder und Schüler/innen hinaus – etwa bei der Thematisierung von Mehrsprachigkeit im Alter oder der Sprachenmischung in Texten. Dass sie insgesamt aber einen sehr großen Bogen schlägt und sowohl individuelle, auf Sprecher/innen bezogene und gesellschaftliche Aspekte von Mehrsprachigkeit diskutiert, macht das Buch für eine große Zielgruppe interessant – und zwar nicht nur für Sprachwissenschaftler/innen, sondern auch für Personen, die beruflich mit Mehrsprachigkeit konfrontiert sind, so etwa Lehrer/innen oder andere Akteur/innen im Bildungssystem. Letztlich ist die Auswahl der behandelten Themen transparent und inhaltlich gut nachvollziehbar und jeder Teil bietet Anknüpfungspunkte für weitere vertiefende Lektüre. Es ist außerdem auch ohne größere Verständnisprobleme möglich, nur einzelne Teile des Buches zu lesen, zumal die Kurzzusammenfassungen am Ende jedes Kapitels das Überspringen oder auch kursorische Lesen einzelner Teile vereinfacht. Das Buch ist deshalb hervorragend geeignet für Studierende, sowohl für Einführungskurse als auch für Fortgeschrittene. Für Linguist/innen eignet es sich als erster Überblick oder auch als Grundlage für die Seminargestaltung. Aber auch für schulische Lehrkräfte oder Interessierte in allen Arten von Bildungsinstitutionen, die sich in den Bereich Mehrsprachigkeit einarbeiten wollen, ist dieses Buch zu empfehlen. Dabei wird nicht für jede Zielgruppe jeder Teil gleichermaßen interessant oder relevant sein, aber in seiner Gesamtheit bietet Riehls Einführung einen umfassenden und gleichzeitig soliden Überblick. Die Sprache ist der Komplexität des Gegenstands angemessen und trotzdem klar und verständlich. Besonders positiv hervorzuheben ist meines Erachtens, dass auf unnötigen theoretischen Hintergrund – etwa in Form allgemeiner Theorien über die Natur von Sprache – im Gegensatz zu anderen Einführungen weitgehend verzichtet wird, so dass potenzielle Leser/innen erstens auch ohne entsprechendes Vorwissen das Buch gewinnbringend rezipieren können.

Online erschienen: 2016-1-14
Erschienen im Druck: 2015-12-1

© 2015, Juliana Goschler, published by de Gruyter

This work is licensed under the Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 3.0 License.

Downloaded on 21.5.2024 from https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/zrs-2015-0033/html
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