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Publicly Available Published by Oldenbourg Wissenschaftsverlag May 18, 2019

Franz Simon Meyer, Die ganze Geschichte meines gleichgültigen Lebens, Bd 1: 1816–1828: Die Jugendjahre des Franz-Simon Meyer. Hrsg. von Sebastian Diziol, Kiel: Solivagus Praeteritum 2016, 630 S., EUR 32,90 [ISBN 978‑3‑9817079‑3‑9]Franz Simon Meyer, Die ganze Geschichte meines gleichgültigen Lebens, Bd 2: 1829–1849: Franz-Simon Meyer in Zeiten der Revolution. Hrsg. von Sebastian Diziol, Kiel: Solivagus Praeteritum 2017, 559 S., EUR 32,90 [ISBN 978‑3‑9817079‑6‑0]

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Franz Simon Meyer, Die ganze Geschichte meines gleichgültigen Lebens, Bd 1: 1816–1828: Die Jugendjahre des Franz-Simon Meyer. Hrsg. von Sebastian Diziol, Kiel: Solivagus Praeteritum 2016, 630 S., EUR 32,90 [ISBN 978‑3‑9817079‑3‑9]

Franz Simon Meyer, Die ganze Geschichte meines gleichgültigen Lebens, Bd 2: 1829–1849: Franz-Simon Meyer in Zeiten der Revolution. Hrsg. von Sebastian Diziol, Kiel: Solivagus Praeteritum 2017, 559 S., EUR 32,90 [ISBN 978‑3‑9817079‑6‑0]


Der Kaufmann und Bankier Franz Simon Meyer (1799–1871) aus Rastatt hat eine ungewöhnliche Quelle hinterlassen, die sich heute im Stadtarchiv Baden-Baden befindet und mit der zu besprechenden, letztlich auf drei Bände angelegten Edition einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird. Zwischen 1822 und 1871 hat er in der Regel einmal jährlich wohl für eine Leserschaft innerhalb seiner Familie einen Bericht über alle Ereignisse und Geschehnisse verfasst, die ihm im jeweils zurückliegenden Jahr wichtig erschienen – von der Weltpolitik bis hin zum engsten privaten Bereich und zum Wetter. Angereichert wurden die Berichte jeweils mit weiteren Quellen aller Art wie selbstverfassten Gedichten, Briefen, Kupferstichen oder amtlichen Bekanntmachungen. Über die Jahrzehnte entstand so ein Quellenkorpus, dessen einzelne Teile sich zwar vielfach in Banalitäten ergehen. Aber aufgrund der großen Kontinuität und zeitlichen Spannweite der zu Beginn noch mit einer retrospektiven Rückschau auf die Geschichte der eigenen Familie, die Ereignisse der Revolutionskriege und auf Reisen des jungen Meyer im Hinblick auf den Berichtzeitraum erweiterten Jahresberichte ermöglichen sie doch wertvolle Einblicke in das Innenleben und Netzwerke ihres Verfassers, der aufgrund seiner Stellung und seines wirtschaftlichen Erfolges zur bürgerlichen Führungsschicht des Großherzogtums Baden zu zählen ist. Vielleicht waren es gerade die vielfach umwälzenden Erfahrungen einer an Veränderung reichen Zeit, die Meyer zur Feder greifen ließen. Schon die Französische Revolution erscheint, obwohl Meyer die Ereignisse nur aus zweiter oder dritter Hand zu schildern vermag, als ungeheuerlicher Einbruch von Gewalt und Illegitimität in eine heile Welt, in welcher der Bürger selbstverständlich treu zum angestammten Herrscher steht (und im Falle von Meyers Vater offenbar gute Geschäfte mit französischen Emigranten machen konnte). Eine konservative und geradezu revolutionsfeindliche Gesinnung begleitete Meyer dann auch durch die politischen und sozialen Verwerfungen und Entwicklungen seiner Zeit.

Ob Meyer in seinen Jahresberichten jeweils wirklich alles preisgab, was ihn im Innersten beschäftigte, darf jedoch bezweifelt werden, weil es sich nicht um ein geheimes Tagebuch handelte und daher bestimmte Konventionen zu beachten waren. Der Herausgeber Sebastian Diziol zeigt das beispielsweise in seinen vergleichsweise kurzen Ausführungen zum Quellenwert des Werks anhand einer offenbar gescheiterten Liebesbeziehung. Zudem ist damit zu rechnen, dass Meyer die Jahresberichte auch zum eigenen Ruhm sorgsam komponierte und Peinlichkeiten entweder wegließ oder verzerrt darstellte. Jedoch sind es gerade solche Verzerrungen und die hinter ihnen liegende kulturelle Logik, die wichtige Einsichten in die Mentalität des Bürgertums im 19. Jahrhundert versprechen.

Die gebotenen Informationen an sich sind vielfach keineswegs neu oder unbekannt. Meyer schildert breit die ihm zugänglichen oder ihn interessierenden politischen, militärischen und sonstigen Ereignisse der deutschen, europäischen und Weltgeschichte. Allenfalls zur Erforschung der engeren Geschichte seiner badischen Heimat und zur Biografie der unmittelbar mit ihm in Kontakt stehenden Personen vermag die Edition also Neues beitragen. Dennoch hat sie einen gewissen Quellenwert für alle Fragestellungen, die sich mit Mentalität, Wahrnehmung der Welt und Verarbeitung politischer Ereignisse im gehobenen badischen Bürgertum des 19. Jahrhunderts befassen. Hinzu kommen kommunikations‑ und mediengeschichtliche Ansätze, die danach fragen, wie schnell und präzise sich welche Informationen im 19. Jahrhundert verbreiteten und welche Gerüchte und subjektive Deutungen dabei eine Rolle spielten.

Aus militärgeschichtlicher Perspektive ist zunächst die Haltung Meyers zu Krieg und Militär in einer Zeit interessant, die zumindest in seiner Jugend sehr stark von Gewalt und Leid in ihrem Gefolge geprägt war. Das hielt Meyer, der selbst nie Soldat war und sich auch dem Dienst in der Bürgerwehr entzog, bei allem Klagen über die Schrecken des Krieges – insbesondere wenn er in den eigenen Familienkreis einbrach – jedoch nicht davon ab, dem Militär grundsätzlich positiv gegenüberzustehen, jedenfalls wenn es im Sinne seines konservativen Weltbildes eingesetzt wurde.

Die Belagerung der revolutionären Truppen in Rastatt 1849 durch die preußische Armee erlebte Meyer als ohnmächtiger Augenzeuge, und er schildert die Ereignisse breit. Er selbst war aus der Stadt geflohen, bevor er aufgrund seiner alles andere als revolutionären Gesinnung ernsthafte Probleme bekam. Zurückgeblieben waren aber seine Ehefrau, seine eben erst geborene Tochter und sein Haus, das von Einquartierungen und als Plünderung wahrgenommenen Requisitionen betroffen war. So konnte er sich kaum über die Belagerung und Beschießung der Stadt freuen. So sehr die Bekämpfung der Revolution für ihn auch politisch erwünscht war, so sehr sorgte er sich um seine Familie, sein Haus und seine Heimatstadt ganz allgemein. Als Angehöriger der Honoratiorenschicht konnte er sich während der Kämpfe relativ frei im Umfeld der Stadt bewegen und teilweise wie ein Schlachtfeldtourist mit dem Fernglas die Ereignisse direkt verfolgen. Er fand aber auch immer wieder Zugang zu Militärs, die er u. a. um Schonung seines Hauses bat und von denen er anscheinend recht freimütig über das Geschehen informiert wurde. Sein Bericht bietet insgesamt eine ungewöhnliche Perspektive auf die Belagerung – aus nicht-militärischer, unmittelbar persönlich betroffener und klar antirevolutionärer Sicht. Dass Meyer nach der Kapitulation dann im Rahmen der gerichtlichen Aburteilung der Revolutionäre als Französisch-Dolmetscher dem zum Tode verurteilten Polen Theophil Mniewsky sein Schicksal verkünden musste, ging ihn dann offenbar aber doch hart an. Überhaupt wusste er durchaus zwischen den Revolutionären zu differenzieren. Einem Offizier war er beispielsweise dafür durchaus dankbar, dass er dazu beigetragen hatte, seine Frau im belagerten Rastatt vor allzu weitgehenden Zumutungen zu schützen.

So sehr die Bände also durchaus für unterschiedlichste Forschungsansätze zwischen der Untersuchung von Egodokumenten als solcher und der badischen Lokalgeschichte von Wert sind, so sehr lassen sie den Rezensenten mit einem gewissen Unbehagen zurück. Zu einer kritischen Edition fehlt den Bänden v. a. ein ausführlicher Anmerkungsapparat, was nur unzureichend durch erläuternde Anmerkungen zu heute ungebräuchlichen Begriffen und erwähnten Personen jeweils am Seitenrand wettgemacht werden kann. Der Bearbeiter begründet den Verzicht auf einen kritischen Apparat vielleicht nicht ganz zu Unrecht mit der durch einen solchen eingeschränkten Lesbarkeit. Und tatsächlich zielen die mit Zeichnungen angereicherten Bände mit ihrem liebevoll erstellten Layout fast mehr auf ein auch dem Laien zugängliches Lesevergnügen als auf ein wissenschaftliches Publikum (das überdies dringend neben dem Personen‑ und Ortsregister auch ein Sachregister benötigen würde). In der Tat schreibt Meyer in einem gefälligen, gut lesbaren und damit auch für den Laien zugänglichen Stil. Auf der anderen Seite wären gerade für die Rezeption außerhalb von Fachkreisen deutlich mehr Hintergrundinformationen zu Personen, Entwicklungen oder Ereignissen erforderlich gewesen. Professionelle Historikerinnen und Historiker sollten dazu in der Lage sein, diese im Bedarfsfall selbst zu recherchieren. Jedoch wären die meisten von ihnen sicher zumindest für eine Einleitung dankbar gewesen, die wenigstens die Biografie Meyers und die Feinheiten der badischen Geschichte seiner Zeit zusammengefasst hätte. Falls noch Wünsche an den ausstehenden Band 3 erlaubt sind, stünden eine solche umfassende Darstellung und ein alle Bände umfassendes Sachregister ganz oben auf der Liste. Doch auch ohne dies macht die Edition eine interessante und ungewöhnliche Quelle leicht zugänglich. Dafür sei dem Herausgeber und dem Verlag, der sicherlich ein nicht geringes wirtschaftliches Risiko eingegangen ist, nachdrücklich gedankt.

Online erschienen: 2019-05-18
Erschienen im Druck: 2019-05-08

© 2019 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Downloaded on 8.6.2024 from https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/mgzs-2019-0033/html
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