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Publicly Available Published by De Gruyter April 12, 2022

Struchholz, Caroline: Geflüchtete im deutschen Hochschulsystem: Eine Grounded-Theory-Studie zum Bildungserleben Studierender mit Fluchthintergrund. Bielefeld: transcript, 2021. -- ISBN 978-3-8376-5549-0. 248 Seiten, € 45,00.

  • Laura Schmidt

Reviewed Publication:

Struchholz, Caroline: Geflüchtete im deutschen Hochschulsystem: Eine Grounded-Theory-Studie zum Bildungserleben Studierender mit Fluchthintergrund. Bielefeld: transcript, 2021. -- ISBN 978-3-8376-5549-0. 248 Seiten, € 45,00.


Laut UNHCR haben „nur 3 % der Geflüchteten weltweit einen Zugang zur Hochschulbildung im Gegensatz zu 37 % der Restbevölkerung“ (7). Diese starke Differenz ist ebenso wie die Zielgruppe der studierenden bzw. studieninteressierten Geflüchteten selbst bislang eklatant unterbeforscht. Struchholz nimmt sich dieses Desiderats in ihrer Dissertation an, wobei es nicht darum geht, statistische Begründungen für die Benachteiligungen von Geflüchteten beim Hochschulzugang zu eruieren, sondern vielmehr um eine tiefgehende Beleuchtung der Bildungsteilhabe und des Bildungserlebens von Geflüchteten. In diesem Zusammenhang ist es von grundlegender Bedeutung, „Flucht als ganzheitlichen Prozess [...] und nicht nur als eine Wanderungsbewegung von einem Ort zum anderen“ (7) zu verstehen, was sich in der gesamten Aushandlung niederschlägt. Bei der Publikation handelt es sich um eine Grounded-Theory-Studie, in welcher die klassischen Bestandteile -- Forschungsstand, Forschungsdesign und Ergebnisse -- in einem fest umrissenen Projektbericht zusammengeführt werden.

Nach dem einleitenden ersten Kapitel widmet sich das theoretische bzw. forschungsstandbezogene zweite Kapitel den Zusammenhängen von Migration, Bildung und Biografie und damit den drei zentralen Konstrukten, die im Laufe der Publikation immer wieder in einen wechselwirksamen Zusammenhang gestellt und verhandelt werden. Die theoretische Hinführung weist eine sinnvolle Gliederung auf, welche sich später sehr gut mit dem empirischen Abschnitt verknüpfen lässt. Eine hervorzuhebende Stärke dieses Kapitels ist die Verständlichkeit und Prägnanz, mit welchen die Verfasserin in die Theorie einführt, den Forschungsüberblick zusammenstellt und zentrale Begriffe aufschlüsselt. Diese übersichtliche Darstellung ist auch der theoretischen Sensibilität im Sinne der Grounded Theory Methodologie (GTM) dienlich (vgl. Strübing 2008). Entsprechend der GTM-Philosophie(n) ist es trotz verschiedener Akzentuierungen bzw. ihrer jeweiligen Vertreter*innen und Schulen essenziell, das an die Daten herangetragene theoretische Vorwissen und die eigenen Vorannahmen sowie deren Ursprung zu reflektieren. Die Verfasserin hat, diesem Anspruch folgend, einen zwar positiv herauszustellenden multiperspektivischen Überblick formuliert, welcher aber phasenweise überraschend distanziert verfasst ist. Vermisst wird eine Einordnung und Reflexion der Positioniertheit einer (natürlich und zwangsläufig) involvierten Forscherin in ihr Thema, ihr Projekt und eben auch ihr Vorwissen in Bezug auf das gegenwärtig eher bedingt inklusive Konzept Integration. Gleichwohl dieser unkritischen Nuance legt Caroline Struchholz die kontroverse Verortung von Migrant*innen im Bildungssystem zwischen Fachkräftemangel und Benachteiligung unmissverständlich dar (vgl. 12) und versäumt es nicht, bestehende Machtstrukturen und Gatekeeping-Mechanismen konkret zu benennen (vgl. 24–25). Dieses Spannungsfeld verlangt nach einer komplexen Auseinandersetzung, was der Verfasserin in weiten Teilen gelingt, beispielsweise indem sie Konzepte wie Transnationalität und Hybridität berücksichtigt (vgl. 52–55) und eine Zugehörigkeiten- statt Differenzorientierung einführt. Für diese greift sie auf migrationspädagogische Perspektiven nach Paul Mecheril zurück (vgl. 48–50). Darüber hinaus legt dieses Kapitel mit zahlreichen empirischen Belegen den Zusammenhang von Hürden und Chancen Geflüchteter als Anbahnung einer bildungstheoretisch orientierten Biografieforschung zu Migration, Bildung und Biografie vor.

Die Darlegung der „nur marginal stattfindende[n] Auseinandersetzung“ (62) in der bisherigen Forschung bildet die Basis für das dritte Kapitel zum forschungsmethodologischen Design, welches die Forscherin, angeregt durch „wiederkehrende persönliche Begegnungen mit Menschen mit Fluchthintergrund, die von einem besonders erschwerten Einstieg in das Hochschulsystem berichteten“ (62), entwickelt hat. Konkret untersucht die Arbeit die Frage: „Wie erleben und verarbeiten Menschen mit Fluchthintergrund den Einstieg in das deutsche Bildungssystem?“ (63). Das Design verfolgt einen innovativen „Anspruch auf eine Zusammenführung von Biografie- und Migrationsforschung im Kontext von Fluchtmigration“ (62), was in Anbetracht der Thematik ein gut begründetes Forschungsvorhaben nach sich zieht. Es handelt sich um ein exploratives Vorgehen mit Hilfe der GTM, welches zusätzlich durch eine klare Abgrenzung von anderen qualitativen Forschungsmethoden begründet wird (vgl. 64–65). Die Verfasserin greift primär auf die GTM nach Strauss/Corbin (2010) zurück, wobei sie auch auf die reflexive (Breuer 2019) und konstruktivistische (Charmaz 2014) GTM verweist und eine Verbindung mit der Biografieforschung herstellt. Dem in der sozialwissenschaftlichen Diskussion um die Kombination verschiedener Forschungsmethoden immer wieder auftauchenden Vorwurf der sogenannten Methodenverwässerung begegnet die Verfasserin mit einem stringent argumentierten Verfahren zur Beantwortung der Forschungsfrage. Insgesamt stellt dieses Kapitel eine sehr gelungene Verzahnung von Theorie und Empirie dar, denn immer wieder bezieht sich Struchholz auf den Forschungsstand des vorherigen Kapitels und nutzt diesen, um ihr gewähltes Design zu fundieren.

Im vierten Kapitel geht es schließlich um das Studium als Bildungserleben, was gleichzeitig die Kernkategorie der entstandenen und in diesem Abschnitt geschilderten Grounded Theory darstellt. Das Vorgehen mit Datenerhebung durch teilnarrative Interviews, deren Aufbereitung, Kodierung und anschließende Theoriebildung ist gründlich und mit gewohnt prägnanter, knapper Sprache beschrieben. Auch in diesem methodischen Teil gibt es eine starke Präsenz von theoretischem Vorwissen, was jedoch, mit Transkriptionszitaten verbunden, eine überzeugende Kombination deduktiver und induktiver Herangehensweisen ist. Die Theoriebildung erfolgt der GTM entsprechend durch die schlüssige Darstellung von Zusammenhängen der Konzepte, wobei anschauliche Grafiken und klare Erklärstrukturen verwendet werden (vgl. 120 f.). Struchholz beleuchtet eindrücklich die Diskrepanzen des sogenannten Schutzraums Deutschland, in welchem das Gefühl des Ausgeliefertseins zu Anpassungsprozessen der Geflüchteten führt (vgl. 187–191 und 194 f.). Sie benennt an dieser Stelle explizit die Hürden des deutschen Bildungs-, Integrations- und Behördensystems und zeigt unter anderem den Bedarf psychosozialer Beratung auf, zum Beispiel wegen des wiederholt in ihrer Forschung thematisierten „Heimwehs“ (vgl. 174).

Das fünfte Kapitel führt die entdeckten Konzepte des Bildungserlebens geflüchteter Studierender in einem Ausblick und Fazit zusammen. Der Schlussteil macht deutlich, wie schwierig und von Ambivalenzen geprägt die Integration in die sogenannte Aufnahmegesellschaft für Geflüchtete ist. Dies ist auch der Fall, weil eine „wahrgenommene [...] Forderung nach Assimilation in die Aufnahmegesellschaft und eine [...] damit verbundene [...] Aufgabe der Herkunftsidentität“ mit eben jener angestrebten Integration verbunden ist, wobei die „deutlich nationalstaatlich organisierte Perspektive“ ein zentrales Hemmnis für die Fortsetzung der Bildungsbiografie bedeutet (205). Die Verfasserin findet deutliche Worte für eine Situation, in der sich Geflüchtete einer häufig nur Offenheit suggerierenden, aber tatsächliche Teilhabe stark erschwerenden Aufnahmegesellschaft gegenübersehen (vgl. 211). Insbesondere im Bereich der Praxis benennt Struchholz folgerichtig die bestehenden systematischen gesellschaftlichen, politischen und vor allem institutionellen Schranken.

Bei dem vorliegenden Forschungsbericht handelt es sich um eine hoch relevante und aktuelle Studie, die sich mit einer prekarisierten Gruppe der deutschen (Bildungs-)Gesellschaft beschäftigt. Stellenweise bedürfte die Publikation einerseits einer stärkeren Reflexion der eigenen Positioniertheit der Forscherin in eben jener Gesellschaft und andererseits einer (macht-)kritischeren Einordnung der geschilderten Begebenheiten. Jedoch findet die Verfasserin klare Worte für die hürdenreiche Hochschullandschaft. Die beschriebenen Herausforderungen müssen von Leser*innen mit Studienerfahrung oder ggf. wissenschaftlicher Tätigkeit zwangsläufig wiedererkannt und als Appell für mehr Sensibilität gegenüber Geflüchteten im Hochschulsystem verstanden werden. Allein deshalb ist diese Publikation, neben dem fachlichen Erkenntnisgewinn sowie dem interessanten Forschungsdesign, eine wertvolle und wichtige Lektüre.

Literatur

Breuer, Franz (2019): Reflexive Grounded Theory: Eine Einführung für die Forschungspraxis. Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden.10.1007/978-3-658-22219-2Search in Google Scholar

Charmaz, Kathy (2014): Constructing Grounded Theory. Los Angeles: SAGE (Introducing Qualitative Methods).Search in Google Scholar

Strauss, Anselm L.; Corbin, Juliet M. (2010): Grounded Theory: Grundlagen qualitativer Sozialforschung. Weinheim: Beltz.Search in Google Scholar

Strübing, Jörg (2008): Grounded Theory: Zur sozialtheoretischen und epistemologischen Fundierung des Verfahrens der empirisch begründeten Theoriebildung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften (Qualitative Sozialforschung, 15). Search in Google Scholar

Published Online: 2022-04-12
Published in Print: 2022-04-07

© 2022 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Downloaded on 25.5.2024 from https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/infodaf-2022-0047/html
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