Skip to content
BY-NC-ND 4.0 license Open Access Published by De Gruyter Oldenbourg June 14, 2023

Editorial: Remote @ Distance

Zum Strukturwandel von Büroarbeitswelten

  • Ina Krause , Heike Jacobsen and Christian Gerhards
From the journal Arbeit

Büroarbeit steht im Zentrum der Alltagserfahrung vieler Erwerbstätiger – Schätzungen gehen davon aus, dass ca. 40 Prozent der Beschäftigten Bürotätigkeiten ausführen (Hammermann/Voigtländer 2020, 62). Diese Tätigkeiten können inhaltlich näher bestimmt werden, wie z.B. Niklas Luhmann festhielt, indem er als „[...] Kern der Büroarbeit – die Informationsverarbeitung, das Anfertigen von Entscheidungen“ (Luhmann 2022 [zuerst 1966], 79) beschrieb. Sie können auch funktional bestimmt werden, nämlich als delegierte Bestandteile der Unternehmerfunktion (vgl. Jacobsen 2018, 241). In der Geschichte der Sozialfigur des „Privatbeamten“ (Max Weber) spiegelt sich diese Funktion als Erwartung an eine besondere Bereitschaft zu Loyalität und Treue wider. Stabile Beschäftigungsbeziehungen kennzeichneten entsprechend die Arbeitsverhältnisse von „Angestellten“ über lange Zeit bis in die Gegenwart und bildeten damit die Basis für das Verständnis der sozialen Bestimmung von Büroarbeit. Nicht zuletzt aber kann Büroarbeit auch räumlich betrachtet werden ‒ als Arbeit, die im Büro in einem festen zeitlichen Rahmen stattfindet.

Sowohl in inhaltlicher, funktionaler und sozialer als auch in räumlicher und zeitlicher Perspektive sind in mittel- und langfristiger Betrachtung wesentliche Bedeutungsverschiebungen zu beobachten. Es ist wenig überraschend, dass auch diese Verschiebungen unter das breite Dach der Flexibilisierung subsummiert werden können. Aber was heißt das genau? In inhaltlicher Hinsicht heißt es zum einen, dass Tätigkeiten der Informationsverarbeitung und Entscheidungsvorbereitung näher an die operativen Tätigkeiten heranrücken, und zum anderen, dass technisch-organisatorische Maßnahmen sich dem Kern der Informationsverarbeitung und Entscheidungsvorbereitung nähern, wie aktuell vor allem die Anwendungen des maschinellen Lernens zeigen. Kognitive Arbeitsleistungen von Büroarbeitenden werden durch digitale Technologien und die Nutzung von digital-virtuellen Kommunikationsformen und -netzwerken massiv verändert; die funktionale und soziale Bestimmung der Bürotätigkeiten als Erwerbsarbeit mit besonderen Anforderungen an Qualifikationen und Loyalität und den damit bisher einhergehenden Sicherheiten wird in Frage gestellt (vgl. Autor/Dorn 2013; Frey/Osborne 2013; Dengler/Matthes 2015). Atypische Beschäftigungsverhältnisse wie Zeitarbeit und befristete Arbeitsverhältnisse nehmen zu, wodurch die sozialen Beziehungen in der Büroarbeit verändert werden. Bürotätigkeiten können im Zuge der Veränderung von Arbeitsweise und Arbeitskultur einfacher und umfassender außerhalb der funktional spezialisierten Räumlichkeiten und zeitlich flexibel jenseits festgeschriebener Arbeitszeitkorridore stattfinden. Hierdurch entstehen ent-personalisierte, also weniger persönlich gestaltete, und deterritorialisierte Arbeitssettings; Büroarbeit löst sich sichtbar aus der räumlichen Agglomeration des Büros, wodurch neue charakteristische Büroorganisationsformen (vgl. Petendra 2015, 234) entstehen. Beobachten lässt sich somit eine Dynamik der dreidimensionalen Flexibilisierung von Büroarbeit – inhaltlich-funktional, sozial und zeitlich-räumlich.

Die heutigen „Büroarbeitswelten“ umfassen neben den deutlich sichtbaren flexibleren Arrangements von Raum und Zeit vor allem inhaltlich veränderte Ansprüche an Arbeitspraktiken, Handlungsroutinen, Kommunikationsformen, Führungsaufgaben sowie Arbeitseinstellungen. Auf der Ebene der Individuen treten Erwartungen an sinnvolle Arbeit und ökologisch, ökonomisch und sozial nachhaltige Gestaltungskonzepte in den Vordergrund. Aus- und Weiterbildung in flexibilisierten Büro-Arrangements müssen neu austariert werden (vgl. Meyer u.a. 2023) und durch angepasste Aus- und Weiterbildungsformate sowie unter Anwendung von digitalen Tools und Lernformaten als ein wesentlicher Faktor erfolgreicher Wirtschafts- und Innovationsprozesse umgesetzt werden (vgl. Gerhards/Krause 2021). Die Erfahrungen aus der Zeit der Corona-Pandemie und neuerdings auch die Fragen nach der Ausgestaltung eines ressourcenschonenden Mobilitätsverhaltens und der nachhaltigen Nutzung von Arbeitsräumen und Arbeitsgeräten tragen zu einer breit geführten Diskussion um den Strukturwandel von Büroarbeitswelten bei (Seeliger u.a. 2022; Janusch u.a. 2023). Beobachten lässt sich dabei das weitere Verblassen des Bildes der fordistisch-bürokratisch geprägten Büroarbeit und – verbunden damit – die Abkehr von der starken Präsenzarbeitskultur, die in vielen Büroarbeitskontexten bis dato gepflegt wird.

Das vorliegende Schwerpunktheft widmet sich diesen verschiedenen Ebenen der Flexibilisierung der Büroarbeit in zwei Abschnitten und bezieht die Erfahrungen der Arbeitenden mit den damit einhergehenden flexibleren Abgrenzungen zwischen Arbeits- und Lebenswelt ein. Die Beiträge des ersten Abschnitts dieses Schwerpunkthefts richten den Blick auf die inhaltlichen Veränderungen der Bürotätigkeiten durch die Virtualisierung von Arbeitspraktiken, Kooperation und Kommunikation. Die Beiträge des zweiten Abschnitts stellen die örtliche Flexibilisierung in den Mittelpunkt.

Der erste Abschnitt beginnt mit dem Beitrag von Iris Entgelmeier, Sophie-Charlotte Meyer, Anita Tisch und Nils Backhaus. Sie fragen in ihrem Artikel „Das Büro als sozialer Ort. Zusammenarbeit in hybriden Arbeitswelten“, wie sich die Möglichkeiten hybriden Arbeitens, also des Wechselns des Arbeitsorts zwischen dem Büro und zu Hause, auf die arbeitsbezogenen Kooperation und auf die sozialen Beziehungen auswirken. Auf Basis der BAuA-Arbeitszeitbefragung 2019 und 2021 können sie zeigen, dass die virtuelle Zusammenarbeit eher negativ bewertet wird: Bürobeschäftigte, die größere Anteile ihrer Arbeit von zu Hause aus erledigen, bewerten sowohl die formelle als auch die informelle Zusammenarbeit schlechter als Beschäftigte, die seltener zu Hause arbeiten. Die Ursachen dafür müssen jedoch nicht in der Virtualisierung liegen. Die Erfahrungen der Corona-Pandemie scheinen dazu beigetragen zu haben, dass die formelle Zusammenarbeit 2021 besser bewertet wird als in der Befragung vor der Pandemie 2019.

Auch Frank Kleemann und Timo Leontaris nähern sich in ihrem Beitrag „Grenzen der Virtualisierung? Zum Wandel von Arbeitskommunikation in ortsungebundener Arbeit“ den nicht auf den ersten Blick offensichtlichen Veränderungen der Kooperation sowie der arbeitsbezogenen und der informellen Kommunikation innerhalb von Teams oder Arbeitsgruppen, die nicht regelmäßig in einem gemeinsamen Büro tätig sind. Direkte Kommunikation wird in solchen Settings zum Teil durch Videokonferenzen ersetzt. Ihre auf qualitativen Interviews mit Beschäftigten in Bürotätigkeiten an mehreren Universitäten beruhenden Befunde stützen die Annahme, dass videobasierte Kommunikation dazu beiträgt, die Arbeitspraktiken zu individualisieren und dabei stärker die erzielten Arbeitsergebnisse als die Arbeitsprozesse in den Mittelpunkt zu stellen. Damit im Zusammenhang stehend wird beobachtet, dass soziale Beziehungen, die in direkter Kommunikation auch auf Arbeitsprozesse bezogen sind, distanzierter werden.

Carina Pieper, Martin Vogel, Celia Nielsen und Julia Arkenberg befassen sich in ihrem Beitrag „Wenn es kritisch wird. Führung in virtuellen Teambesprechungen“ mit einer spezifischen Dimension der virtuellen Zusammenarbeit: Sie betrachten Führung als Prozess, der vor allem in kritischen Teamsituationen wirksam und handlungsleitend wird, jedoch bisher wenig untersucht wurde. Videoaufzeichnungen von virtuellen Teambesprechungen in sehr unterschiedlichen organisationalen Kontexten ermöglichen es, solche kritischen Momente und die sich daran anschließenden sozialen Prozesse zwischen den Beteiligten zu identifizieren. Sequenzen von Führung und Gefolgschaft sind dabei nur eine der möglichen Umgehensweisen mit in Videositzungen auftretenden kritischen Ereignissen. Situativ sind auch andere, oftmals hierarchiefreie Lösungen beobachtbar.

Mit einer insbesondere durch die plötzlichen Veränderungen aufgrund der Corona-Krise ins Rampenlicht getretenen Frage befassen sich Stefanie Lübcke und Heike Ohlbrecht in ihrem Beitrag „Home sweet home? Arbeits(t)raum Homeoffice“: Wie erleben die Beschäftigten das mobile Arbeiten von zu Hause aus? Auf Basis einer qualitativen Befragung entwickeln die Autorinnen drei Thesen, die jeweils positive und negative Bewertungen und Effekte des Homeoffice zueinander in Beziehung setzen. Die Befunde machen vor allem deutlich, dass die Möglichkeiten des mobilen Arbeitens von allen Beteiligten, also den Beschäftigten wie den Unternehmen, jeweils (selbst-)kritisch daraufhin geprüft werden sollten, inwiefern sie zur Verschärfung oder zum Ausgleich sozialer Ungleichheiten etwa zwischen mehr oder weniger hoch Qualifizierten oder zwischen Frauen und Männern beitragen.

Besonders zugespitzt zeigen sich die Vor- und Nachteile sowie die Chancen und Barrieren dreidimensional flexibilisierter Büroarbeit in der Beobachtung und Analyse der neuen räumlich-zeitlichen Arbeitsbezüge in Homeoffice-Arbeit oder in Coworking-Spaces als neuen Organisationsmodellen von Büroarbeit, die im zweiten Abschnitt des Heftes diskutiert werden.

Mascha Will-Zocholl systematisiert in ihrem Beitrag „Topologie von Büroarbeit. Raumkonstruktionen in physisch-virtuellen Arbeitsarrangements“ die Raumbezüge von digital arbeitenden und virtuell einbezogenen Büroarbeitenden. Auf der Basis einer Re-Analyse zweier vorliegender Studien und eigener qualitativer Interviews mit Wissensarbeiter:innen schildert sie sehr plastisch, wie mobil Arbeitende sich jeweils einen eigenen Ort für ihre Arbeit schaffen. Auch zu Hause oder unterwegs spielen räumliche Bezüge eine wichtige Rolle für die Bewertung der eigenen Arbeitserfahrungen.

Die folgenden Beiträge von Krause sowie Klatt und Steinberg nehmen ergänzend zu den bis hierher im Heft vorgenommenen Beobachtungen der Veränderungen von Arbeits- und Handlungsbezügen in etablierten Büroarbeitsorganisationen die Entstehung sogenannter „Dritter Arbeitsorte“ (Moriset 2013) in den Blick und ergänzen das Bild des Strukturwandels von Büroarbeit und Büroarbeitswelten, indem sie aufzeigen, wie die Dezentralisierung von Büroarbeit durch neue lokale Orte beziehungsweise neue Formen der Arbeitsorganisation vorangetrieben wird, wobei diese „dritten Arbeitsorte“ gleichzeitig auch neue Intermediäre in digitalisierten und virtualisierten Büroarbeitswelten darstellen.

Ina Krause arbeitet in ihrem Beitrag „Coworking. Ein neues Gestaltungs- und Rationalitätskonzept von Büroarbeitswelten?“ das Organisationsprinzip Coworking und das Organisationsmodell Coworking-Space auf Basis von Experteninterviews mit Coworking-Space-Betreibenden in Abgrenzung zur klassischen betrieblichen Büroarbeitsorganisation und zur Homeoffice-Situation näher heraus. Sie zeigt auf, welche praktischen Umsetzungen von Coworking als Rationalitätskonzept der Organisation von Büroarbeit zu beobachten sind und mit welcher Motivation Coworking-Spaces als Orte der Arbeit etabliert sowie von Coworkern genutzt werden.

Rüdiger Klatt und Silke Steinberg untersuchen Coworking-Spaces in ihrem Beitrag „Dritte Arbeitsorte auf dem Prüfstand. Ergebnisse eines Feldexperiments zur Förderung von Coworking für Berufspendler*innen“. Mit 2018 bis 2020 durchgeführten Unternehmensfallstudien zeigen sie, wie angebotene Coworking-Spaces die Arbeit in Ergänzung zu mobiler Arbeit von zu Hause und Arbeit im Büro beeinflussen. Durch eine kontrastierende Betrachtung identifizieren sie Hindernisse bei der Umsetzung, insbesondere bei der Vorbereitung der Beschäftigten auf den neuen Büroarbeitsort.

Der Kurzbeitrag von Sara Berli, Johann Weichbrodt und Katrina Welke „Faire Arbeit in der Gig Economy? Eine organisationspsychologische Auslegung und ein Beispiel eines Arbeitsmodells“ gibt zum Abschluss dieses Heftes einen Einblick in ein laufendes Praxisprojekt zu ortsunabhängiger Arbeit.

Literatur

Autor, David H., David Dorn (2013): The growth of low-skill service jobs and the polarization of the US labor market; in: American Economic Review ,103, 5, 1553–1597. DOI: 10.1257/aer.103.5.155310.1257/aer.103.5.1553Search in Google Scholar

Dengler, Katharina, Britta Matthes (2015): Folgen der Digitalisierung für die Arbeitswelt. Substituierbarkeitspotenziale von Berufen in Deutschland. IAB-Forschungsbericht 11/2015. Nürnberg: IABSearch in Google Scholar

Frey, Carl Benedikt, Michael Osborne (2013): The Future of Employment: How Susceptible are Jobs to Computerization? Oxford: University of OxfordSearch in Google Scholar

Gerhards, Christian, Ina Krause (2021): Betriebliche Weiterbildungskulturen in Zeiten der Digitalisierung. Eine Analyse mit Daten des BIBB-Qualifizierungspanels; in: Internationales Jahrbuch der Erwachsenenbildung, 44, 91–115Search in Google Scholar

Hammermann, Andrea, Michael Voigtländer (2020): Bürobeschäftigte in Deutschland. IW-Trends; in: Vierteljahresschrift zur empirischen Wirtschaftsforschung, 47, 3, 61–78Search in Google Scholar

Jacobsen, Heike (2018): Strukturwandel der Arbeit im Tertiarisierungsprozess; in: Fritz Böhle, G. Günter Voß, Günther Wachtler (Hg.): Handbuch Arbeitssoziologie. Teil II. Wiesbaden: Springer, 233–26210.1007/978-3-658-14458-6_7Search in Google Scholar

Janusch, Holger, Tom Kehrbaum, Daniel Lorberg (2023): Homeoffice: Arbeit und Raum seit Corona. Editorial; in: WSI-Mitteilungen, 76, 1, 210.5771/0342-300X-2023-1-2Search in Google Scholar

Luhmann, Niklas (2022). Soziologische Aspekte der Büroarbeit; in: Niklas Luhmann: Schriften zur Organisation 5. Vorträge ‒ Lexikonartikel ‒ Rezensionen. Hg. von Veronika Tack und Ernst Lukas. Wiesbaden: Springer VS, 79‒89. https://doi.org/10.1007/978-3-658-23434-8_410.1007/978-3-658-23434-8_4Search in Google Scholar

Petendra, Brigitte (2015): Räumliche Dimensionen der Büroarbeit. Eine Analyse des flexiblen Büros und seiner Akteure. Wiesbaden: Springer VS10.1007/978-3-658-06951-3Search in Google Scholar

Meyer, Rita, Tom Kehrbaum, Manfred Wannöffel (2023): Erodiert durch Homeoffice der Betrieb als Lernort? Zum Stellenwert des Arbeitsplatzes als Interaktionsraum; in: WSI-Mitteilungen, 76, 1, 19–2610.5771/0342-300X-2023-1-19Search in Google Scholar

Moriset, Bruno (2013): Building new places of the creative economy. The rise of coworking spaces. https://halshs.archives-ouvertes.fr/halshs-00914075 (abgerufen 4. Oktober 2021)Search in Google Scholar

Seeliger, Martin, Almut Peukert, Heike Jacobsen (2022): Editorial: Überleben im Büro?; in: Arbeit, 31, 1‒2, 1–11. DOI: 10.1515/arbeit-2022-000110.1515/arbeit-2022-0001Search in Google Scholar

Published Online: 2023-06-14
Published in Print: 2023-06-27

© 2023 Ina Krause, Heike Jacobsen, Christian Gerhards, publiziert von De Gruyter

Dieses Werk ist lizensiert unter einer Creative Commons Namensnennung - Nicht-kommerziell - Keine Bearbeitung 4.0 International Lizenz.

Downloaded on 20.5.2024 from https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/arbeit-2023-0007/html
Scroll to top button