Von 1974 bis zum 31.12.2020, also gut 46 Jahre lang, wurde in Frankfurt am Main die Geschichte des byzantinischen Rechts und insbesondere seiner Quellen intensiv und sehr ertragreich erforscht. Der folgende Artikel versucht in Form einer knappen Bilanz, die institutionellen Bedingungen, die handelnden Personen sowie die Ziele und Schwerpunkte der fast ein halbes Jahrhundert währenden Aktivitäten zu umreißen. Da die Forschungsergebnisse in eine Flut von Veröffentlichungen mündeten, nehmen die zitierte Literatur und der bibliographische Anhang einen gewichtigen Teil der Darstellung ein.
Dieter Simon, Jura-Professor an der Goethe-Universität (Lehrstuhl Zivilrecht und Römisches Recht, 1968–1991), hatte in der Mitte der 1970er Jahre erfolgreich bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft ein Projekt zur »Edition und Bearbeitung byzantinischer Rechtsquellen« eingeworben. Damit knüpfte er an die einschlägigen (und bis heute maßstabsetzenden) Forschungen und Editionen von Karl Eduard Zachariae von Lingenthal (1812–1894) 1 an. Bis heute sind Zachariaes »Geschichte des griechisch-römischen Rechts«, 2 seine umfassende Edition der wichtigsten byzantinischen Rechtstexte (Ius Graeco-Romanum, I–VI) 3 sowie seine zahlreichen gelehrten Abhandlungen 4 für die Disziplin unersetzliche Publikationen. Das Frankfurter Forschungsprojekt sah sich stets in seiner Tradition stehend. 5
Als Lehrstuhlinhaber an der Universität Frankfurt gründete Dieter Simon 1976 die Reihe Forschungen zur byzantinischen Rechtsgeschichte, in der bis zum Ende des Projektes am 31.12.2020 fast alle Forschungsergebnisse publiziert wurden. Insbesondere die Unterreihe Fontes Minores (bis 2021 erschienen 13 Bände) spielte in der internationalen Forschung eine herausragende Rolle. 6 Sie erschienen zunächst im Klostermann Verlag, ab Bd. VIII (1982) bei der von D. Simon mitbegründeten Löwenklau-Gesellschaft. 7 Nachdem Simon (im Jahre 1980, bis 2003) Direktor des Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte (jetzt: Max-Planck-Institut für Rechtsgeschichte und Rechtstheorie) geworden war, konnte das DFG-Projekt »Byzantinisches Recht« in dieses Institut übersiedeln, das es bis zuletzt beherbergte.
Simon wurde 1989 zum Vorsitzenden des Wissenschaftsrats der Bundesrepublik berufen. In seine Amtszeit fielen der Untergang der DDR und die Mammutaufgabe, deren Wissenschaftssystem mit all seinen Problemen in die Wissenschaftslandschaft der Bundesrepublik zu überführen. 8 Deshalb verlängerte die Bundesregierung Simons Amtszeit bis 1992. Im Jahre 1995 wurde er darüber hinaus zum Präsidenten der drei Jahre zuvor neu gebildeten Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften gewählt (bis 2005). Mithin kam er in dieser Zeit kaum dazu, sich mit byzantinischer Rechtsgeschichte zu befassen. Ab 1996 war er außerdem als Honorarprofessor an der Humboldt-Universität zu Berlin tätig.
Im Jahre 1990 wurde das Projekt als Arbeitsstelle (»Edition und Bearbeitung byzantinischer Rechtsquellen«) von der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen mit Sitz im erwähnten Frankfurter Max-Planck-Institut übernommen. Dies erwies sich als ein Glücksfall im doppelten Sinne: Denn einerseits profitierte die Arbeitsstelle in erheblichem Maße von den Möglichkeiten eines Max-Planck-Instituts, und auf der anderen Seite garantierte die Göttinger Akademie die Finanzierung. |
Von 1990 bis 2006 amtierte Simon als Arbeitsstellenleiter. In diesen Jahren war er in erster Linie mit seinen verschiedenen Funktionen – in Berlin – befasst, so dass er sich nur am Rande mit Fragen der byzantinischen Rechtsquellen beschäftigen konnte. 2006 übernahm die Funktion der Arbeitsstellenleiterin deshalb Marie Theres Fögen, die ursprünglich seit den 1970er Jahren am Frankfurter Projekt beteiligt war und 1995 als Professorin für Römisches Recht, Privatrecht und Rechtsvergleichung an die Universität Zürich berufen worden war sowie seit 2001 zudem als Direktorin am Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte in Frankfurt amtierte. 9 Nach ihrem Tod (2008) bekleidete Eleftheria Papagianni diese Position (bis 2012). 10
Seit 2012 war dann erneut Dieter Simon Arbeitsstellenleiter (bis 2017). Nunmehr hatte er die Zeit, um sich wieder der byzantinischen Rechtsgeschichte zuwenden zu können. Er bewirkte eine (auch bibliographisch) sichtbare Intensivierung der Forschungstätigkeit. 2017 wurde er Vorsitzender der wissenschaftlichen Kommission der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, die die Arbeit der Frankfurter Arbeitsstelle leitete. Deshalb übernahm Bernard Stolte (Universität Groningen), 11 ein bewährter Freund und Kollege der Frankfurter Arbeitsstelle, für die Jahre 2017–2019 deren Leitung. In den letzten beiden Jahren (2019–2020) hatte Wolfram Brandes diesen Posten inne. Ihm oblag die »Abwicklung« – eine nicht sehr angenehme Tätigkeit.
Die primären Ziele der Tätigkeit der Arbeitsstelle bestanden vor allem in (1) der Bestandsaufnahme der Überlieferung des byzantinischen Rechts, (2) der kritischen Edition von einschlägigen Texten (Neueditionen oder Editionen von bisher ungenügend edierten Texten), (3) der Erforschung und Beschreibung der Literatur- und Überlieferungsgeschichte des byzantinischen Rechts, (4) der Erstellung von Hilfsmitteln (Repertorien zur Erschließung des handschriftlichen Bestands), (5) der Durchführung von materiell orientierten Studien zum byzantinischen Recht (inkl. Verwaltungsrecht und praktischer Rechtsanwendung). An diesen Vorgaben orientierten sich stets die Aktivitäten der Frankfurter Arbeitsstelle.
Die Publikation der meisten Arbeitsergebnisse (Editionen, Einzeluntersuchungen u.a.) erfolgte in den Forschungen zur byzantinischen Rechtsgeschichte (bis 2018 insgesamt 36 Bände), wobei insbesondere die Unterreihe der Fontes Minores (bis 2021: 13 Bände) hervorzuheben ist – nicht zuletzt wegen ihrer großen internationalen Resonanz.
Durch die Übersetzung von Spyros Troianos’ fundamentalem Werk über die »Quellen des byzantinischen Rechts« (2017) 12 rüstete sich Dieter Simon, der, wie gesagt, 2012 erneut die direkte Leitung der Frankfurter Arbeitsstelle übernommen hatte, für die Rückkehr zur byzantinischen Rechtsgeschichte. Mehr als deutlich zeigt sich das in seiner intensiven Arbeit an der (zusammen mit Roderich Reinsch besorgten) Neuedition der Peira des Eustathios Rhomaios, die kurz vor der Publikation steht, 13 sowie an einer Reihe von aktuellen Aufsätzen. 14
Die jahrzehntelange Arbeit der Frankfurter Arbeitsstelle »Edition und Bearbeitung byzantinischer Rechtsquellen« konzentrierte sich auf die im Folgenden genannten Komplexe. Neben diesen Schwerpunkten publizierten die Mitarbeiter natürlich auch zu einer Vielzahl weiterer Themen, die hier nicht alle erwähnt werden können. 15 |
Sofort nach dem Beginn der Arbeiten in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts wurde intensiv begonnen, eine umfassende Sammlung der relevanten griechischen Handschriften (in Form von Mikrofilmen) anzulegen. Dies war eine ausgesprochen kluge Entscheidung, denn angesichts der Preise, die die entsprechenden Bibliotheken heute verlangen, wäre das Anlegen einer derartigen Sammlung allein aus finanziellen Gründen unmöglich. Ziel war Vollständigkeit, was zu geschätzten 95% auch erreicht wurde. Nahezu alle wichtigen Handschriften mit byzantinischen Rechtstexten standen nun zur Auswertung bereit. Neben den griechischen Handschriften wurde auch eine größere Anzahl von (christlich) arabischen und armenischen Handschriften in verfilmter Form angeschafft. Alle diese Handschriften werden in einem klimatisierten Raum der Bibliothek des Max-Planck-Instituts aufbewahrt und stehen auch in Zukunft der Forschung zur Verfügung.
Schon früh wurde beschlossen, diese einzigartigen Handschriftenbestände in einem umfassenden Repertorium zu erschließen – nicht nur als Grundlage der eigenen Arbeiten, sondern auch als ein essentielles Hilfsmittel für die internationale Forschung. Dabei handelte es sich um eine sehr aufwendige Arbeit, nicht zuletzt deshalb, weil viele dieser Handschriften bisher nur äußerst ungenügend beschrieben und analysiert wurden. Der erste Band des Repertoriums der Handschriften des byzantinischen Rechts, das primär die Handschriften des weltlichen Rechts behandelte, erschien 1995. 16 Da in den Handschriften sehr häufig keine klare Trennung zwischen weltlichem und kirchlichem Recht vorgenommen wurde, enthält bereits dieser Band auch zahlreiche Angaben zu Texten des Kirchenrechts. Von Anfang an wurden (soweit möglich) die Rechtstexte erfasst, die bis zum Jahre 1204 entstanden. Dies hatte in erster Linie pragmatische Gründe. Trotzdem wurde auch über Rechtsbücher späterer Zeiten (z.B. die Hexabilos des Konstantinos Harmenopoulos 17) geforscht.
Nach Forcierung der Arbeiten am Repertorium konnte der zweite Band (in zwei Teilen) im Jahre 2010 und 2017 erscheinen. 18 Damit war eines der Hauptziele der Tätigkeit der Frankfurter Arbeitsstelle erreicht worden.
Die aus der Zeit um das Jahr 1000 stammende Sammlung namens Peira 19 von Entscheidungen des kaiserlichen Richters Eustathios Rhomaios, 20 zusammengestellt von einem syntaktes genannten Kompilator, ist eine einzigartige (und auch die einzige) außerordentlich bedeutende Quelle für die byzantinische Rechtspraxis. Schon sehr früh hatte sich Dieter Simon damit befasst. 21 Dieser Text, 1856 erstmalig ediert von Zachariae von Lingenthal (ohne Autopsie der einzigen Handschrift, dem Cod. Laur. 80.6, f. 481r–636v – siehe Repertorium [I] Nr. 68) sowie das weitere Schrifttum des Eustathios Rhomaios 22 waren all die Jahre hindurch immer wieder Gegenstand der Arbeit der Frankfurter Forschungsstelle. Bereits 1979 edierte Schminck zwei eherechtliche Entscheidungen des Eustathios, 23 1993 edierte Ludwig Burgmann den tractatus de creditis et de teste uno, 24 der ebenfalls Eustathios zugesprochen wird. Roderich Reinsch, der einige Jahre für die Frankfurter Forschungsstelle arbeitete (bis er 1986 einen Ruf an die Ruhr-Universität Bochum erhielt) gab 1986 einen Text des Eustathios über das Hobolon heraus. 25 Gäste des Projektes (wie Nikolas Oikonomides oder Helga Köpstein) wie auch Mitarbeiter trugen durch | diverse Untersuchungen zur Erforschung der Peira bei. 26 Hervorzuheben sind eindringliche Untersuchungen von Ludwig Burgmann. 27
Nach all diesen Bemühungen wird die Edition (nebst Übersetzung und ausführlichem Kommentar) der Peira, nunmehr basierend auf der Florentiner Handschrift, 28 von Roderich Reinsch und Dieter Simon neue Maßstäbe für die Erforschung der byzantinischen Rechtsgeschichte setzen. Sie wird noch in diesem Jahr (2021), spätestens aber 2022 in den Forschungen zur byzantinischen Rechtsgeschichte. Neue Folge (wohl als Band IV) erscheinen.
Die byzantinischen Juristen seit der sog. Makedonenzeit, als die (griechischen) Texte der Antecessoren des 6. Jahrhunderts rezipiert wurden, fanden in diesen griechischen Übersetzungen (hervorgegangen aus dem Rechtsunterricht) des justinianischen Rechts viele lateinische termini technici, die der Erklärung bedurften. 29 Aus diesem Grunde fertigte man Lexika an, die sich regelmäßig in den juristischen Handschriften finden. 30 Seit den 1970er Jahren befasste sich Ludwig Burgmann mit diesen seit Jahrhunderten vernachlässigten Texten. Bereits 1977 behandelte er sie in einem umfassenden Überblick und edierte ein erstes Lexikon (aus dem Codex Scor. 173 (S) L II und L III). 31 Dem folgte die Edition des sog. Lexikon ἄδετ. 32
Eine Zusammenfassung dieser Studien, nunmehr in engster Kooperation mit den Groninger Kollegen (insbesondere Roos Meijering und Bernard Stolte) erschien 1990 (als Band 17 der Forschungen zur byzantinischen Rechtsgeschichte = Fontes Minores VIII). Hier wurden weitere Rechtslexika ediert und einschlägige Untersuchungen vorgelegt. 33
Auch in den folgenden Jahren wurden in Fontes Minores Editionen derartiger Lexika veröffentlicht – ein Umstand, der reflektiert, wie groß die internationale Beachtung dieser Forschungen und Editionen ist. 34
Im Juli 1989 wurde zu dieser Thematik eine Tagung am Historischen Kolleg in München | veranstaltet. 40 Der daraus hervorgegangene und 1992 publizierte Sammelband setzte Standards in der internationalen Forschung.
Da in Byzanz eine Trennung von weltlichem und kirchlichem (kanonischem) Recht in der Praxis kaum möglich ist, was sich u.a. auch in sehr vielen juristischen Handschriften widerspiegelt, erstreckte sich die Forschungstätigkeit der Frankfurter Arbeitsstelle auch auf das kanonische Recht. Immer wieder wurde Studien aus diesem Forschungsbereich publiziert, die etwa den großen Kanonisten Theodoros Balsamon aus dem späten 12. Jahrhundert betreffen 41 oder das Prooimion zu einer Überarbeitung des Nomokanons in 14 Titeln. 42
Der wichtigste Beitrag zur Erforschung des kanonischen Rechts war die Edition des Kommentars des Aristenos – eines der drei großen Kanonisten des 12. Jahrhunderts – zur Synopsis canonum. Hier bewährte sich die enge Zusammenarbeit mit den griechischen Kollegen (E. Papagianni und Sp. Troianos). Nach langjährigen Arbeiten, was nicht zuletzt auf die sehr breite handschriftliche Überlieferung zurückzuführen ist, konnte dieser 2019 als Band 1 der Forschungen zur byzantinischen Rechtsgeschichte. Neue Folge erscheinen. 43
Ein weiterer Forschungsgegenstand betraf die sog. Konzilssynopsen, die historische Informationen über die Konzilien, die die Kanones erließen, enthalten. Es gibt sie in (sehr) großer Anzahl und in sehr unterschiedlichem Umfang. 44 In so gut wie jeder juristischen Handschrift findet sich mindestens einer (oft auch mehrere) dieser Texte. Sie bieten, vereinfacht gesagt, die historische Legitimierung des Kirchenrechts. 45
Im Jahre 2013 erschien die Edition (nebst Übersetzung und Kommentar) einer ausgesprochen umfangreichen Konzilssynopse aus dem Ende des 9. Jahrhunderts, die z.T. heute verlorene Quellen verwendete und wertvolles historisches Material enthält. 46 Dieses Projekt ging auf die Edition eines Teils dieser Synopse durch Günther Christian Hansen zurück. 47
Die mit Abstand bekannteste dieser Synopsen ist die sog. Hoeschelsche Konzilssynopse (nach David Hoeschel, der 1595 diesen Text [nach nur einer Handschrift] erstmals edierte). Im Auftrag der Frankfurter Arbeitsstelle edierte (und analysierte) Antonia Giannouli diesen so weit verbreiteten Text, 48 so dass nunmehr eine aktuellen wissenschaftlichen Ansprüchen genügende Textausgabe zur Verfügung steht.
Aus diesen Forschungen ging die Idee einer größeren internationalen Tagung hervor, die im Oktober 2017 (Konzilien und kanonisches Recht in Spätantike und frühem Mittelalter. Aspekte konziliarer Entscheidungsfindung) stattfand und die die konkreten Entstehungsbedingungen von Kanones auf den lokalen und ökumenischen Konzilien untersuchte. 49
Auch die unten näher behandelten Patriarchalakte könnten in diesem Zusammenhang aufgeführt werden; ebenso die Forschungen zum Eherecht, das in starkem Maße von der kirchlichen Gesetzgebung dominiert wurde. Obwohl Ende 2020 die Arbeiten der Arbeitsstelle eingestellt wurde, wird Kirill Maksimovič einen bisher ungedruckten Kanoneskommentar (ca. 1200 entstanden), der sich im Codex Sinaiticus 1117 findet, 50 | demnächst zum Druck befördern. Da er bereits geraume Zeit an diesem Projekt gearbeitet hat, sind die Arbeiten sehr weit fortgeschritten, so dass mit der Publikation 2022 oder 2023 (in den Forschungen zur byzantinischen Rechtsgeschichte. Neue Folge) gerechnet werden kann.
Die mustergültige Edition der Ecloga, 51 des Rechtsbuchs der Kaiser Leon III. und (dessen Sohn) Konstantin V., stellt bis heute einen Meilenstein der byzantinistischen Rechtsgeschichte dar. 52 Nicht nur die unübertroffene, auf einer sehr großen Anzahl herangezogener Handschriften basierende Textkonstituierung und die einfühlsame deutsche Übersetzung zeichnen dieses Buch aus. Auch die durch Burgmann gesicherte Datierung ins Jahr 741 hatte für die »allgemeine« historische Byzantinistik bzw. die in vielen Punkten unklare Geschichte der ersten Phase des sog. Byzantinischen Bilderstreits im 8. Jahrhundert erhebliche Auswirkungen. 53 Auch die Edition der Appendix Eclogae, die eine erhebliche rechtsgeschichtliche Bedeutung hat, ist zu erwähnen. 54 Diesem wichtigen Gesetzbuch wurden mehrere Studien gewidmet. 55 Die Ecloga wurde ins Slavische und ins Arabische (bzw. Koptische) übersetzt. Leder edierte die arabische Übersetzung, 56 Ščapov und Burgmann edierten die slavische Übersetzung. 57 Letztere Edition ist angesichts der erheblichen Bedeutung der Ecloga für die Rechtsentwicklung in der Kiever Rus’ besonders hervorzuheben.
Leider kamen die Arbeiten an der Edition des Prochiron und der Eisagoge wegen einer schleichenden Erkrankung Burgmanns nicht voran. 58 1986 legte Schminck die kritischen Editionen der Proömien der Basiliken, der Epitome legum und der Eisagoge 59 in einer stark beachteten Monographie vor. 60 Leider verhinderten dessen Krankheit und Tod die Fertigstellung der Edition der Eisagoge. Diese Aufgabe haben Martin Vučetić (Mitarbeiter 2016–2018) und Timo Christian (Mitarbeiter 2016–2019) seit dem Jahre 2016 übernommen. Obwohl beide jeweils neue Stellen in München und Frankfurt antraten, führten sie dieses Projekt fort. Die revidierte deutsche Übersetzung (Christian) ist bereits vollendet, und die Edition des griechischen Textes (Vučetić) steht kurz vor der Fertigstellung, so dass in wenigen Jahren mit der Publizierung gerechnet werden kann.
Die Rolle des Kaisers als Gesetzgeber in der Spätantike und in Byzanz war mehrfach Gegenstand der Forschungstätigkeit der Arbeitsstelle. Dies betraf sowohl die Rolle des Kaisers (als Institution) in der byzantinischen Gesellschaft 65 als auch Untersuchungen zu einzelnen Gesetzen bzw. Novellen. 66 Eine Zusammenschau lieferte Burgmann. 67 Er publizierte auch einen Überblick über | die byzantinischen Rechtsbücher. 68 Andere Editionen und Untersuchungen betrafen einzelne Novellen bestimmter Kaiser 69 und bisher übersehene Kaisergesetze. 70
Umstritten waren die Datierungen verschiedener Rechtstexte, die in der Wissenschaft jeweils mit »Nomos« bezeichnet werden: Nomos Mosaïkos, 71 Nomos Rhodion nautikos, Nomos georgikos und Nomos stratiotikos. Die von Schminck 72 vertretenen Datierungen und Zuweisungen an den Patriarchen Photios widerlegte Burgmann auf souveräne Weise. Überhaupt bietet sein 2009 erschienener Artikel eine grundlegende zeitliche und inhaltliche Einordnung dieser vier sog. »Gesetze«, die in der aktuellen Forschung noch einer angemessenen Rezeption harren. 73
Die Analyse der gesammelten juristischen Handschriften führte zum Fund diverser Patriarchal- und Synodalakte, die entweder bisher unbekannt waren oder nur ungenügend ediert worden waren. 74 Andere Untersuchungen betrafen wichtige kanonistische Quellen (etwa die Konzilssynopsen), worauf oben bereits eingegangen wurde. 75
Die Rezeption des byzantinischen Rechts in den slavischen Ländern (Kiever Rus’, Bulgarien) war ein bevorzugtes Forschungsgebiet von Ludwig Burgmann. 76 Insbesondere der slavischen Rezeption widmete er mehrere Abhandlungen. 77 Hervorzuheben ist die wesentlich von ihm (zusammen mit Hubert Kaufhold und armenischen Kollegen) erarbeitete umfassende Bibliographie zu dieser Thematik. 78 Dieser 1992 erschienene sehr nützliche Band müsste natürlich heute aktualisiert werden.
In diesem Kontext ist auch auf die bereits erwähnte Edition der slavischen Fassung der Ecloga zu verweisen. 79 In Zusammenarbeit mit Kirill Maksimovič erarbeitete Burgmann (über viele Jahre) ein zweibändiges Wortverzeichnis (griechisch-altsalvisch) zum Syntagma in 14 Titeln. 80 Maksimovič, der 2013–2020 bei der Frankfurter Arbeitsstelle angestellt war, befasste sich, nicht zuletzt auf Anregung von Burgmann, mit der Problematik der slavischen Rezeption des byzantinischen Rechts. 81 Daneben untersuchte Burgmann den Ursprung des serbischen Nomokanon. 82
Aus der Zusammenarbeit mit armenischen Kollegen und Kolleginnen ging ein Band hervor, der die armenische Übersetzung der altkirchlichen Kanones (nebst dazugehörigen Untersuchungen) enthält. 83 In diesem Zusammenhang wurde in den Forschungen zur byzantinischen Rechtsgeschichte ein wichtiger Band über die armenischen Übersetzungen byzantinischer Rechtsbücher publiziert. 84
Ein weiterer Bereich dieser Forschungen betraf die christlich-arabischen Übersetzungen byzantinischer Rechtstexte. Auf die arabische (koptische) Übersetzung der Ecloga wurde bereits verwiesen. 85 Johannes Pahlitzsch (jetzt Professor für Byzantinistik | an der Mainzer Universität) edierte im Auftrag der Frankfurter Arbeitsstelle die arabische Übersetzung des Prochiron. 86 Burgmann publizierte einen Überblick über die Übersetzungen byzantinischer Rechtstexte in verschiedene Sprachen, auf den ausdrücklich hingewiesen sei. 87
Nach dem überraschenden und vorzeitigen Tod von Josef Sonderkamp 1990 trat Wolfram Brandes am Ende jenes Jahres in das Projekt ein. Als ausgebildeter Historiker widmete er sich – neben der jahrelangen Mitarbeit an den Handschriftenbeschreibungen, die in den drei Bänden des Repertoriums der Handschriften des byzantinischen Rechts publiziert wurden –der Auswertung und Fruchtbarmachung der in der Arbeitsstelle gewonnenen Sachkenntnis zur byzantinischen Rechtsgeschichte. Es entstand eine umfassende Darstellung der byzantinischen Verwaltungsgeschichte (mit einem Schwerpunkt auf der Geschichte der Finanzverwaltung als nervus rerum der zivilen wie militärischen Strukturen des spätrömischen/byzantinischen Reiches) vom 5. bis zum 9. Jahrhundert: der Phase der byzantinischen Geschichte über die angesichts der eklatanten Quellenarmut am wenigsten bekannt ist. Die umfangreiche Monographie erschien 2002. 88
Insbesondere wandte er sich dem Komplex der Hochverratsprozesse zu. Ausgangspunkt war der Hochverratsprozess gegen den noch heute als Heiligen verehrten Papst Martin I. im Jahre 653 (sowie den damit im Zusammenhang stehenden Prozess gegen Maximos Homologetes zwei Jahre später). 89 Nach römischen Recht wurde beide als Hochverräter (wegen des crimen laesae majestatis) verurteilt. Theologische Konflikte spielten kaum eine Rolle (bzw. wurden vom kaiserlichen Gericht vermieden). Weitere Fälle von derartigen Hochverratsprozessen vom 6. bis zum 13. Jahrhundert wurden ausführlich analysiert und ihre erheblichen Auswirkungen auf historische Entwicklungen umfangreich untersucht.
Aus der Zeit zwischen dem Kaiser Herakleios (610–640) und der Kaiserin Eirene (780–802) sind keine kaiserlichen Novellen überliefert. 90 Man meinte (und meint bis heute), dass die Kaiser der Zwischenzeit eben keine Novellen erließen. Da aber gerade in dieser Zeit gravierende Umwandlungen des Staates und andere einschneidende Ereignisse als Ergebnisse von kaiserlichen politischen Entscheidungen stattfanden, die ohne gesetzliche Regelungen kaum denkbar sind, wurde nach Hinweisen in den relevanten Quellen gesucht. (Nota bene: Die Quellensituation gerade in dieser Zeit ist notorisch schlecht.). Insbesondere gravierende Änderungen der kirchlichen Verwaltungsstruktur (zu Lasten des römischen Papsttums) am Ende des 7. Und in der Mitte des 8. Jahrhunderts wurden unter den genannten Annahmen untersucht (Schicksal des sog. Östlichen Illyrikum und der päpstlichen Patrimonien Unteritaliens und Siziliens). Dies mündete in eine Reihe (z.T. sehr umfangreicher) Abhandlungen. 91
Eine wichtige Abhandlung von Burgmann betraf die Organisation der Rechtsprechung in der mittelbyzantinischen Zeit. 92
Der bedeutende Jurist (sebastos, Richter in Thessaloniki, nomophylax, krites katholikos) Konstantin Harmenopoulos kompilierte im 14. Jahrhundert die sog. Hexabiblos (wohl 1345), ein Handbuch des weltlichen Rechts (in sechs Büchern; daher der Name). 93 Dabei stützte er sich auf ältere Rechtsbücher (Procheiron, Michael Attaleiates, | Synopsis Minor, Peira, 94 Julian von Askalon). Harmenopoulos organisierte das relevante Material so geschickt für den praktischen Gebrauch, dass sein Handbuch eine außerordentliche Verbreitung erlebte und bis ins 19. Jahrhundert in Griechenland (wie auch in mehreren Balkanstaaten) geltendes Recht repräsentierte. Diese Umstände erregten schon früh das Interesse von Marie Theres Fögen. 95 Allein die außerordentliche Anzahl erhaltener Handschriften (bis ins frühe 19. Jahrhundert) erschwert bis heute eine regelgerechte neue Edition dieses wichtigen Textes. Leider konnte Frau Fögen ihre Pläne bezüglich der Hexabiblos des Hermenopoulos nicht weiterverfolgen, nachdem sie 1995 Professorin für Römisches Recht (nebst Privatrecht und Rechtsvergleich) an der Universität Zürich geworden und 2001 außerdem von der Max-Planck-Gesellschaft als Direktorin an das Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte in Frankfurt berufen worden war.
Erst in jüngster Zeit nahm Marios Tantalos (Athen/Groningen) die Arbeiten an der Hexabiblos im Auftrag der Frankfurter Arbeitsstelle (Werkverträge mit der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen) wieder auf. Ziel ist eine heutigen Ansprüchen genügende wissenschaftliche Edition dieses so wichtigen Rechtsbuches – ein Vorhaben, das allgemein als eines der wichtigsten Desiderate der byzantinistischen Rechtsgeschichtsforschung angesehen wird. Tantalos hat inzwischen bedeutende Fortschritte bei der Erfassung der relevanten Handschriften und der Benutzung älterer Rechtsbücher 96 erreicht und arbeitet zielstrebig auf eine Edition hin. Doch diese wird dann nicht mehr in den Frankfurter Forschungen zur byzantinischen Rechtsgeschichte erscheinen können.
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Fast ein halbes Jahrhundert lang wurde in Frankfurt auf höchst produktive Weise die byzantinische Rechtsgeschichte erforscht. Zahlreiche Editionen und sehr viele Untersuchungen zu den verschiedensten Aspekten der Rechtsgeschichte (und darüber hinaus) wurden publiziert. In enger Kooperation und freundschaftlicher Zusammenarbeit mit den Kollegen in Athen und Groningen wurde eine byzantinistische Spezialdisziplin etabliert. Die internationale Resonanz war enorm, was sich nicht zuletzt durch die zahlreichen Gäste des Projektes und Stipendiaten (etwa der Humboldt-Stiftung) belegen lässt.
Dies alles hat nun ein Ende gefunden. In Deutschland ist die institutionalisierte byzantinistische Rechtsgeschichte damit beendet. An keiner hiesigen Universität oder Akademie wird dieses Fach weiterhin betrieben. Keine Stiftung und ebensowenig die DFG fördern Projekte, die in irgendeiner Weise die byzantinistische Rechtsgeschichte auch nur tangieren.
Was bleibt, sind die Publikationen, die in diesem kurzen Überblick dokumentiert werden; und es bleibt die umfangreiche Sammlung von verfilmten Handschriften des byzantinischen Rechts, die in der Bibliothek des Max-Planck-Instituts für Rechtsgeschichte und Rechtstheorie der Forschung weiterhin zugänglich sein werden. 97 |