Welche Wissenschaft könnte es sich leisten, dass ihre Grundlagen im Universitätsstudium nur am Rande, als Wahlfach und ohne zwingende Prüfungsrelevanz gelehrt werden? Im Fall der Rechtswissenschaft ist schon die Wissenschaftlichkeit keine Selbstverständlichkeit, sondern um diesen Anspruch wird im Bermudadreieck von dogmatischer Rechtsanwendungswissenschaft, topisch-rhetorischer Argumentationskunst und methodisch geleiteter Systematisierung immer aufs Neue gerungen. Die Vermittlung der rechtswissenschaftlichen Methoden und Dogmatik in der juristischen Ausbildung sieht sich mit den Anforderungen und Zwängen der Rechtspraxis konfrontiert – das bleibt nicht ohne Wirkung auf die universitäre Rechtswissenschaft, die in der Konsequenz als »Professionswissenschaft« gedeutet wird. Vor dem Hintergrund der starken staatlichen Determinanten für die Juristenausbildung drängt sich die Frage auf, ob nicht die Normgeber des Ausbildungsrechts, einschließlich der Universitäten selbst, in naheliegender Geradlinigkeit die Ausbildung von Praktikern des Rechts anstreben und diese Aufgabe eigentlich seit jeher als Vermittlung der Kunst bzw. Technik richtiger Rechtsanwendung verstehen, auch wenn dies nicht dem Humboldt’schen Ideal einer Qualifikation durch Wissenschaft entspricht.1 Das mag erklären, wieso die sogen. Grundlagenfächer in der deutschen Juristenausbildung einen schweren Stand haben.
Die Juristenausbildung in Deutschland ist bereits Gegenstand rechtshistorischer bzw. zeitgeschichtlicher Untersuchungen gewesen,2 wenn auch groß angelegte Monographien noch ein Desiderat bilden. Gerade die immer wiederkehrenden bzw. nie endenden Diskussionen um eine Reform der Juristenausbildung sind ein Anstoß für solche Rückblicke und zugleich selbst ein roter Faden, der sich durch die Geschichte der Juristenausbildung zieht.3 Juristenausbildung und Reformvorschläge orientierten sich vielfach, wenn auch nicht immer zu aller Zufriedenheit, an den Bedürfnissen der Praxis. Das kommt schon darin zum Ausdruck, dass der »Fluchtpunkt« der Ausbildungsperspektive von Studium und Referendariat zumindest seit 18694 die Befähigung zum Richteramt ist. Mit Zunahme der Studierendenzahlen bei gleichzeitiger Sättigung des staatlichen Berufsmarktes für Juristen wurde der Anwaltsberuf wichtiger. Ausbildungs- und Prüfungsrecht schreiben sich eine größere Anwaltsorientierung (etwa durch Anwaltsklausuren im Assessorexamen) auf die Fahne. Spätestens mit der Bologna-Erklärung des Jahres 1999 wurde die Verbindung von Arbeitsmarkt und Ausbildungsrecht (»employability« als Ausbildungsziel) auch gegenüber der Wissenschaftlichkeit des Studiums mit einem starken bildungspolitischen Akzent versehen, wenngleich die Rechtswissenschaft noch weitgehend bologna-resistent geblieben ist. Die Grundlagenfächer im rechtswissenschaftlichen Studium (vor allem Rechtsgeschichte, Rechtsphilosophie, Rechtstheorie, Rechtssoziologie, Allgemeine Staatslehre) geraten unter solchen Vorzeichen unter Rechtfertigungszwang. Sie erscheinen dem außenstehenden Betrachter nicht als praxisrelevant, wobei gerade die Grundlagenfächer dies auf lange Sicht doch sein können, indem sie in einer Zeit fluktuierenden Rechts Verständnis für historische Parallelen schaffen, angesichts einer »neuen Unübersichtlichkeit« die Kompetenz für methodisch-strukturierte Herangehensweise schärfen und gegen die Gefahr einer Ausbildung zum verantwortungsscheuen Opportunisten die Fähigkeit zur Kritik bestehender Verhältnisse stärken.5 | Auf der anderen Seite werden die Grundlagenfächer als Ausweis einer profunden wissenschaftlichen Befassung mit dem Recht verstanden, durch welche die Universität ihr Profil zeigen muss, sind doch schon die Fachhochschulen »Universitäten angewandter Wissenschaften«.
Die schwindende Bedeutung der Grundlagenfächer im Studium wird insbesondere von deren Vertretern immer wieder beklagt. Ob es sich dabei lediglich um das altbekannte, wenngleich nur empfundene Lamento des »Früher war alles besser« handelt, vielleicht auch um fakultätspolitische Strategie oder aber um eine zutreffende Diagnose, ist eine Frage, die der rechtsgeschichtlichen Forschung überlassen bleibt. Dieser Aufgabe stellt sich David Sörgel in seiner von Joachim Rückert in Frankfurt betreuten Dissertation.
In der Zeit vor 1970 wurde in keinem Bundesland für die Zulassung zum ersten Staatsexamen ein Leistungsnachweis in einem der Grundlagenfächer verlangt, wohl aber in einigen Ländern ein Nachweis in Volkswirtschaftslehre. Nach 1970 kam es zu der ersten Welle einheitlicher Reformen der Juristenausbildung in der Nachkriegszeit, aus der die Grundlagenfächer gestärkt hervorgingen. Das lässt sich am Erfordernis eines Grundlagenscheins und der Einführung von Wahlfachgruppen sowie an der Examensrelevanz der Wahlfächer festmachen. Der Verfasser erklärt diese Reformbewegung und ihren Zeitpunkt mit dem Einfluss des Fakultätentages, mit »politischen Bedingtheiten« sowie mit »der allgemeinen Reformstimmung«. Die Konferenz der Justizminister hatte 1969 das Studienziel darin gesehen, dass »der Kandidat das Recht mit Verständnis erfassen und anwenden kann und über die hierzu erforderlichen Kenntnisse in den Prüfungsfächern mit ihren geschichtlichen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, politischen und rechtsphilosophischen Bezügen verfügt«.
In einigen Bundesländern spielten die Wahlfächer im ersten Examen keine Rolle (z.B. in Nordrhein-Westfalen zwischen 1972 und 1985). In anderen Bundesländern konnte man zeitweise bis zu 40 oder 50 Prozent der Gesamtnote über die Leistungen im Wahlfach erreichen (bis zu 40 Prozent in Bayern Anfang der 1980er Jahre, wenn nicht nur obligatorisch eine von vier Klausuren, sondern auf Wunsch des Kandidaten auch die Hausarbeit im Wahlfach geschrieben wurde und darüber hinaus das Wahlfach noch in der mündlichen Prüfung thematisiert wurde; bis zu 50 Prozent in Hessen nach der Einführung eines Systems von Wahlfächern und Wahlpflichtfächern 1993/94).
1984 ergänzte der Bundesgesetzgeber das Deutsche Richtergesetz dahingehend, dass die »Kernfächer Bürgerliches Recht, Strafrecht, Öffentliches Recht und Verfahrensrecht einschließlich der rechtswissenschaftlichen Methoden mit ihren philosophischen, geschichtlichen und gesellschaftlichen Grundlagen« obligatorisch zum Studienstoff gehören. Die Bundesländer gingen in der Folge unterschiedliche Wege: Teilweise wurden die Grundlagen aus den Wahlfächern verbannt (Baden-Württemberg 1984 bis 1993), teils blieben grundlagenbezogene Wahlfächer erhalten (z.B. in Hessen). Durch die Einführung der Zwischenprüfungen in den 1990er Jahren konnten die Fakultäten auch die Bedeutung der Grundlagenfächer aufwerten, indem sie entsprechende Leistungsnachweise verlangten. Sowohl in dem chronologischen Hin und Her als auch in dem föderalistischen Fleckenteppich an Regelungen zur Relevanz der Grundlagenfächer für das Examen kommt die Unsicherheit über den Stellenwert dieser Fächer zum Ausdruck, die sich auch schon in der merkwürdigen Randlage der Grundlagenfächer innerhalb des Studiums zeigt: Die Bezüge der Grundlagen zum geltenden Recht waren und sind »Pflichtstoff« im Examen, aber das »Grundlegende« der Grundlagen macht auch gerade ihren Selbststand aus – diese wesentliche Dimension des jeweiligen Grundlagenfachs ressortiert aber nicht mehr zum Pflichtstoff.
Sörgel untersucht nicht nur die rechtliche Implementation in die universitäre Ausbildung (auf bundesrechtlicher und landesrechtlicher Ebene einschließlich der Angebote an Grundlagenfächern an ausgewählten Universitäten – allein dies macht einen großen Teil der Studie aus), sondern er hat auch versucht, empirisches Material über die tatsächliche Belegung der Grundlagenveranstaltungen zu gewinnen. Die ermittelten Zahlen sind naturgemäß sehr selektiv.
Die wichtigsten Ergebnisse dieser faktenreichen und bisweilen etwas zahlenseligen Studie lassen sich auch als Erklärung der aktuellen Situation lesen. Das Interesse der Studierenden an den Grundlagenfächern ist – gemessen an der Ausnutzung von Wahlmöglichkeiten wie den Wahlfächern oder Schwerpunktbereichen – nahezu gleichbleibend gering, wobei die rechtsgeschichtlichen Fächer noch am beliebtesten sind. Das | Wahlverhalten hängt natürlich von dem Angebot der Fakultäten ab – und hier ist eine wichtige Beobachtung, dass die Nachfrage nach den Grundlagenfächern offenbar steigt, wenn das Angebot differenzierter ist. Die größte Anziehungskraft dürfte von guten Lehrern ausgehen, die es verstehen, für ihr Fach zu begeistern. Schließlich hängen studentisches Wahlverhalten und universitäre Fächerpalette von den gesetzlichen Weichenstellungen ab. Wiederholt weist Sörgel darauf hin, dass der Stoff des Curriculum nicht zwingend Prüfungsstoff im Examen war. Auch für das reformierte Studium und damit für die Einführung der examensrelevanten Schwerpunktbereiche gilt diese Inkongruenz weiterhin. Allerdings ergeben sich im staatlichen Teil der ersten Prüfung Spielräume für die Klausurensteller und die Prüfer im Mündlichen, die geschichtlichen, philosophischen, soziologischen Bezüge des Rechts einzubeziehen; die Universitäten können die Grundlagenfächer durch die Konturierung und inhaltliche Zusammenstellung der Schwerpunktbereiche stärken; der Rahmen, den die Juristenausbildungsgesetze lassen, ist weit. Vergegenwärtigt man sich diese Ausgangslage, kommt man nicht umhin, festzustellen: Die Konjunktur der Grundlagenfächer liegt zu einem Gutteil in der Hand der Fakultäten. Sie können den Studienstoff auf ein wissenschaftliches Fundament stellen. Für die Betreuungsrelation, von der das Gelingen der Lehre besonders abhängt, gilt das freilich nicht im selben Maße.