intensiv 2018; 26(01): 46-47
DOI: 10.1055/s-0043-125167
Rundumblick
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Für Sie gelesen: Karl H. Beine, Jeanne Turczynski: Tatort Krankenhaus. Wie ein kaputtes System Misshandlungen und Morde an Kranken fördert

Contributor(s):
Heiner Friesacher
Further Information

Publication History

Publication Date:
05 January 2018 (online)

Zoom Image

Dieses Buch schockiert und irritiert, macht wütend und ratlos zugleich, lässt bangen und hoffen – und ist ein wichtiges und mutiges Buch!

Karl H. Beine, Chefarzt am Marienhospital in Hamm und Professor für Psychi-atrie und Psychotherapie an der Universität Witten/Herdecke, ist einer der profiliertesten Kenner der sensiblen Thematik. Jeanne Turczynski ist Wissenschaftsredakteurin beim Bayrischen Rundfunk mit dem Schwerpunkt Medizin. Beide Autoren legen mit der vorliegenden Publikation den Finger in eine Wunde. Galten die Tötungen an Patienten und Bewohnern bisher als traurige Einzelfälle psychisch gestörter oder fehlgeleiteter Täter, so kommen Beine und Turczynski zu einem anderen Ergebnis. Basierend auf einer Pilot-Studie von Beine und Schubert (online publiziert am 31.05.2017 in der „Deutschen Medizinischen Wochenschrift“), bei der mehr als 4.600 Beschäftigte (Ärzte, Pflegende) in stationären Settings (Krankenhäuser, Altenheime) zu intentional lebensbeendenden Handlungen (Tötung auf Verlangen, Tötung ohne explizite Willensäußerung) anonym befragt wurden, wird von einer Zahl im mehrstelligen Tausender-Bereich ausgegangen. Trotz der Limitierung der Ergebnisse (keine generalisierbaren Aussagen möglich, mögliche Verzerrung der Antworten) lassen die Ergebnisse aufhorchen. Denn die These, die dem Buch zugrunde liegt, ist gesundheitspolitischer Sprengstoff: Die situativen Gegebenheiten, also das System der ökonomisierten Versorgung, ist, zusammen mit Persönlichkeitseigenschaften der Täter, ein wesentlicher Faktor für die Tötung von Schutzbefohlenen.

In sechs Kapiteln wird der Argumentationsstrang dargelegt. Nach einer in die Thematik einführenden Einleitung wird der Fall Niels H., dessen Mordserien auf den Intensivstationen in den Kliniken in Oldenburg und Delmenhorst bis heute Gegenstand vonjuristischen Ermittlungen sind, aufgezeigt. Dabei wird sowohl die persönliche Situation des Täters dezidiert analysiert als auch das System von Verdrängen, Verschweigen und Vertuschen in den Kliniken sichtbar.

Im zweiten Kapitel wird der Fokus auf das gewinnorientierte System Krankenhaus gelegt. Kliniken sind Wirtschaftsunternehmen geworden, betriebswirtschaftliche Steuerung anhand entsprechender Kennzahlen ist der Fixpunkt der Bemühungen. Die Leitkategorie ist die Ökonomie, nicht Pflege und Medizin. Welche fatalen Auswirkungen diese Umorientierung hat, belegen die Autoren anhand vieler Beispiele aus der gängigen Praxis und mit diversen Studien. So führt der Personalabbau im Pflegebereich (der Bereich Pflege ist ein großer Kostenfaktor) zu einer Arbeitsverdichtung und Überlastung. Pflegende müssen so viele Patienten versorgen, dass dadurch die Qualität der Versorgung sinkt und die Fehlerzahlen steigen. Die monetären Anreize des derzeitigen Vergütungssystems führen zu medizinisch kaum zu rechtfertigenden Behandlungen (extrem hohe Zahlen an Fußamputationen bei Diabetikern, viele Kaiserschnittgeburten, lange Beatmungszeiten auf Intensivstationen …). Insgesamt mutiert die Fürsorgebeziehung der Helfer zu einer reinen Dienstleistungsbeziehung. Die Mischung aus ökonomischer Prozessoptimierung, Überlastung der Helfer, hohe Fehlerquote, einer immer noch hierarchischen Führungskultur und mangelnden Kommunikationskultur ist der Nährboden für Gewalt gegen Schutzbefohlene. Dieses wird im dritten und vierten Kapitel thematisiert. Die Falldarstellungen von Martina R. und Rainer L., die jeweils in Wuppertal bzw. in Sonthofen Patienten ermordet haben, zeigt eindringlich die Verflechtungen zwischen den persönlichen Situationen der Täter und den Verdrängungs- und Vertuschungsmechanismen in den Kliniken.

Im fünften Kapitel legen Beine und Turczynski sieben Forderungen für eine Systemkorrektur vor. Sie reichen von besserer Ausbildung und besserer Begleitung im Alltag über Methoden des Konfliktmanagements und einer neuen Fehlerkultur bis zu Systemveränderungen (Schluss mit „Mengenausweitung“ und „Arbeitsverdichtung“, Steuerung orientiert am Patientenwohl und nicht an Prozessoptimierung) und der Einsetzung von Patientenfürsprechern in Form von Landespatientenschutzbeauftragten (in Niedersachsen seit Juli 2016).

Das sechste Kapitel enthält ein „Plädoyer für eine andere Medizin“, wobei der Begriff der Medizin hier weit gefasst ist und Pflege und andere Helfer mit einschließt. Übrigens sind auch Altenpflegeheime und deren Mitarbeiter im gesamten Buch immer wieder explizit mit angesprochen, sodass der Titel des Buches ein wenig zu eng fokussiert ist.

Zum Ende dieser Besprechung bleibt dem Rezensenten nur zu sagen, dass die Lektüre dieses Buches Pflicht für alle Entscheider, (Gesundheits-)Politiker und Mitarbeiter in Kliniken und Heimen sein sollte, und das ist keine leere Floskel.