Klin Monbl Augenheilkd 2013; 230(11): 1095-1096
DOI: 10.1055/s-0033-1351046
Editorial
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Wer braucht Neuroophthalmologie?

Who Needs Neuro-Ophthalmology?
H. Wilhelm
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Publication Date:
15 November 2013 (online)

Das Thermometer hat 35 °Celsius längst überschritten, die Klimaanlage funktioniert nicht, dennoch sitzen die etwa 15 Zuhörer, die Männer teilweise im dunklen Anzug und Krawatte geduldig im Unterrichtssaal des College of Medicine in Blantyre, Malawi. Als mein früherer Tübinger Kollege Markus Schulze Schwering, der als Lecturer in einem gemeinsamen Projekt mit Tübingen an diesem College tätig war, mich anderthalb Jahre zuvor anrief und fragte, ob ich nicht Lust hätte, einen Neuroophthalmologie-Kurs in Malawi zu halten, glaubte ich zunächst, er wolle mir nur etwas Gutes tun, damit ich mal ein bisschen mehr von der Welt sehe. Noch klangen die Worte unseres Nestors William Hoyt in meinem Ohr (sinngemäß): „Neuroophthalmologie ist wie eine Harfe in einem Orchester. Es klingt besser, wenn man sie hat, aber man braucht sie nicht immer unbedingt.“ Operateure brauchen die in Afrika, oder Leute die mit Endophthalmitiden umgehen können, stellte ich mir vor, doch niemand, der eine Luxus-Subspezialität vertritt („Harfe“). Schließlich ließ ich mich überreden (mit der Vorstellung vor allem meinen Horizont zu erweitern) und plante zusammen mit meiner Frau, die einen Kurs in Good Clinical Practice hielt, den ersten Neuroophthalmologie-Kurs in „Sub-Saharian Africa“ ([Abb. 1]). Ich muss gestehen, ich war zu arrogant gewesen, hatte gedacht, die Kollegen aus Sambia und Malawi seien genau an jene oft unzulänglichen und harten Bedingungen mit sehr schwer kranken Patienten adaptiert und würden sich um Feinheiten nicht kümmern. Weit gefehlt. Wir hatten es mit gut ausgebildeten sehr kenntnisreichen Kollegen zu tun, denen an einer umfassenden Ausbildung lag. Ihr Krankheitsspektrum unterscheidet sich keineswegs so krass von unserem, wie ich geglaubt hatte. Auch sie werden mit Erkrankungen aus der Neuroophthalmologie konfrontiert und wollen damit umgehen können. Wir werteten den Kurs mittels Fragebogen aus und waren überrascht [1]: Die Untersuchungstechniken wurden als sehr nützlich empfunden, und es wurde sogar eine Chance für die Neuroophthalmologie als künftige Subspezialität gesehen. Gerne hätten wir auch mehr unterrichten können! Auch große Männer liegen mit ihren Metaphern mitunter falsch. Die Harfe ist zwar ein wunderschönes Instrument, aber Neuroophthalmologie in der Augenheilkunde und Neurologie ist sehr viel bedeutender als die Harfe im Symphonieorchester. Das ist mir in Blantyre bewusst geworden.

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Abb. 1 Der erste Neuroophthalmologie-Kurs in Blantyre, Malawi mit den Kursteilnehmern aus Malawi und Sambia. Der Autor ganz rechts, links daneben Markus Schulze Schwering, vorne in der Mitte Barbara Wilhelm, die einen Kurs in Good Clinical Practice für klinische Studien hielt.

Die klinische Ausbildung in Neuroophthalmologie in Deutschland ist ja in den letzten 20 Jahren – vorsichtig ausgedrückt – nicht besser geworden. Niemand zweifelt an der Bedeutung unserer Subspezialität, sie muss aber auch entsprechend an den Kliniken mit Vollversorgung etabliert werden oder etabliert bleiben. Auch bei uns sollte wie in Malawi der Ehrgeiz bestehen, die komplette Augenheilkunde vertreten zu können. Zuviel haben wir anderen überlassen, zum Beispiel den Neurologen. Dort hat man erkannt, dass das OCT bei der MS sehr nützlich sein kann. Mangels Ansprechpartner in der Augenheilkunde machen etliche Neurologen jetzt ihre eigenen OCTs. „Dürfen die das?“ „Die können das doch gar nicht!“ „Um das OCT richtig zu interpretieren, muss man doch Augenarzt sein.“ Klar, dass diese Einwände kommen. Besser wäre es aber gewesen, sich frühzeitig als kompetenter Partner der Neurologie anzubieten. Das OCT hat die Augenheilkunde revolutioniert, es wird sicherlich nicht die Neurologie revolutionieren, aber es ist da durchaus nützlich. Deshalb erscheint in dieser Ausgabe eine Übersichtsarbeit zum OCT in der Neuroophthalmologie von Herrn Kollegen Kernstock und Koautoren.

Kürzlich wurde an unserer Tübinger Augenklinik eine sogenannte Doku-Soap gedreht, die Augendocs. Die Erstsendung wird schon vorbei sein, wenn Sie dieses Heft lesen. In der Neuroophthalmologie wären die Fernsehleute mehrfach fündig geworden, wenn es darum ging, richtig spannende Schicksale zu finden, bei denen die Zuschauer mitfiebern können. Zwei solche „Thriller“ enthält dieses Themenheft von Frau Luger und Herrn Tonagel verfasst. Neuroophthalmologie lebt von spannenden Falldarstellungen.

Zwei banale Fragestellungen werden in diesem Heft noch angegangen, die es aber in sich haben: Was ist eigentlich eine normale Pupillenweite? (Heine) Wo muss man bei der Prüfung des Kontrastsehens bei der Fahrtauglichkeitsbeurteilung die Grenze ziehen? (Wilhelm) Letzteres ist streng genommen kein neuroophthalmologisches Thema. Traditionell spielt aber exakte Funktionsdiagnostik in der Neuroophthalmologie eine große Rolle, sodass das eine ohne das andere kaum denkbar ist (so heißt unser Tübinger Kurs ja auch „Funktionsdiagnostik und Neuroophthalmologie“, abgekürzt Fun). Ja, Spaß machen soll die Neuroophthalmologie, und Spaß machen soll es Ihnen auch unsere Beiträge zu lesen.


Helmut Wilhelm

 
  • Literatur

  • 1 Schulze Schwering M, Kayange P, Wilhelm H. Neuro-ophthalmology in Malawi. J Neuroophthalmol 2013; 33: e11-12