Klin Monbl Augenheilkd 2013; 230(11): 1146-1153
DOI: 10.1055/s-0032-1328775
Offene Korrespondenz
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Augenheilkunde im Nationalsozialismus – Das Greifswalder Berufungsverfahren 1938

Ophthalmology under National Socialism – The Appeals Procedure of Greifswald 1938
S. Töpel
1   Abteilung für Augenheilkunde, Bundeswehr-Zentralkrankenhaus Koblenz
,
F. Tost
2   Augenklinik der Universitätsmedizin, Ernst-Moritz-Arndt Universität, Greifswald
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Publication Date:
11 September 2013 (online)

Einleitung

Während zahlreiche Aspekte von Augenheilkunde im Nationalsozialismus von Rohrbach [1] umfangreich, wissenschaftlich fundiert und insbesondere aus der Sicht des Ophthalmologen dargestellt worden sind, sind die Hintergründe zu den einzelnen Berufungsverfahren aus jener Zeit, von wenigen Ausnahmen abgesehen, kaum bekannt [2]. Dies überrascht nicht, denn Aufschluss hierzu können nur Untersuchungen vor Ort geben. Für das Berufungsverfahren zur Besetzung des Greifswalder ophthalmologischen Lehrstuhls 1938 ist dies mit Blick auf die Hierarchiestufe Universität nunmehr geschehen.

In Preußen spielten sich Berufungsverfahren auf 3 Hierarchiestufen ab [1], [2], [3], [4]. Die Verantwortlichen in den Universitäten, also Dekane, Dozentenschaftsführer und Rektoren, bildeten die untere Hierarchieebene. War ein Lehrstuhl vakant, so bat der jeweilige Dekan reichsweit die Ordinarien des betreffenden Faches um Nachfolgeempfehlungen. Die Vorgeschlagenen, hier Ophthalmologen, wurden in der Berufungskommission besprochen. So entstand eine Rangliste, die schließlich auf drei Plätze gekürzt wurde. Diese Liste, die Dreierliste, ging an das zuständige Ministerium.

Die Hochschulen unterstanden Bernhard Rust, der in Personalunion Reichs- und Preußischer Minister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung (RuPMWEV) war. Rust und seine Beamten stellten die mittlere Hierarchiestufe dar. Ging alles gut, so wurde der Wunschkandidat der betreffenden Fakultät nach oben hin weiterempfohlen. Andernfalls, etwa wenn die Beamten oder Rust selbst, der letztlich an keinen Vorschlag gebunden war, die Dreierliste der Fakultät ablehnten, konnte sich das Verfahren hinschleppen. Außerdem hatten hier, auf dieser Stufe, Ränkeschmiede, politische Eiferer und Störer gute Chancen, in das Verfahren einzugreifen. Sie mussten allerdings mit den Eigenheiten der Ministerialbürokratie vertraut sein.

Hatte der Fakultätswunsch Rusts Behörde wohlwollend durchlaufen, so erreichte er über die Reichskanzlei die obere Stufe, sofern nicht seitens der Parteikanzlei in München, welcher 1938 Rudolf Hess vorstand, Einfluss genommen wurde. Mit seiner Unterschrift ernannte Adolf Hitler formal den Empfohlenen zum ordentlichen Professor. Soweit bekannt hat Hitler sich persönlich jedoch nicht direkt in diese Berufungsverfahren eingemischt.

Einige Wochen konnten schon vergehen, bis die Akten die Reichskanzlei durchlaufen hatten. Daher war es üblich, dass bereits Rusts Vorschlag eine Berufungsverhandlung mit dem Auserwählten nach sich zog. Unternahm dieser keinen Rückzieher, so wurde der Besetzungswechsel vollzogen, vorab, ohne das Papier des Führers, formaljuristisch gesehen also vorläufig.

 
  • Literatur

  • 1 Rohrbach JM. Augenheilkunde im Nationalsozialismus. Stuttgart: Schattauer; 2007: 1-217
  • 2 Forsbach R. Die Medizinische Fakultät der Universität Bonn im „Dritten Reich“. München: R Oldenbourg; 2006
  • 3 van den Bussche M. Personalpolitik und akademische Karrieren an der Hamburger Medizinischen Fakultät im „Dritten Reich“. In: Akademische Karrieren im „Dritten Reich“. Berlin: Institut für Geschichte der Medizin, Universitätsklinikum Charité; 1993: 19-38
  • 4 Thom A. Die nationalsozialistische Hochschul- und Wissenschaftspolitik in der Medizin. Intentionen-Instrumente-Wirkungen. In: Grau G, Schneck P, Hrsg. Akademische Karrieren im „Dritten Reich“. Berlin: Institut für Geschichte der Medizin, Universitätsklinikum Charité; 1993: 1-17
  • 5 Rohrbach JM. Bombenkrieg, Augenverletzungen und die Luftschutzbrille nach Walter Dieter. Klin Monatsbl Augenheilkd 2008; 225: 896-901
  • 6 Gerth K. Zur Geschichte der Universitätsaugenklinik Jena und ihrer Ordinarien im Zeitraum von 1880 bis 1980. [Dissertation]. Universität Jena; 2001
  • 7 Rohrbach JM. Deutsche Augenärzteschaft und NSDAP. Sudhoffs Archiv 2008; 92: 1-19