Aktuelle Neurologie 2012; 39(06): 273
DOI: 10.1055/s-0032-1305188
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Das Arbeitszeitgesetz: Empirie versus Ideologie

Work Hour Restrictions in Physicians
H. C. Diener
Universitätsklinikum Essen, Klinik für Neurologie
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Publication Date:
07 August 2012 (online)

Als der Autor dieses Editorials vor 36 Jahren seine berufliche Tätigkeit aufnahm, herrschte ein ganz erheblicher Ärztemangel. Dies führte dazu, dass man, wenn man in einem kleinen Land-Krankenhaus arbeitete, häufig jede dritte oder vierte Nacht Nachtdienst hatte und dann ohne weitere Ruhezeit am nächsten Tag seinen Dienst in der Chirurgie oder Inneren absolvieren musste. Wenn man tatsächlich übermüdet war, konnte man natürlich dem zuständigen Oberarzt Bescheid sagen und sich für einige Stunden hinlegen. Strikte gesetzliche Regelungen zum Arbeitsschutz gab es damals nicht und diese hätten angesichts der vielen unbesetzten Stellen an Krankenhäusern auch gar nicht umgesetzt werden können. In den letzten Jahren hat es insbesondere durch die Initiative der EU zunehmend restriktive Regelungen zur Arbeitszeit von Ärzten an Krankenhäusern gegeben, die unterstellen, dass Ärzte, die lange Arbeitszeiten haben und die übermüdet sind, ihrer Tätigkeit nicht mehr verantwortungsvoll nachkommen können und dies zu einer erhöhten Fehlerrate bei der Diagnose und Behandlung von Patienten führen würde. Interessanterweise war dies in vielen anderen Ländern nicht als Problem betrachtet worden und so gab es lange Zeit in den angloamerikanischen Ländern keine entsprechenden Regelungen, welche die maximalen Stundenzahlen der Ärztinnen und Ärzte pro Tag oder pro Woche geregelt hätten. Dies änderte sich in den letzten Jahren auch in den Vereinigten Staaten.

Interessant sind jetzt die Ergebnisse einer vor Kurzem publizierten Studie, die die Komplikationsraten von neurochirurgischen Operationen vor und nach Einführung von strikten Arbeitszeiten verglich [1]. Das überraschende Ergebnis war, dass nach Einführung des Arbeitszeitschutzgesetzes die Komplikationsrate bei neurochirurgischen Operationen zunahmen. Jetzt zeigt sich das große Dilemma. Ärztliche Expertise, insbesondere in operativen Fächern, wird durch die Zahl der Operationen bestimmt, die jemand durchführt. Wenn die Zahl dieser Eingriffe pro Operateur durch rigide Arbeitszeitgesetze eingeschränkt wird, führt dies interessanterweise zu einem Qualitätsverlust und nicht – wie zuvor unterstellt worden war – zu einer Qualitätsverbesserung bedingt durch kürzere Arbeitszeiten und längere Ruhezeiten. Ähnlich wie bei den weltanschaulichen Kämpfen bei der Strukturierung unserer Schulen halten eine ganze Reihe von Konzepten, die auf den ersten Blick einleuchtend sind, einer empirischen Überprüfung nicht stand. Dies ist kein Appell, zu den alten nicht zu tolerierenden Arbeitszeiten von vor 30 Jahren zurückzukehren. Es ist aber ein Appell in Zeiten des Ärztemangels und zahlreicher unbesetzter Stellen in Krankenhäusern das Arbeitszeitgesetz deutlich flexibler auszulegen, als dies im Moment durch die Regierungspräsidien in einigen Bundesländern geschieht.

 
  • Literatur

  • 1 Dumont TM, Rughani A, Penar PL et al. Increased rate of complications on a neurological surgery service after implementation of the Accreditation Council for Graduate Medical Education work-hour restriction. J Neurosurg 2012; 116: 483-486