Rehabilitation (Stuttg) 2009; 48(1): 2-3
DOI: 10.1055/s-0028-1128120
Editorial

© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Versorgungsmodelle in der medizinischen Rehabilitation – neue Befunde und Konzepte

Service Provision Models in Medical Rehabilitation – New Findings and New ConceptsO. Mittag 1 , W. H. Jäckel 1 , 2
  • 1Abteilung Qualitätsmanagement und Sozialmedizin (AQMS), Universitätsklinikum Freiburg
  • 2RehaKlinikum und Hochrhein-Institut, Bad Säckingen
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Publication Date:
10 February 2009 (online)

Das eher starre System der medizinischen Rehabilitation in Deutschland ist in den letzten Jahren erkennbar in Bewegung geraten. Das in Kraft getretene Neunte Buch Sozialgesetzbuch (SGB IX) hat wesentlich dazu beigetragen, dass sich die Rehabilitation auf die Herausforderung der kommenden Dekaden (Zunahme des Bedarfs durch die demografische Entwicklung, Erfolge der Akutmedizin und veränderte Anforderungen des Erwerbslebens) einstellt. Bedarfsorientierung und Flexibilisierung sind die wichtigsten Indikatoren zur Beurteilung des Fortschritts auf diesem Weg. Anliegen des vorliegenden Schwerpunktheftes ist es, Rehapraktiker und die für das Rehabilitationssystem Verantwortlichen über aktuelle und vielleicht wegweisende Projekte zu informieren. Damit soll die Diskussion um die Weiterentwicklung der Rehabilitation intensiviert und die Erprobung neuer Konzepte unter wissenschaftlicher Begleitung befördert werden.

Das Persönliche Budget (Elisabeth Wacker, S. 4 ff. in diesem Heft) könnte ein grundlegend neues Modell der Leistungsgestaltung in der Behindertenhilfe bilden. Der Grundgedanke ist, Geld- anstelle von Sachleistungen anzubieten und so dem behinderten Menschen als Auftraggeber die Steuerung der Leistung zu übertragen. Das sollte zu einer Öffnung des Versorgungssystems für alternative Dienstleistungen bzw. -leister führen und damit zu einer Flexibilisierung der Rehabilitation. Ob es allerdings zu einer „Abstimmung mit den Füßen” kommt und ob daraus sogar eine Reform der gegenwärtigen Versorgungsstruktur erwächst, scheint äußerst fraglich. Die Experimentierfreude der infrage stehenden Personengruppe ist vermutlich wenig entwickelt, und auch die Gemeinsamen Servicestellen dürften sich kaum als Gatekeeper für alternative Rehaangebote eignen. Die tatsächlichen Auswirkungen des Persönlichen Budgets werden erst in den nächsten Jahren deutlicher werden; bislang ist die Erfahrungsbasis schmal. Die ersten Nutzer jedenfalls scheinen das neue Modell zu begrüßen.

Auch die Mobile Rehabilitation (Matthias Schmidt-Ohlemann und Carola Schweizer, S. 15 ff. in diesem Heft) könnte entscheidend dazu beitragen, eingefahrene Routinen der rehabilitativen Versorgung infrage zu stellen. Sie ist ein Beispiel dafür, wie die Veränderung eines einzigen Wortes im Gesetzestext den Weg für eine ganz neue Versorgungsstruktur freimacht. In § 40 Abs. 1 SGB V heißt es in der 2007 geänderten Fassung, die Krankenkassen könnten ambulante Rehabilitationsleistungen „durch” (bislang: „in”) wohnortnahe Einrichtungen erbringen. Die Rehabilitation kann damit zum Patienten kommen und nicht umgekehrt. Das wirft eine Reihe von Fragen auf und führt zu veränderten Versorgungsformen. Muss Mobile Rehabilitation ähnlich wie die stationäre und die ambulante Rehabilitation indikationsspezifisch ausgerichtet sein, oder sollte sie nicht viel besser eine gemeinsame „Toolbox” haben, die fachübergreifend auf die Verbesserung von Funktionen, Aktivitäten und Teilhabe zielt? Und natürlich kann Mobile Rehabilitation nicht in das Zeitraster von (zumeist) drei Wochen gezwängt werden, dem die derzeitigen Versorgungsangebote unterliegen. Das wäre auch gar nicht wünschenswert. Es ist eher ein Anlass, über eine auch zeitliche Flexibilisierung der Rehabilitation insgesamt nachzudenken.

Das medizinische und insbesondere das rehabilitative Versorgungssystem in Deutschland ist streng nach Leistungsträgern und Segmenten gegliedert. Daraus ergeben sich vielfältige Probleme an den Schnittstellen zwischen den einzelnen Phasen des Behandlungsprozesses sowie auch inhaltliche Überschneidungen. Sebastian Schnarr und Wolfgang Beyer (S. 26 ff. in diesem Heft) stellen hier ein Modellprojekt zur sektorenübergreifenden Versorgung in der Rheumatologie vor. Eine rheumatologische Akutklinik in kommunaler Trägerschaft arbeitet in enger fachlicher und personeller Vernetzung mit einer benachbarten Rehabilitationsklinik der Rentenversicherung zusammen. Die Ergebnisse, zumal im ärztlichen Bereich, sind erfreulich. Das eigentlich Besondere an diesem Modellprojekt ist die unterschiedliche Trägerschaft der beiden Einrichtungen.

Ein wesentlicher Kritikpunkt des deutschen Rehabilitationssystems ist die ungenügende Nachhaltigkeit (z. B. [1]). Anders als in den meisten Ländern der Welt wird medizinische Rehabilitation in Deutschland als intensive, multimodale Behandlung im zeitlichen Block von regelhaft drei Wochen Dauer durchgeführt. Der Transfer von Lebensstiländerungen in den Alltag sowie die Aufrechterhaltung des in der Rehabilitation Gelernten stellen ein Problem dar. Aus diesem Grund werden bereits seit Langem Nachsorgemaßnahmen gefordert, die den langfristigen Erfolg von Rehamaßnahmen sicherstellen sollen. Inge Ehlebracht-König, Angelika Bönisch und Julia Pönicke (S. 30 ff. in diesem Heft) berichten die Ergebnisse einer randomisierten, kontrollierten Studie zu den Effekten einer fraktionierten Durchführung der Rehabilitation bei rheumatologischen Patienten. Patienten in der Interventionsgruppe erhielten eine dreiwöchige stationäre Rehabehandlung und kamen dann nach drei bis fünf Monaten zu einer einwöchigen Auffrischungsmaßnahme noch einmal in die Rehaklinik; die Kontrollgruppe erhielt vier Wochen Rehabilitation „am Stück”. Die Ergebnisse zeigen keinen Vorteil des fraktionierten Modells.

Ruth Deck, Angelika Hüppe und Andreas Christoph Arlt (S. 39 ff. in diesem Heft) wählten einen anderen Weg. Sie plädieren für ein neues Selbstverständnis der Rehaeinrichtungen, das Nachsorgemaßnahmen von Anfang an in das Klinikkonzept und den Klinikalltag integriert. Dies erfordert die Bereitstellung von personellen Ressourcen, Anpassungen der Abläufe in der Klinik (z. B. Checkliste für das ärztliche Aufnahmegespräch), Erinnerungssysteme, Einbindung der niedergelassenen Haus- und Fachärzte sowie die Entwicklung von Materialien für die Patienten (z. B. Informationsmaterial, Bewegungstagebücher für die Zeit nach der Reha). Sechs Rehaeinrichtungen und 77 Rehabilitanden haben in einer Pilotphase dieses Konzept erprobt. Im Vordergrund stand dabei regelmäßige und ausreichende körperliche Aktivität der Teilnehmer. Die Ergebnisse sind ermutigend. Sie zeigen aber auch, dass zusätzliche Anstrengungen erforderlich sind, um die Nachhaltigkeit von Rehabilitation zu erhöhen.

Alle Beiträge in diesem Schwerpunktheft eint die Forderung nach Veränderungen im rehabilitativen Versorgungssystem in Deutschland – „change we need”. Die Triebkräfte dafür sind weniger der demografische Wandel oder medizinische Fortschritte, sondern der Wille des Gesetzgebers (SGB IX), enge ökonomische Rahmenbedingungen und die Bewegung der Evidenz-basierten Medizin (Heiner Raspe, S. 47 ff. in diesem Heft). Wir haben Heiner Raspe gebeten, sich für dieses Themenheft Gedanken zu machen über die Zukunft der medizinischen Rehabilitation in Deutschland. Er zeigt in seinem Beitrag zentrale Schwachstellen des gegenwärtigen Versorgungssystems auf, und er weist auf die wesentlichen Potenziale für eine gezielte Weiterentwicklung der Rehabilitation hin. Wichtige Punkte sind dabei ein aktiveres Zugehen auf potenziell rehabedürftige Personengruppen sowie die Entwicklung und Evaluation ambulanter, am individuellen Rehabedarf orientierter und flexibel in den beruflichen und familiären Alltag zu integrierender Programme. Entscheidend aber bleibt die Forderung nach der Schaffung einer besseren Evidenzbasis für die Wirksamkeit von Rehabilitation in unserem Versorgungssystem. „Nur wenn die Reha Wirksamkeit und Nutzen zeigt, wird sie als notwendig anzusehen sein” (Heiner Raspe, S. 50 in diesem Heft).

Was nun sind die Gründe für die Trägheit der Rehasystems angesichts veränderter Rahmenbedingungen, neuer (und leider auch alter) Herausforderungen und wissenschaftlicher Erkenntnisse aus nunmehr über zwei Jahrzehnten intensiver Rehaforschung? Auf die Problematik des sektoralen Versorgungssystems wurde bereits hingewiesen. Sicherlich trägt auch die Verbindung der Rehabilitation mit anderweitigen Erwartungen und Interessen dazu bei. Rehabilitation ist nicht nur ein Behandlungsansatz, sondern auch Wirtschaftsfaktor, gesetzlicher Auftrag, Sozialleistung, Arbeitsfeld unterschiedlicher Professionen (einschließlich der Verwaltungen) und nicht zuletzt auch ein Politikfeld [2]. Hinzu kommt speziell in Deutschland eine Tradition, begründet u. a. durch die Bismarck‘sche Sozialgesetzgebung und das Kurwesen, die stationäre, wohnortferne Versorgungsformen in der Rehabilitation gefördert hat. Die Erwartungshaltungen der Versicherten sind oftmals entsprechend.

Der ärztliche Sachverständigenrat der Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (BAR) hat in einem aktuellen Positionspapier Herausforderungen und Ziele für die medizinische Rehabilitation formuliert [3]. Dazu zählen eine trägerübergreifende Vernetzung von Rehabilitation im Gesamtsystem der medizinischen Versorgung, die Orientierung am individuellen Rehabedarf und damit eine Flexibilisierung in (quantitativ und qualitativ) unterschiedliche Leistungen, eine evidenzbasierte Zuweisung zu unterschiedlichen Rehaformen, die Erhöhung der Nachhaltigkeit durch bessere Vernetzung mit dem ambulanten Versorgungssystem bzw. durch institutionelle Verankerung der Nachsorge und schließlich eine konsequente Ausrichtung an der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF). Viele dieser Punkte werden in dem hier vorliegenden Schwerpunktheft aufgegriffen.

Eine Flexibilisierung der Rehabilitation hinsichtlich der Dauer und der Versorgungsformen ist in Deutschland lange überfällig. Fasst man die hier mitgeteilten Befunde und Konzepte zusammen, dann ergeben sich daraus wichtige Hinweise auf Möglichkeiten zur Verbesserung der Effektivität und Effizienz des Rehabilitationssystems, aber auch auf mögliche Barrieren auf diesem Weg. Für die konsequente Nutzung der Chancen des Rehabilitationssystems, aber auch für die Legitimation des (international gesehen) eher ungewöhnlichen Systems der deutschen Rehabilitation wird es von besonderer Bedeutung sein, inwieweit es gelingt, auf dem gerade erst begonnenen Weg der Bedarfsorientierung und Flexibilisierung konsequent voranzukommen. Hierzu bedarf es erheblicher weiterer Anstrengungen der Rehabilitationsträger, der Leistungserbringer und der Rehabilitationswissenschaften einschließlich der Forschungsförderer.

Literatur

  • 1 Hüppe G, Raspe H. Zur Wirksamkeit stationärer medizinischer Rehabilitation in Deutschland bei chronischen Rückenschmerzen: Aktualisierung und methodenkritische Diskussion einer Literaturübersicht.  Die Rehabilitation. 2005;  44 24-33
  • 2 Gebauer E. Kann Reha, was sie soll?.  Praxis Klinische Verhaltensmedizin und Rehabilitation. 2007;  (78) 217-228
  • 3 Seger W, Petri B, Müller-Fahrnow W, Lay W, Grotkamp S, Hüller E, Seidel E, Steinke B, Deetjen W, Gronemeyer St, Lübke N, Mittelstaedt G von, Korsukéwitz Ch, Aubke W, Schian H-M, Heipertz W, Wallrabenstein H, Zelfel RC, Cibis W, Philgus B. Perspektiven der Rehabilitation.  Das Gesundheitswesen. 2008;  70 267-280

Korrespondenzadresse

PD Dr. Oskar Mittag

Abteilung Qualitätsmanagement und Sozialmedizin

Universitätsklinikum Freiburg

Breisacher Straße 62 – Haus 4

79106 Freiburg

Email: oskar.mittag@uniklinik-freiburg.de

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