Balint Journal 2021; 22(04): 105
DOI: 10.1055/a-1672-7019
Editorial

Liebe Leser Editorial

Hans-Peter Edlhaimb

„Daran erkenn‘ ich den gelehrten Herrn! Was ihr nicht tastet, steht euch meilenfern; Was ihr nicht faßt, das fehlt euch ganz und gar; Was ihr nicht rechnet, glaubt ihr, sey nicht wahr; Was ihr nicht wägt, hat für euch kein Gewicht; Was ihr nicht münzt, das meint ihr, gelte nicht“.
Mephistopheles
(Johann Wolfgang von Goethe, Faust II, 1836)

Konzept – Zu wenig Wissen, ungenaue Informationen und ganz gezielt eingesetzte Falschinformationen über ein ständig mutierendes Virus finden sich in den Sozialen Netzwerken und sorgen für Unsicherheit bezüglich der bedrohlichen SARS-CoV-2-Infektion. Was gestern gegolten hat, zählt heute nicht mehr und erzeugt Zweifel und kontroversielle Diskurse in der ärztlichen Kollegenschaft. Die restriktiven Maßnahmen seitens der Politik belasten die Menschen, die polemischen Gegenargumente seitens der Oppositionspolitik verwirren beträchtlich.

Patienten und Patientinnen flüchten verängstigt auf der Suche nach Klarheit ins Internet und verirren sich in pseudowissenschaftlichen Foren, wo faszinierende Mythen farbenprächtige Blüten treiben. Verunsicherte Patientinnen und Patienten treffen in den ärztlichen Praxen auf medizinisches Fachpersonal, welches sich mühevoll durch das Dickicht der sich ständig ändernden und widersprüchlichen Interpretationen diverser Studien und Erzählungen kämpft.

Narrative sind es auch und keine historischen Fakten, welche Kolleginnen und Kollegen in unseren Balintgruppen berichten und die im geschützten Raum der freien Gruppen-Assoziation bearbeitet werden.

Der französische Philosoph Paul Ricœur warnte im Jahre 1998 davor, die Vergangenheit als eine Entität, einen Ort zu behandeln, in dem die vergessenen Erinnerungen zurückbleiben, die man mit einer Anamnese zurückholen könnte. Geschichte ist nicht als Rückblick auf feststehende Dinge und auf vergangene Ereignisse zu sehen. Narrative zu Arzt-Patienten-Begegnungen bestehen nicht nur als Abfolge von Begebenheiten, getätigten oder erlittenen Handlungen, sondern stets inklusive des subjektiven Berichts darüber. Erzählungen sind als gegenwärtige Konstrukte der Vergangenheit zu begreifen. Seit Beginn der COVID-19-Pandemie prägt das Internetmedium „Webinar-Balintgruppe“ noch zusätzlich seinen Stempel auf solche Narrative und deren Bearbeitung in der Balintgruppe.

Wo geht es hin? Worauf kommt es an? Was zählt?

In diesem vagen Gemenge von Unsicherheiten stellt sich die Frage, welche Auswirkungen diese chaotische Mannigfaltigkeit auf die Balintgruppenarbeit hat. Michael Balint hat es uns vorgegeben. Das einzig Sichere sei die gute Basis einer bodenständigen, professionellen Arzt-Patienten-Beziehung, in welcher wir Ärztinnen und Ärzte gemeinsam mit unseren Patientinnen und Patienten ko-kreativ Wege durch den Dschungel unsicherer Zeiten beschreiten. Die Iteration dieses Phänomens zeigt sich in der Wirkung der Balintgruppenarbeit, die uns vermitteln kann, nicht allein schwierige Wege gehen zu müssen.

In diesem Sinne wünsche ich viel Erfolg bei den gemeinsamen Schritten in den Balintgruppen und anregendes Interesse für die Texte dieser Ausgabe.

Ihr

Hans-Peter Edlhaimb



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Article published online:
15 December 2021

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