Nervenheilkunde 2021; 40(05): 296-311
DOI: 10.1055/a-1298-1004
Editorial

Öffnet die Schulen!

Zur Abwägung der Auswirkungen von Viren und Lockdowns auf Kinder
Manfred Spitzer

Zusammenfassung: Diese Übersicht wägt das Risiko einer Infektion mit SARS-CoV-2 gegen die Nebenwirkungen von Schulschließungen auf die physische und psychische Gesundheit, auf die Bildung und auf das Wohlbefinden der betroffenen Kinder und Jugendlichen ab. Während kurzfristige Auswirkungen – vermindertes Lernen und geringere Ernährungssicherheit sowie erhöhte Angst, Gewalt gegen Kinder, Kinderarbeit und Teenagerschwangerschaften – häufig Gegenstand der aktuellen Diskussion sind, so werden die langfristigen Auswirkungen von Schulschließungen über die gesamte Lebensspanne der „Generation Corona“ kaum erörtert: Bestehende Pandemien von Inaktivität, Kurzsichtigkeit und Depressionen, von denen bereits Milliarden Menschen betroffen sind, verschlimmern sich durch weniger körperliche Bewegung und weniger Zeit im Freien, schlechte Ernährung, Gewichtszunahme, erhöhte Bildschirmzeit und mehr Einsamkeit während der Schulschließungen, was zu einem zukünftigen Anstieg von Schlaganfall, Herzinfarkt, Krebs und Blindheit führt. Zu den sozio-emotionalen Komplikationen von Isolation und Arbeitslosigkeit gehören erlernte Hilflosigkeit, wirtschaftliche existenzielle Unsicherheit und zunehmende Einsamkeit, was sowohl zu einer Verminderung von Mitgefühl führt als auch das Auftreten von Angststörungen und Depressionen (bis hin zur Suizidalität) begünstigt. Zusammen mit der Verminderung von erreichtem Bildungsstand und wirtschaftlicher Produktivität rechtfertigt das Ausmaß der hierdurch nochmals erhöhten zukünftigen globalen Morbidität und Mortalität die Schließung von Bildungseinrichtungen nur als Ultima Ratio und gebietet deren Öffnung als erste Maßnahme jedweder Lockerung.

Im April 2020 waren von den Schulschließungen während der anhaltenden Corona-Pandemie 1,6 Milliarden Schüler in 190 Ländern betroffen [120]. Während Fabriken und Baustellen brummten, Supermärkte, Apotheken und Drogerien geöffnet waren und deutsche Touristen ins nahe und ferne Ausland reisten (und teilweise mit mutierten Viren zurückkehrten), wurden Kitas und Schulen im Frühjahr 2020 und dann erneut später im Jahr 2020/2021 geschlossen ([ Abb. 1 ]).

Zoom Image
Abb. 1 Ort und Dauer der Schulschließungen weltweit (nach der UNESCO-Pressemitteilung vom 25. Januar 2021; https://en.unesco.org/news/unesco-figures-show-two-thirds-academic-year-lost-average-worldwide-due-covid-19-school; Zugriff am 16. Februar 2021; modifizierte Einfärbung zur Darstellung einer „Heatmap“, wobei wärmere und hellere Farben längere Schulschließungen anzeigen). Die Schulen waren im Durchschnitt 3,5 Monate (14 Wochen) seit Ausbruch der Pandemie vollständig geschlossen. Lokale Schulschließungen dauerten im Durchschnitt 5,5 Monate (22 Wochen), was zwei Dritteln des akademischen Jahres entspricht.

Mit Stand vom 16. März 2021 waren mehr als 120 Millionen Menschen infiziert, mehr als 2,6 Millionen waren gestorben. Neue gefährlichere Mutanten des Erregers SARS-CoV-2 tauchten zunächst in Großbritannien, den USA, Südafrika und Südamerika auf und sind mittlerweile auch bei uns längst angekommen, wo sie das Infektionsgeschehen mit exponentiellem Wachstum erneut beschleunigen. Angesichts der Tatsache, dass Deutschland über weite Strecken dieser Pandemie zu den 10 am stärksten betroffenen Ländern gehörte und die bereits Ende letzten Jahres begonnenen Impfungen bis Ende März nur sehr schleppend voran kamen, blieben Kitas und Schulen über viele Wochen hinweg geschlossen. Sie werden nun wieder geöffnet und möglicherweise bald wieder geschlossen. Ist das tatsächlich „alternativlos“?

Zunächst einmal war und ist die Lage in der Tat ernst. Deutschland befindet sich in der „Dritten Welle“, und es drohen erneut hohe Infektionszahlen mit entsprechend steigender Mortalität. Schließungsmaßnahmen sind wirksam, wenn sie stringent genug umgesetzt werden. Das zeigt nicht nur der Verlauf der Pandemie in China, sondern auch in Israel, Neuseeland und Australien. Israel, das Anfang 2021 im Hinblick auf die Infektionen pro Kopf weltweit am stärksten von SARS-CoV-2 betroffen war, bekämpfte seit dem 8. Januar 2021 die dritte Corona-Welle mit dem dritten „harten“ Lockdown ([ Abb. 2 ]).

Zoom Image
Abb. 2 Anzahl der täglichen Neuinfektionen in Israel von März 2020 bis Januar 2021 (modifizierter Screenshot aus dem Dashboard der Johns Hopkins University, aufgenommen am 29. Januar 2021). Der Zeitpunkt von 3 sehr strengen Abriegelungen („harte“ Lockdowns) und einigen Einschränkungen bei sozialen Aktivitäten im Sommer („weicher“ Lockdown) wurde vom Autor eingefügt, um die Wirksamkeit dieser Maßnahmen zu demonstrieren. Die Auswirkungen der Impfungen sind nicht zu erkennen.

Ein größeres Autorenteam untersuchte kürzlich die Wirksamkeit verschiedener, von Regierungen veranlasster Lockdown-Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie in 41 Ländern, Schulschließungen [8] erwiesen sich hierbei als vergleichsweise wirksame Maßnahmen ([ Tab. 1 ]). Ungeklärt ist jedoch die Frage, ob der Effekt tatsächlich auf die nicht mehr über die Schulkinder verbreitete Infektion zurückgeht, oder etwa auf die Tatsache, dass Eltern zum Homeschooling zuhause bleiben und sich deswegen nicht am Arbeitsplatz oder unterwegs anstecken.

Tab. 1

Wirksamkeit verschiedener Maßnahmen der Regierungen zur Eindämmung des Infektionsgeschehens während der Corona-Pandemie (nach Daten aus [8]).

Maßnahme

Effekt (Reduktion des R-Wertes in Prozent)

Versammlungen mit höchstens 1000 Personen

22

Versammlungen mit höchstens 100 Personen

34

Versammlungen mit höchstens 10 Personen

41

Einige Geschäfte geschlossen

18

Nahezu alle nicht lebenswichtigen Geschäfte geschlossen

26

Schulen und Universitäten geschlossen

38

Zusätzlicher Effekt von Ausgangsbeschränkungen

14



Publication History

Article published online:
04 May 2021

© 2021. Thieme. All rights reserved.

Georg Thieme Verlag KG
Rüdigerstraße 14, 70469 Stuttgart, Germany