Die Infektion mit SARS-CoV‑2 und der damit verbundenen COVID-19-Erkrankung belastet gegenwärtig die medizinischen, sozialen und ökonomischen Strukturen weltweit. In diesem Kontext erschienen jüngst mehrere laienhafte, aber auch wissenschaftliche Abhandlungen zur Rolle der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM)/Akupunktur.

Der TCM/Akupunktur kommt eine allgemein-unterstützende Rolle in der antiviralen Therapie zu

Vorab sei an dieser Stelle klargestellt, dass der TCM/Akupunktur keine primäre, sondern eine unterstützende Rolle in der antiviralen Therapie und ein Einsatz zur Symptomlinderung zukommt.

Es kursieren Arbeiten die den Stellenwert der Akupunktur, aber auch der chinesischen Arzneimitteltherapie in der Therapie schwerer inflammatorischer Zustände untersuchen. Eine aktuelle Metaanalyse zeigt, dass die Akupunktur am Punkt Magen 36 zu einer Reduktion von Organschädigungen nach Sepsis unterschiedlicher Ursache in experimentellen Tiermodellen beiträgt [3]. Als Mechanismen diskutieren die Autoren, dass durch Akupunktur oxidativer Stress und Entzündungsprozesse reduziert, sowie die Mikrozirkulation der Gewebe verbessert werden.

Eine weitere Metaanalyse beschäftigt sich mit der Wirksamkeit des patentierten Injektionsmittels Xuebijing bei 1144 Patienten mit Sepsis [5]. Die Autoren berichten, dass die Substanz die 28-tägige Mortalitätsrate, die APACHE II ScoresFootnote 1, die Zahl der weißen Blutzellen und die Körpertemperaturen der Patienten verbessert [5]. Als einschränkend für die Sicherheit der Aussage gelten ein hohes Verzerrungsrisiko und eine niedrige Qualität der eingeschlossenen Studien. Präklinische Daten zu der Substanz sind nicht transparent verfügbar. Jedoch wurde in der Vergangenheit bereits eine Vielzahl chinesischer Arzneimittel postuliert (teilweise von der chinesischen Arzneimittelbehörde zugelassen), die nachgewiesenermaßen das Eindringen von Viren in die Wirtszelle, deren Replikation, Zusammensetzung sowie letztlich Freisetzung aus der Zelle beeinflussen können [6].

Bereits während der SARS-Epidemie 2002/2003 skizzierte eine Übersicht chinesischer Publikationen den Nutzen der TCM [4]. Insbesondere der chinesischen Arzneitherapie wurden positive Effekte in den Aspekten besserer Temperaturkontrolle, seltenerer Infektionen des Thorax, niedrigeren Steroidbedarfs und genereller Symptomlinderung zugeschrieben.

Eine weitere Metaanalyse über 8 Studien (n = 488) beschreibt die Reduktion der Mortalität und Fieberdauer und Abnahme steroidverursachter Nebenwirkungen und pathologischer Röntgen-Thorax-Befunde, jeweils in Kombination mit konventionellen Maßnahmen bei SARS-Patienten [8].

Eine Cochrane-Analyse aus dem Jahr 2012 konnte keine Reduktion der Mortalität von SARS durch die Kombination von chinesischer Arzneimitteltherapie und westlicher Medizin zeigen [9]. Es existieren Hinweise für eine verbesserte Symptomatik und Lebensqualität, die Abnahme pulmonaler Infiltrate sowie eine niedrigere benötigte Steroiddosis. Die Qualität der Studien ist niedrig, und Langzeitbeobachtungen fehlen [9].

Betreffend die Infektionen mit SARS-CoV‑2 finden sich derzeit zahlreiche Berichte in Wissenschaftsjournalen zu den Perspektiven der TCM [7, 10, 12]. Besonders ausführlich ist eine international gelistete Übersichtsarbeit der Universität in Macau [16]. Die Autoren geben an, dass der Anteil an infizierten Patienten in China, die sich zusätzlich mit TCM behandeln lassen, bei über 85 % liegt. In manchen Provinzen wurde berichtet, dass über 90 % der Patienten zusätzlich mit TCM behandelt wurden [13]. Das Spektrum der konventionellen Therapie umfasst derzeit die Sauerstoffzufuhr, Antibiotikagabe, antivirale Medikation, Steroide sowie die Plasmatherapie. Da seitens der WHO bisher keine „spezifische Therapie zur Prävention und Behandlung von SARS-CoV-2“ verfügbar ist, sehen die Autoren der Universität Macau es als gerechtfertigt, insbesondere den Einsatz chinesischer Arzneitherapien, die seit vielen Dekaden zur Kontrolle von Infektionskrankheiten angewandt wurden, als wertvolle Ergänzung zu betrachten [16]. In der Begründung potenziell wirksamer Substanzen argumentieren die Autoren insbesondere mit den bekannten antiviralen Aktivitäten von Arzneimitteln, welche aus der SARS-Epidemie bekannt sind und zahlreiche gemeinsame molekulare Andockstrukturen bei SARS-CoV‑2 aufweisen. Einschränkend ist hier, dass die Kenntnis über die direkte molekulare Wirkung in SARS-CoV‑2 aussteht.

Chinesische Gesundheitsbehörden empfehlen die Kombination der TCM mit den konventionellen Maßnahmen

Die Gesundheitsbehörden von 26 chinesischen Provinzen empfehlen (Stand 17.02.2020) die Kombination der TCM mit den konventionellen Maßnahmen [16]. Gemäß den Autoren finden sich je nach Provinz unterschiedlich angewendete Rohdrogen. Die Nationale Gesundheitskommission der Volksrepublik China stellt in ihrer Leitlinie zur Diagnose und Therapie von 2019-nCoV-infizierten Pneumonien (7. Version; [1, 15]) folgende Präparate in den Vordergrund (Tab. 1).

Tab. 1 Empfohlene chinesische Arzneimittel. (Modifiziert nach [1, 15, 16].) Eine Anpassung an lokale und individuelle Gegebenheiten darf durch geschulte Anwender erfolgen

Bisher stützen sich diese Empfehlungen nicht auf klinische Studien. Jedoch war die Coronapandemie Anlass dazu, dass zum 01.03.2020 bei der Nationalen Gesundheitskommission der Volksrepublik China 50 klinische Studien bei COVID-19-erkrankten Patienten registriert waren, welche die Wirksamkeit und Sicherheit der TCM (insbesondere chinesischer Arzneimittel) untersuchen [16]. Im amerikanischen Studienregister clinicaltrials.gov finden sich gegenwärtig 9 Einträge zu Studien mit chinesischen Arzneimitteln. Zu keiner dieser Studien wurden bisher Ergebnisse veröffentlicht.

Bereits vorhandene Studienergebnisse mit SARS-CoV-2-positiven Patienten wurden vor allem in chinesischsprachigen Publikationsorganen veröffentlicht. So berichten Yang et al. [16] von retrospektiven Beobachtungen, die zeigen, dass durch die unterschiedlichen Konzepte in den Provinzen in 30–60 % der Fälle die Schwere von Symptomen wie Fieber und Husten gelindert werden konnte.

In westlichen Wissenschaftsdatenbanken finden sich aktuell diverse Fallberichte. Deng et al. [2] berichten über einen Patienten mit klinischem Verdacht einer schweren COVID-19-Pneumonie, welcher drei Tage lang mit einer Immunglobulintherapie behandelt wurde. Anschließend wurde er zweimal täglich mit Moxibustionskästchen an den Punkten LG 14, KG 4 und beidseits Ma 36 behandelt. Darunter stieg die Zahl der weißen Blutkörperchen. Durch die Gabe chinesischer Arzneimitteltherapie (2 Dekokte: Ma Xing Shi Gan und Xiao Chai Hu) konnte die Körpertemperatur besser kontrolliert werden. Ab dem neunten Tag war die Dyspnoe deutlich reduziert und der Patient benötigte keine weitere Sauerstoffzufuhr. Nach dem 15. Tag konnte der Patient entlassen werden. Während des Aufenthalts war die Virusinfektion mit SARS-CoV‑2 bestätigt worden [2].

Ein weiterer Fallbericht betrifft eine dreiköpfige Familie [11]. Die Mutter fungierte als Auslöser einer innerfamiliären Infektionskette. Primär wurde sie in der Klinik mit einem TCM-Granulat (Jinyebaidu) behandelt, im Verlauf ergänzt durch ein Virostatikum und einen Gyrasehemmer. Bei Zunahme der pulmonalen Symptomatik wurde eine Kombination aus Immuntherapie, Dexamethason und oraler TCM-Flüssigkeit (Shuanghuanglian, SHL) angeordnet und die Patientin letztlich isoliert. Die Tochter wurde 9 Tage später ebenfalls symptomatisch und in Isolation nur mit SHL behandelt. Der Vater war SARS-CoV-2-positiv, jedoch asymptomatisch. Er bekam in häuslicher Quarantäne neben SHL zusätzlich Moxifloxacin und ein Virostatikum. Alle drei Patienten erreichten volle Remission. Die Therapie mit SHL wurde bis zur Entlassung fortgeführt [11]. Auf der Basis dieses Fallberichts ist eine klinische Studie geplant.

Ein weiterer Fallbericht berichtet über 4 Fälle, welche zusätzlich zur antiviralen Medikation (Kaletra®) ein chinesisches Komplexpräparat (Shufeng-Jiedu-Kapsel) bekamen [14]. Zwei der Patienten wurden im Verlauf negativ getestet und konnten entlassen werden. Bei allen Patienten wurde eine primäre Infektion vermutet, die drei Patienten mit milderen Verläufen profitierten von einer kombinierten Therapie, der vierte Patient in kritischem Zustand zeigte Zeichen der Verbesserung zum Zeitpunkt der Publikation des Artikels. Die Autoren geben keine Outcome-Parameter an, die einen kausalen Bezug zur chinesischen Arzneimitteltherapie herstellen würden [14].

Randomisiert kontrollierte Studien in etablierten westlichen Fachzeitschriften sind gegenwärtig nicht vorhanden.

Berichte und Untersuchungen zu Nebenwirkungen der chinesischen Arzneimittel oder Kreuzreaktionen mit konventionellen Arzneimitteln sind gegenwärtig nicht vorhanden.

Alle Daten zu TCM/Akupunktur und SARS-CoV‑2 wurden bisher in China gewonnen, die Übertragbarkeit auf den westlichen Kontext ist bisher unklar.

Zusammenfassung

Zum gegenwärtigen Stand steht auf der Basis der Erfahrungen der SARS-Epidemie 2002/2003 im Bereich der TCM insbesondere mit den chinesischen Arzneimitteln ein potenzielles Arsenal antiviraler Wirkstoffe zu Verfügung. Diese sind teilweise molekularvirologisch auf ihre Wirksamkeit hin untersucht. In Bezug auf SARS-CoV‑2 stehen diese Untersuchungen jedoch noch größtenteils aus.

Gemessen an der Evidenz klinischer Studien aus den Vorjahren scheint durch eine Kombination mit chinesischer Arzneitherapie mindestens eine Symptomlinderung (Fieber, Husten, Atemnot) erreicht zu werden. Vielversprechend ist die Vielzahl aktuell laufender klinischer Untersuchungen, die diese Wirksamkeit bei COVID-19-erkrankten Patienten untersuchen.

Die weiteren Säulen der TCM, i. e. Akupunktur, Ernährungstherapie, Bewegungstherapie, chinesische Manualtherapie, stehen nicht im Mittelpunkt gegenwärtiger wissenschaftlicher Berichte.

Die gegenwärtige Datenlage rechtfertigt eine additive Therapie mit chinesischen Arzneimitteln, sofern alle konventionellen Maßnahmen ausgeschöpft worden sind. Die A‑priori-Kombination westlicher und TCM-Maßnahmen wird durch die Ergebnisse zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht gestützt.