Einleitung

Bei der Erforschung und Entwicklung eines diversitätssensiblen, inklusiven Unterrichts lag der Schwerpunkt in der Vergangenheit auf den didaktischen Prinzipien der Individualisierung und Differenzierung (Prengel 2019; Schöler 2009; Textor 2018), denen auch im Kontext der Sonderpädagogik ein hoher Stellenwert zugesprochen wird (Ratz 2011, S. 13). Kritisiert wird in diesem Zusammenhang die Gefahr einer Vereinzelung der S*S (Brügelmann 2011) sowie eine mögliche Marginalisierung von fachlichen Inhalten und die Verwässerung des spezifischen Bildungsauftrags der Fächer (Kahlert 2016, S. 238). Seit einiger Zeit wendet sich daher auch die Inklusionsforschung vermehrt dem Thema der Kooperation im gemeinsamen (Fach‑)Unterricht zu (Büttner et al. 2012; Eckermann und Heinzel 2013; Scheidt 2017). Gefordert ist in diesem Zusammenhang einerseits eine inhaltliche wie methodische Öffnung des Fachunterrichts und andererseits eine stärkere Hinwendung zu didaktischen Prinzipien der Kooperation und des gemeinsamen Lernens als Kernelemente inklusiven Unterrichts (Feuser 2013, 2021; Gómez & Menthe 2022; Stinken-Rösner et al. 2020).

In der naturwissenschaftlichen Fachdidaktik werden Experimente vor allem unter der Perspektive der individuellen Aneignung von Fachwissen, praktischer Fertigkeiten und Einsichten in naturwissenschaftliche Denk- und Arbeitsweisen betrachtet (Bader und Lühken 2018). Insofern Experimente in der Regel in Gruppen durchgeführt werden, bieten sie aber zugleich eine besondere Gelegenheit für Kooperation und gemeinsames Lernen, wobei die Sicht der S*S auf das gemeinsame Handeln beim Experimentieren bisher wenig untersucht worden ist (Bonnet 2007). Das liegt vermutlich auch daran, dass Schülervorstellungen im Kontext der Conceptual Change-Forschung klassischerweise kognitionspsychologisch begriffen (Gropengießer und Marohn 2018) werden. Veränderungen von Vorstellungen werden in diesem Verständnis durch kognitive Konflikte zwischen Schülervorstellung und angezielter Vorstellung angeregt (Stark 2003; Posner et al. 1982).

Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, herauszuarbeiten, wie S*S in Interaktion mit ihrer Lehrkraft die Durchführung von Experimenten in Gruppenarbeiten realisieren, welches Wissen und welche Vorstellungen von Kooperation sie in das gemeinsame Experimentieren einbringen und welche fachlichen wie sozialen Lernprozesse sich in den Interaktionen dokumentieren.

Theoretischer Hintergrund

Für die Planung und Umsetzung inklusiven Fachunterrichts ist neben der Individualisierung und Differenzierung die Berücksichtigung der Dimensionen Fachlichkeit und Kooperation unverzichtbar. Dabei kann zwischen fachübergreifenden und fachspezifischen Aspekten der Kooperation unterschieden werden:

Kooperation in fachübergreifender Perspektive

Kooperatives Lernen ist mehr als nur eine spezifische Unterrichtsmethode (Rumann 2004; Heeg et al. 2020) oder Sozialform (Meyer 2011, S. 242), sondern stellt ein fundamentales Prinzip menschlicher Lern- und Entwicklungsprozesse dar (Green und Green 2006; Booth und Ainscow 2019). Wir folgen in unserem Beitrag Feusers allgemeiner Definition von Kooperation als einer arbeitsteiligen und wechselseitigen Tätigkeit, deren sinngebendes (Lern‑)Motiv im gemeinsamen Gegenstand begründet liegt (vgl. Feuser 2013, S. 283). Nach Vygotskij ist diese gemeinsame Tätigkeit zugleich der Motor kognitiver wie emotionaler Entwicklung und damit von unmittelbarer Bedeutung für die Entwicklungsdynamik und den Lernerfolg im Unterricht (vgl. Vygotskij 2002, S. 327). Nachahmen, Zeigen, Kooperieren und andere Formen des gemeinsamen Voneinander- und Miteinander-Lernens von S*S sowie von Lernenden und Lehrenden sind notwendige Bedingungen für die Schaffung einer „Zone der nächsten Entwicklung“ im und durch Unterricht, in der neue psychische Funktionen und Fähigkeiten angebahnt werden, das Kind über sein aktuelles Leistungsniveau hinauswächst und dabei Aufgaben – auch im Sinne praktischer Tätigkeiten beim Experimentieren – bewältigt, die ihm, auf sich allein gestellt, (noch) nicht zugänglich wären.

Didaktische Fragen des kooperativen Lernens sind lange schon Gegenstand bildungswissenschaftlicher und fachdidaktischer Forschung, wie Berger und Walpuski (2018, S. 227) mit Hinweis auf die Metaanalysen von Springer et al. (1999) und Hattie (2014) feststellen. Beide Studien weisen deutliche Vorteile kooperativen Lernens gegenüber individuellen Lernarrangements nach. Im Rückblick auf 30 Jahre Forschung zum kooperativen Lernen benennen Green und Green (2005, S. 33–37) insgesamt 14 positive Effekte kooperativen Lernens, wie z. B. eine Steigerung der Schülerbeteiligung oder die Erweiterung des Selbstwertgefühls. Dabei fällt auf, dass sich die genannten Effekte ausschließlich auf die individuelle Lernmotivation und das soziale Lernen beziehen, während fachliches Lernen kaum eine Rolle spielt. Dies spiegelt sich auch in den theoretischen Positionen und Begriffsdefinitionen der aktuellen Literatur zum kooperativen Lernen wider: diese reichen von entwicklungspsychologischen Theorien der kognitiven, sozialen und motivationalen Entwicklung bis hin zu verhaltenspsychologischen Lerntheorien und Theorien der sozialen Interdependenz und Kohäsion (vgl. Slavin et al. 2003; Johnson und Johnson 2015; Bleck und Lipowsky 2021, S. 3 f.). Die inhaltliche Dimension kooperativen, gemeinsamen Lernens und die Bedeutung der Fachlichkeit bzw. des je spezifischen Lerngegenstands, also die Objektseite, bleiben in diesen Theorien weitgehend ausgespart.

Umgekehrt bleibt die Dimension der Kooperation und des gemeinsamen Lernens in Untersuchungen zur inhaltlichen Dimension der Entwicklung naturwissenschaftlichen Denkens und Handelns oft empirisch wie theoretisch unterbestimmt, wie z. B. in den einschlägigen Arbeiten zum Wissenschaftsverständnis von Sodian und Kolleg*innen, die zwar durchaus die Bedeutung sozialer Kognition berücksichtigen, in der entwicklungspsychologischen Tradition Piagets allerdings lediglich das „Niveau der aktuellen Entwicklung“ untersuchen (vgl. Sodian et al. 2002; Osterhaus et al. 2016). Selbst in den elaboriertesten Modellen experimentellen oder entdeckenden Lernens, die sich zum Teil explizit auf sozialkonstruktivistische Lerntheorien stützen (vgl. De Jong und Van Joolingen 1998, S. 179) oder sogar direkt auf Vygotskij und das Konzept der „Zone der nächsten Entwicklung“ rekurrieren (vgl. Fischer et al. 2013, S. 57), wird eher das Vorwissen betrachtet; Vorstellungen der S*S über Kooperation und gemeinsames Lernen sowie deren Bedeutung für das fachliche Lernen werden aber kaum berücksichtigt.

Kooperation in der fachdidaktischen Forschung

Bei den fachspezifischen Aspekten der Kooperation lassen sich in Anlehnung an das „fachdidaktische Triplet“ der Didaktischen Rekonstruktion (Kattmann et al. 1997, S. 4) drei Teilbereiche unterscheiden:

  1. 1.

    Schülerperspektiven und -vorstellungen zur Kooperation in den Naturwissenschaften: Höttecke und Hopf (2018, S. 275) stellen mit Bezugnahme auf Ergebnisse von Driver et al. (1996) fest, dass Wissenschaftler*innen von Schüler*innen oft als vereinzelt arbeitende Individuen gedacht werden und nicht als im sozialen Zusammenhang arbeitende Menschen. Neuere Untersuchungen deuten allerdings darauf hin, dass sich dieses Bild, das sich in der Figur des/der „verrückten Wissenschaftler*in“ zuspitzt, allmählich wandelt und realistischeren Vorstellungsmustern weicht, in denen „kooperativen Aktivitäten eine relativ hohe Bedeutung aus Sicht der Schülerinnen und Schüler zukommt“ (Wentorf et al. 2015, S. 216).

  2. 2.

    Fachliche Bedeutung von Kooperation in den Naturwissenschaften: Die unter (1) genannten Schülervorstellungen, die den kooperativen Charakter naturwissenschaftlicher Tätigkeiten als gemeinschaftlichen Aushandlungsprozess verkennen, sind nach Höttecke und Hopf (2018, S. 275) dem modernen Verständnis der Naturwissenschaften als sozialem Prozess diametral entgegengesetzt, stehen also im Widerspruch zur realen Arbeitspraxis der Naturwissenschaften, die sich, wie der Mikrobiologe und Wissenschaftstheoretiker Fleck herausgearbeitet hat, gerade auf dem Gebiet der Experimentalforschung durch die fundamentale Bedeutung von Denkkollektiven und deren Denkstilen für die Entstehung und Entwicklung wissenschaftlicher Tatsachen auszeichnet (vgl. Fleck 2021, S. 111–129).

  3. 3.

    Kooperation als Inhalt und Methodik der didaktischen Strukturierung: Daraus folgt, Kooperation im Unterricht aus fachdidaktischer Perspektive nicht nur als methodisches Element der Motivation durch soziales Lernen (etwa durch Gruppenpuzzle) zu begreifen, sondern nach der Fachspezifik der Kooperation beim naturwissenschaftlichen Experimentieren in Gruppen zu fragen. Hier schließt sich der Kreis zu den Schülerperspektiven und -vorstellungen, indem Kooperation im Kontext der (naturwissenschafts-)didaktischen Strukturierung selbst Gegenstand von Lern- und Entwicklungsprozessen ist, welche mit spezifischen Vorstellungen, Perspektiven und Konzepten seitens der Schüler*innen einher gehen.

Die vorliegende Studie konzentriert sich auf diesen dritten Teilbereich, weil Interaktion und kooperative Aushandlungsprozesse eine wesentliche Bedingung für die Entwicklung naturwissenschaftlicher Kompetenzen sind: „Nur wenn den Lernenden ausreichend Zeit zur Verfügung steht, um mit ihren Mitschülerinnen und -schülern sowie mit dem oder der Lehrenden ausführlich über ihre Vorstellungen und die von der Naturwissenschaft angebotenen Theorien zu sprechen, besteht eine Chance, dass Kompetenzerwerb stattfindet.“ (Bonnet 2007, S. 92). Zugleich ist Kooperation kein Selbstläufer, sie bedarf der „interaktionalen Kompetenz“ (ebenda, S. 93), muss also selbst gelernt werden.

Schülervorstellungsforschung und implizite Vorstellungen zum Experimentieren

Aus der Vorstellungsforschung ist bekannt, dass Lernende zu allen Aspekten des Unterrichts umfangreiche Vorerfahrungen in den Unterricht mitbringen und dass deren Berücksichtigung elementar für den Lernerfolg ist (Ausubel 1968; Schecker und Duit 2018). Gut untersucht sind Schülervorstellungen zu einzelnen naturwissenschaftlichen Phänomenen (z. B. Gropengießer und Marohn 2018; Schecker et al. 2018b) oder Basiskompetenzen (natur)wissenschaftlichen Denkens und experimentellen Handelns (z. B. Koerber et al. 2011). Experimentieren beinhaltet dabei ein ganzes Bündel an Kompetenzen (Schreiber et al. 2014; Höttecke und Rieß 2015). Wir fokussieren in dieser Arbeit vor allem auf das „Inquiry based learning“ – entsprechend dem Verständnis des „Doing science“ nach Hodson (2014), bei dem die selbstständige experimentelle Bearbeitung einer gemeinsamen Fragestellung in Gruppen im Mittelpunkt steht. Dies grenzen wir ab von Schülerversuchen, deren Durchführung wir als Abarbeiten von vorgegebenen Versuchsanleitungen verstehen. Dabei werden von den S*S keine selbstständige Planung oder Hypothesenbildung verlangt: „They are handling chemicals but not ideas!“ (Sommer et al. 2019, S. 480).

Die fachdidaktische Relevanz der vorliegenden Arbeit besteht darin, das Thema Schülervorstellungen in zweierlei Hinsicht zu vertiefen: zum einen, indem die bislang wenig untersuchten Schülervorstellungen zu Kooperation und zur Organisation gemeinsamer Lernprozesse beim unterrichtlichen Experimentieren in den Blick genommen werden; zum anderen, indem das Konstrukt der „Schülervorstellung“ vor dem methodologischen Hintergrund der Dokumentarischen Methode (DM) wissenssoziologisch ausdifferenziert wird, indem neben dem expliziten Wissen auch implizite Anteile rekonstruiert werden. Die Rekonstruktion impliziter Anteile von Schülervorstellungen ist fachdidaktisch schon von Gebhard (2007) mit dem Begriff der Alltagsphantasien und von Holfelder (2018) am Beispiel von Nachhaltigkeitsvorstellungen bearbeitet worden. Auch im Prinzip des erfahrungsbasierten Lernens von Gropengießer (2007) steckt der Versuch einer Überwindung der kognitiven Engführung von Schülervorstellungen. Die vorliegende Studie schließt an diese Arbeiten an und orientiert sich insbesondere an Gresch und Martens (2019) sowie Gresch (2020), die am Beispiel der Rekonstruktion von Schülervorstellungen mit der DM das methodische Rüstzeug liefern, um systematisch auch implizite Anteile von Schülervorstellungen zu rekonstruieren. Dieser Zugang ist insbesondere zur Analyse der gemeinsamen Tätigkeit der S*S in einem multimodalen Unterrichtsgeschehen produktiv, denn explizites wie implizites Wissen der S*S dokumentieren sich hierbei nicht nur sprachlich, sondern auch in Gesten und Affektausdrücken, im gemeinsamen Handeln und in der Interaktion mit dem Material.

Um das zu zeigen, referieren wir an dieser Stelle kurz die grundlagentheoretischen Überlegungen von Bohnsack (2020) und ihre Adaption für die Naturwissenschaftsdidaktik (Bonnet 2009; Sander 2016; Abels et al. 2018; Rabe et al. 2023). In den wissenssoziologischen Arbeiten von Mannheim, auf denen die DM aufbaut, wird zwischen kommunikativem Wissen, das den Individuen bewusst ist und expliziert werden kann, und konjunktivem Wissen, das auf geteilten Erfahrungen basiert und nicht unmittelbar bewusst ist, unterschieden (vgl. Mannheim 1980; Rabe et al. 2023). Diese Unterscheidung ermöglicht es, explizites (kommunikatives) und implizites (konjunktives) Wissen über Kooperation und gemeinsames Lernen der beteiligten S*S zueinander in Beziehung zu setzen. Kommunikatives Wissen wird in der DM als Orientierungsschema rekonstruiert, konjunktives Wissen als Orientierungsrahmen. Vor allem letzterer erweitert damit das Spektrum dessen, was typischerweise als Schülervorstellung gefasst wird. Der von uns verwendete Oberbegriff „Orientierungen“ speist sich aus beiden Wissensarten (kommunikatives wie konjunktives Wissen).

Im Unterricht stehen implizites, als handlungsleitend angenommenes Wissen und explizites Wissen nicht selten in einem Spannungsverhältnis. Dies kann dazu führen, dass aus fachlicher Sicht problematische Schülervorstellungen von der Lehrkraft zwar explizit herausgefordert, zugleich aber implizit gestützt werden, wie Gresch und Martens (2019) am Beispiel von teleologischen Vorstellungen von der Evolution zeigen konnten. Aus diesem Grund ist gerade das Zusammenspiel von Orientierungen der Lehrkraft und Orientierungen der S*S relevant, da diese einander wechselseitig beeinflussen, insbesondere wenn pädagogische Intentionen (z. B. die Schüler*innen für Ihre Beiträge loben wollen) der Orientierung an der fachlichen Richtigkeit im Wege stehen (vgl. ebd.). In der gemeinsamen Durchführung von Experimenten dokumentieren sich dabei sowohl Vorstellungen der Lernenden über Experimente wie über die Kooperation und kooperatives Lernen in den Naturwissenschaften und im naturwissenschaftlichen Unterricht. Anhand der dokumentarischen Analyse von Unterrichtsvideographien werden die Schülervorstellungen und der Lehrhabitus im Sinne der „verinnerlichten Wahrnehmungs‑, Denk-, und Handlungsmuster, die die Unterrichtspraxis lehrpersonenseitig strukturieren“ (Martens und Asbrand 2021, S. 59), rekonstruiert. Der Lehrhabitus strukturiert seinerseits den unterrichtlichen Erfahrungsraum der S*S und wirkt so auf deren Vorstellungen zurück. Diese Analyse zielt dabei sowohl auf explizit Geäußertes oder in den Videoaufnahmen visuell Beobachtbares, als auch auf das den Beforschten nicht unmittelbar zugängliche, implizite, inkorporierte Wissen.

Datenmaterial und Methode der Datenerhebung und -auswertung

Die analysierte Unterrichtsstunde zum Thema „Aggregatzustände“ wurde in einem multiprofessionellen Team (Seminarleiterin, Sonderpädagogin, Studierende) unter Mitbeteiligung der Autor*innen geplant und von der Fachlehrkraft der beiden Klassen unterrichtet. Eine genauere Darstellung des Unterrichtsmaterials findet sich in ([anonymisiert]). Bei der Planung wurde besonders darauf geachtet, den S*S unterschiedliche Zugänge zum Lerngegenstand zu ermöglichen, indem dieser auf verschiedenen Repräsentationsebenen (enaktiv, ikonisch, symbolisch) und in wechselnden Sozialformen vermittelt wurde. Die Gruppeneinteilung nahm die Lehrkraft vor.

Das Datenmaterial bilden die Videographien des Unterrichts in zwei Klassen der 6. Jahrgangsstufe einer Oberschule. Diese setzten sich zusammen aus jeweils 18 S*S im Alter von zwölf bis dreizehn Jahren, darunter auch drei S*S mit sonderpädagogischem Förderbedarf im Bereich Lernen und sozial-emotionale Entwicklung. Es wurde jeweils der gesamte Klassenraum aufgezeichnet, zudem wurden in der einen Klasse drei, in der anderen Klasse vier Gruppenarbeitstische über den gesamten Unterrichtsverlauf hinweg gefilmt. So entstanden 7,5 h Videomaterial, die nach den Transkriptionsregeln von Asbrand und Martens (2018, S. 178 u. 239) transkribiert und in Ausschnitten ausgewertet wurden. Die Transkriptionen wurden jeweils von mindestens zwei Personen gegengelesen und die im Forschungsteam erarbeiteten Interpretationen im Rahmen von drei Forschungswerkstätten vorgestellt, diskutiert und auf ihre intersubjektive Nachvollziehbarkeit hin überprüft.Footnote 1

Unterrichtsbeschreibung

Zum Einstieg zeigte die Lehrkraft den S*S ein Bild von schmelzendem Eis und ließ sie Vermutungen über die Stundenfrage äußern. Anschließend wurde der Ablauf der Gruppenarbeitsphase vorgestellt und auf die Sicherungsphase verwiesen. Im Sinne der angestrebten Differenzierung wurde es den S*S freigestellt, während des Experimentierens unterschiedliche Vorgehensweisen zu realisieren.

Zentrales Medium in allen Arbeitsphasen war das folgende, für die verschiedenen Gruppen angepasste, d. h. entweder reduzierte oder ausdifferenzierte Schaubild (Abb. 1).

Abb. 1
figure 1

Schaubild für die Gruppenarbeit

Die S*S erhielten verschiedene Aufgaben, die sie gemeinsam lösen sollten: Der erste Arbeitsauftrag bestand darin, den farblich markierten Feldern im Schaubild Begriffe zuzuordnen bzw. fehlende Begriffe einzutragen. Anschließend sollte jede Gruppe eine individuell zugewiesene zweite Aufgabe lösen. So sollten etwa weitere Beispiele für die Aggregatzustände im Alltag gefunden werden. Der dritte Arbeitsauftrag bestand darin, die eigenen Eintragungen der Temperaturwerte im Schaubild mit Hilfe von Experimenten zu überprüfen. Für diese Phase standen den S*S Eiswürfel, Leitungswasser, Bechergläser, Uhrgläser, ein Thermometer, ein Teelicht, Streichhölzer und ein Wasserkocher am Lehrerpult zur Verfügung. Abschließend sollten die Ergebnisse in ein Arbeitsblatt übertragen werden, das dem in Abb. 1 dargestellten Schaubild glich. Zudem waren Hilfekarten vorhanden, auf die die S*S zurückgreifen konnten. Sie beinhalteten die Bezeichnungen der Aggregatzustandsübergänge und eine Erklärung des Begriffs „Kondensieren“. Die Gruppenarbeitsphase (inkl. der von den Schüler*innen durchgeführten Experimente) nahm etwa zwei Drittel der gesamten Unterrichtszeit ein. Kurz vor der Sicherungsphase verteilte die Lehrkraft an einige S*S Magnetkarten mit Begriffen und Temperaturwerten, die an der Tafel angeordnet werden sollten, sodass die S*S am Ende der Unterrichtsstunde das Schaubild gemeinsam an der Tafel nachbilden konnten.

Forschungsfrage und methodisches Vorgehen

Unsere zentrale Forschungsfrage für die weiteren Analysen mittels der DM lautet: Wie realisieren die S*S in Interaktion miteinander und mit der Lehrkraft die Durchführung von Experimenten? Welches Wissen und welche Vorstellungen von Kooperation bringen sie in das gemeinsame Experimentieren ein und welche fachlichen wie sozialen Lernprozesse dokumentieren sich in den Interaktionen?

Für die Dokumentarische Analyse des aufgezeichneten Videomaterials wurde zunächst eine Tabelle mit den Transkripten angelegt, in der dann die formulierende Interpretation und darauf aufbauend die reflektierende Interpretation – zusammen mit aussagekräftigen Fotogrammen – ergänzt wurden (Abb. 2). Diese Darstellungsweise ist angelehnt an Asbrand und Martens (2018) und wurde von uns leicht modifiziert und vereinfacht, um eine übersichtlichere Form zu erhalten. Die formulierende Interpretation soll einen detaillierten Überblick darüber verschaffen, welche Themen in einer zu analysierenden Sequenz vorkommen (vgl. ebd., S. 54).Footnote 2 Die formulierende Interpretation ist darauf ausgerichtet, den immanenten Sinn der Kommunikation zu erfassen: „Dabei handelt es sich um die den Sprecherinnen und Sprechern als kommunikatives Wissen verfügbaren Wissensbestände, d. h. Einstellungen, Bewertungen, Beschreibungen, Argumentationen und Theorien, die im Gespräch explizit werden.“ (Ebd.) Kurz zusammengefasst geht es bei der formulierenden Interpretation um das, was gesagt wird. Im Unterschied dazu erfasst die reflektierende Interpretation die Ebene des konjunktiven Wissens und ist damit auf den Orientierungsrahmen der Kommunikation gerichtet. Da sich dieser nicht aus dem explizit Gesagten allein rekonstruieren lässt, sondern sich in der Art und Weise der Interaktion dokumentiert (vgl. ebd., S. 55), geht es bei der reflektierenden Analyse darum, zu untersuchen, wie die Erforschten miteinander kommunizieren. In der tabellarischen Darstellung unserer Interpretationsergebnisse befinden sich in der linken Spalte das Transkript und die Fotogramme ausgewählter Szenen. Die mittlere Spalte enthält die Ergebnisse der formulierenden Interpretation, differenziert nach sprachlichen und nicht-sprachlichen Tätigkeiten. In der rechten Spalte findet sich die reflektierende Interpretation, basierend auf den Ausschnitten und Zeitmarken der mittleren Spalte. Zwei weitere, sich anschließende methodische Schritte einer vollständigen Anwendung der DM wären die komparative Typenbildung und die Analyse von Passungsverhältnissen. Für die vorliegende Arbeit ist aber das Verbleiben auf der Ebene der Orientierungen aus unserer Sicht zielführender, weil es nicht um das typische gemeinsame Auftreten bestimmter Orientierungen geht, sondern darum, inwieweit die rekonstruierten Orientierungen die Genese bestimmter, für das kooperative Lernen im naturwissenschaftlichen Unterricht bedeutsamer und handlungsleitender Schülervorstellungen zu erhellen vermag. Eine detailliertere Darstellung der DM findet sich im Einleitungskapitel dieser topical collection (Rabe et al. 2023).

Abb. 2
figure 2

Transkript Gruppe 1, 1:55–2:41

Für die Analyse von Handlungssituationen wie dem Experimentalunterricht, mit einem hohen Anteil gegenständlicher Tätigkeiten, genügt die ausschließliche Betrachtung verbalsprachlicher Äußerungen in der Regel nicht. Die S*S verwenden bspw. unterschiedliche materielle Gerätschaften, Chemikalien und Hilfsmittel, um einer bestimmten Fragestellung nachzugehen oder bestimmte Versuchsergebnisse zu (re-)produzieren. In inklusiven Lerngruppen, in denen teils sehr unterschiedliche Kommunikations- und Handlungsebenen zu berücksichtigen sind, ist es noch einmal in besonderer Weise notwendig, auch die gegenständlichen Tätigkeiten der S*S und ihren Umgang mit den Materialien in die Interpretation einzubeziehen. Aus diesen Gründen wurden für die vorliegende Analyse die von Asbrand et al. (2013) vorgeschlagenen Erweiterungen der DM aufgegriffen.

Asbrand et al. (2013) verweisen darauf, dass die theoretischen Grundlagen der DM nach Bohnsack (2009, Bohnsack et al. 2013) und die Methodologie seiner Diskurs- und Interaktionsanalyse sehr gut anschlussfähig sind an die Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) von Latour (2002). Sie fordern die Überwindung der „traditionellen Fokussierung qualitativer Unterrichtsforschung auf die sprachliche Ebene des Unterrichts“ (Asbrand et al. 2013, S. 171) und deren Erweiterung um die Analyse der Bedeutung der Dinge in schulischen Lehr-Lernprozessen. Mit Latour gehen sie davon aus, dass die S*S im Unterricht mit den Dingen Verbindungen (Assoziationen) eingehen. Diese Mensch-Ding-Verbindungen bringen neue Aktanten hervor, denen neue Handlungsmöglichkeiten zukommen (ebd., S. 179). Diese Form der Mensch-Ding-Assoziation, in der Menschen Dinge rekrutieren, um mit ihnen eine Verbindung einzugehen, bezeichnet Latour als Interferenz (Latour 2002, S. 217 f.). Auch soziale Handlungen können an Dinge delegiert werden und durch diese räumlich wie zeitlich getrennt von der unmittelbaren menschlichen Tätigkeit ausgeführt werden (Latour 2002, S. 211 ff.). So kann die Lehrkraft ihr fachliches Wissen und die Arbeitsaufträge für die S*S im Rahmen der Unterrichtsplanung stellvertretend auf Arbeitsblätter oder das vorbereitete Unterrichtsmaterial übertragen. Im Falle von Aufgaben aus einem Schulbuch – oder, wie in dieser Studie, einer von Dritten vorgegebenen Unterrichtsplanung – wären die delegierenden Personen nicht einmal an der unterrichtlichen Interaktion beteiligt (Asbrand und Martens 2018, S. 126).

Analyse

Im Folgenden werden die Phase des Experimentierens und die Hinführungs- und Sicherungsphasen analysiert. Im ersten Abschnitt werden die unterschiedlichen Orientierungen der S*S im Hinblick auf Experimente und gemeinsames Experimentieren herausgearbeitet und im zweiten Abschnitt den Orientierungen der Lehrkraft gegenübergestellt. Aufgrund der besonderen Beschaffenheit des Experimentierhandelns ist zu erwarten, dass hier typische, für die Naturwissenschaftsdidaktik einschlägige Vorstellungen rekonstruiert werden können. Die Analyse selbst erfolgt streng sequenziell, beginnend mit der Begrüßung der S*S durch die Lehrkraft. In diesem Kapitel beginnen wir aber zunächst mit den Experimenten und gehen danach, anhand der Einstiegs- und Sicherungsphase, auf die Passung zwischen den Orientierungen von Lehrkraft und S*S ein. Kursiv und in eckigen Klammern werden die analysierten Orientierungen festgehalten, die im Diskussionsteil erneut aufgegriffen werden.

Experimentieren in Gruppen

Die Phase der gemeinsamen Experimente beginnt damit, dass die S*S sich Schutzbrillen holen, das Material zum Arbeitsplatz bringen, auspacken und auf einer feuerfesten Unterlage anordnen. Ihr Vorgehen dokumentiert, dass die S*S diese Form der Zusammenarbeit kennen und darin bereits eine gewisse Routine haben. So werden Sicherheitshinweise, wie das Aufsetzen einer Schutzbrille, z. T. lediglich durch einen stummen Impuls kommuniziert.

Die S*S sprechen darüber, was sie zum Experimentieren benötigen. Während der Vorbereitung des Arbeitsplatzes werden zugleich Aufgaben und Handlungsabläufe geplant und abgestimmt (Kerze anzünden, Thermometer inspizieren, Schutzbrillen holen). Mm übernimmt in Gruppe 1 (Abb. 2) mit großer Selbstverständlichkeit die Führungsrolle: Durch verbale wie nonverbale Aufforderungen und die Herstellung einer bestimmten räumlichen Ordnung auf dem Arbeitstisch macht er seinen Führungsanspruch deutlich: die feuerfeste Unterlage, ein Teelicht und die beiden Bechergläser werden von ihm symmetrisch auf zwei gegenüberliegenden Ecken der Unterlage aufgestellt (Abb. 3). Lf und Kf bleiben eher passiv, beobachtend und greifen vereinzelt, durch Anweisungen korrigierend, in das Geschehen ein.

Abb. 3
figure 3

Transkript Gruppe 1, 04:01–04:06

Auf kommunikativer Ebene findet eine sachliche Auseinandersetzung darüber statt, wie das Material eingesetzt werden kann. Dabei benennen die S*S explizit das Ziel, die Übergänge der Aggregatzustände handelnd zu realisieren. Fragen werden zunächst aneinander gerichtet, die Zusammenarbeit besteht im Zeigen und Hinweisen. [Orientierung 1: Kooperation beim gemeinsamen Experimentieren bedeutet sachliche Auseinandersetzung und Aushandeln.].

Während die Interaktionen und wechselseitigen Hilfestellungen in Gruppe 1 weitgehend gleichberechtigt wirken, spielt sich in Gruppe 3 folgende Szene ab: Nm wird durch Rf angeleitet, das Becherglas mit den Eiswürfeln korrekt über der Kerzenflamme zu schwenken, indem sie es ihm aus der Hand nimmt und den richtigen Bewegungsablauf zeigt (siehe Abb. 4).

Abb. 4
figure 4

Transkript Gruppe 3, 04:37–04:49. (Spezielle Transkriptionsregeln: „@“ kennzeichnet ein Lachen oder eine lachend gesprochene Äußerung; „(2)“ steht bspw. für eine zweisekündige Pause)

Auf kommunikativer Ebene lassen sich hier zwei Momente unterscheiden: Die Szene könnte zunächst als Unterstützungssituation interpretiert werden, zugleich ist aber auch ein Moment der Bevormundung im Handeln von Rf zu erkennen. Folgt man Breidensteins (2006, S. 195) Unterscheidung von Hilfe und Unterstützung, so handelt es sich bei dieser Sequenz eher um eine Situation der verweigerten Hilfe: Die Frage, wie Hilfe geleistet und angenommen werden kann, lässt sich an dieser Sequenz in ihrer ganzen Ambivalenz nachvollziehen: Nm nimmt die Intervention von Rf zur Kenntnis, hält das Becherglas aber anschließend unverändert starr über die Kerzenflamme und kommentiert ihr Handeln mit den Worten: „Boah, richtiger Profi hier.“ Ein ironischer Tonfall begleitet diese Feststellung (kombiniert mit dem staunenden Ausdruck „boah“), die von Rf mit einem Lachen aufgenommen wird. Rf entgegnet: „Ja, ich bin doch ein Profi!“, und kommentiert damit selbst wiederum die ironische Infragestellung ihrer Intervention als unpassend („doch“). Rf übergibt nach kurzer Übernahme das Material an Nm, nimmt also lediglich kurzfristig eine anleitende, helfende Rolle ein. Nm übernimmt nun seinerseits eine scheinbar unterstützende, wenn nicht gar helfende Rolle, indem er Rf darauf hinweist: „Du blutest in der Nase aber“ – und lenkt damit die Aufmerksamkeit von der Experimentiersituation auf Rf und deren vermeintliches Problem. (Ob die Nase tatsächlich blutet, ist in der videographierten Szene nicht erkennbar.) [Orientierung 2: Helfen beim gemeinsamen Experimentieren als Überlegenheit, Hilfebedarf als Defizit.].

Wie Gruppe 1, wird auch Gruppe 2 rasch aktiv, wobei die aufgenommenen Tätigkeiten noch stärker durch den unmittelbaren Aufforderungscharakter der Dinge angetrieben erscheinen: Die Kerze wird entzündet, das Thermometer ausgepackt und untersucht, Eiswürfel werden auf Bechergläser verteilt. Bezüglich der Aggregatzustände werden weder Erwartungen formuliert, was zu beobachten sein wird, noch findet eine Verständigung über das Handlungsziel statt. Statt eines arbeitsteiligen Vorgehens ist eher eine gewisse Konkurrenz um die Gegenstände und deren Handhabung zu beobachten [Orientierung 3: gemeinsames Experimentieren als Konkurrenz.].

Rm nimmt das Becherglas mit den Eiswürfeln, hält es über die Flamme und wird sogleich von Cm dabei unterbrochen, der ihn auffordert, zu warten, das Becherglas abstellt und dann das Thermometer in das Teelicht hält, das er zuvor Jm aus der Hand genommen hat. Alle drei beobachten und lesen gemeinsam die Temperatur ab (Abb. 5). Obwohl die Messung am Eis stattfindet, vermutet Jm zunächst einen Anstieg der Temperaturanzeige. Cm weist darauf hin, dass „das“ sinkt.

Abb. 5
figure 5

Transkript Gruppe 2, 02:02–02:16

Auf kommunikativer Ebene besteht das gemeinsame Experimentieren der S*S im wechselseitigen Korrigieren und Hinweisen auf Vorgehensweisen und Beobachtungen. Beobachten lässt sich zudem der explizite Wunsch, bestimmte Materialien selbst in der Hand zu halten oder bestimmte Operationen selbst ausführen zu können. Auf konjunktiver Ebene besteht ein Wissen darüber, dass bestimmte Gegenstände gesichert werden müssen – dass gemeinsames Experimentieren auch eine Konkurrenzsituation ist, und zwar sowohl um begehrte Gegenstände wie um die beste Deutung einer Beobachtung. [Orientierung 3: gemeinsames Experimentieren als Konkurrenz.].

Zunächst schlägt Nm vor, die Eiswürfel zu schmelzen, während er das Becherglas mit den Eiswürfeln über das noch nicht entzündete Teelicht hält. Er schaut dabei sowohl kurz zu Km als auch mehrere Male in Richtung der Lehrkraft, bevor er beginnt, das Teelicht mit Hilfe eines Streichholzes zu entzünden. Diese Tätigkeit begleitet er mit der Äußerung: „Bin wieder schlau am Start“, worin sich auf kommunikativer Ebene eine gewisse Zielstrebigkeit und Handlungssicherheit ausdrückt, aber evtl. auch eine gewisse Unsicherheit und ironische Distanziertheit. Anschließend hält er das Becherglas mit den Eiswürfeln über die Kerzenflamme und geht der angekündigten Tätigkeit – dem Schmelzen – nach.

Auf konjunktiver Ebene lassen sich hier zwei Orientierungen bezüglich des Experimentierhandelns rekonstruieren, die auch in der Einleitungsphase und in anderen Gruppen gefunden wurden: Es besteht unausgesprochene Einigkeit darüber, dass erst eine positive Rückmeldung der Lehrkraft den eigenen Versuch als „schlau“ auszeichnen kann – und dass daher die Lehrkraft zu einer Bewertung oder Bestätigung angeregt werden muss. [Orientierung 4: Die Lehrkraft entscheidet, welche Experimentierhandlungen richtig sind.] Die S*S nehmen den unklaren „Forschungsauftrag“ an, handeln mit dem Material: geben Flüssigkeiten zusammen und nutzen das Thermometer, das Teelicht oder das heiße Wasser. [Orientierung 5: Experimente sind physische Aktivität.].

Die Lehrkraft antwortet auf Nachfragen der S*S mit offenen Formulierungen: „Ihr habt genug Zeit, alles selber herauszufinden“ – und verweist damit nicht auf ein bestimmtes Ziel, sondern auf das Zeitmanagement.

Die S*S beobachten, wie im heißen Wasser die rote Flüssigkeit im Thermometer rasch nach oben steigt (siehe Abb. 6). Sie weisen einander auf die Beobachtung hin. Km erfragt das Ergebnis: „Wie viel Grad wissen wir?“, worauf Rf feststellt: „Wir sind fertig“.

Abb. 6
figure 6

Transkript Gruppe 3, 05:03–05:34

Wie zuvor fragt Nm: „Ist das schlau?“ – und wendet sich dabei der Lehrkraft zu. Auch die anderen Gruppenmitglieder blicken zur Lehrkraft. Die Lehrkraft geht allerdings nicht auf den Messwert ein, sondern regt an, dass sie doch erst einmal alles „fertig machen“ und die Anordnung auf ihrem Schaubild prüfen sollten. Sie impliziert damit, dass die Gruppenarbeit noch nicht beendet ist. Die S*S akzeptieren diese Rückmeldung. Auch hier liegt ein konjunktiver Erfahrungsraum vor, der sich auf das Zeitmanagement bezieht: Beim Schülerversuch geht es auch darum, eine bestimmte Zeit mit der zu erledigenden Aufgabe beschäftigt zu sein. Das Experimentieren kann nicht vor der Zeit „fertig“ sein [Orientierung 6: Experimente sind Beschäftigung über eine bestimmte Zeitdauer.].

Erklärungsbedürftig ist, warum der abgelesene Wert – „Fertig, du bist über sieben.“ – bei den S*S keine Verwunderung auslöst: Entweder kennen die S*S die Lösung der Aufgabe nicht, oder die S*S stellen keine Verknüpfung zum Vorwissen oder zu ihren Vermutungen her – und damit zur Vorarbeit mit dem Schaubild. Die abgelesenen Messwerte werden beiläufig zur Kenntnis genommen und nur von einer einzigen Gruppe an einer Stelle als erwartungswidrig problematisiert. Die erhaltenen Ergebnisse der Temperaturmessung werden damit scheinbar zur Nebensache [Orientierung 7: Experimente liefern keine bedeutsamen Ergebnisse.].

Eine Spielart der Orientierung 4 [Die Lehrkraft entscheidet, welche Experimentierhandlungen richtig sind.] findet sich in vielen Gruppen: die Suche nach Bestätigung durch die anderen Gruppen, so z. B. in Gruppe 4 (Transkript 05:05):

Ef: […] Die machen au- die machen alle das Glas über die Kerze.

Während des Experimentierens ist in allen Gruppen eine hohe Aktivität der S*S zu beobachten [Orientierung 5: Experimente sind physische Aktivität]. Die Interaktionen und damit auch Diskussionen und Auseinandersetzungen der Lernenden während des Experimentierens dokumentieren sich in allen Gruppen vor allem in Handhabungsfragen (Was wird wie verwendet?) oder bezüglich des Vorgehens (Was wird wo hineingegeben? In welcher Reihenfolge? Wann, von was und wie lange wird die Temperatur von etwas ermittelt?) [Orientierung 1: Kooperation beim gemeinsamen Experimentieren bedeutet sachliche Auseinandersetzung und Aushandeln]. Das Schaubild wird in den analysierten Gruppen selten bis gar nicht rekrutiert bzw. berücksichtigt. Die gemäß der Planung beabsichtigte Delegation der Aufforderung zu einem Wechsel zwischen der begrifflichen Ebene (fest-flüssig, Erstarren-Schmelzen usw.) und den im Schülerversuch zugänglichen Phänomenen an das Schaubild spiegelt sich im Agieren der S*S nicht wider.

Einstiegs- und Sicherungsphase: Passung der rekonstruierten Orientierungen zu den Orientierungen der Lehrkraft

In diesem Abschnitt stellen wir die rekonstruierten Orientierungen der S*S den Orientierungen der Lehrkraft gegenüber. Wir gehen damit über von der Analyse der Schülervorstellungen beim gemeinsamen Experimentieren zur Analyse der Gesamtsituation des Unterrichts (einschließlich der Lehrperson) und beginnen mit der Einstiegsphase:

Zu Beginn des Unterrichts zeigt die Lehrkraft am Beamer das Bild eines in der Sonne schmelzenden Speiseeises. Die S*S greifen diese Proposition auf und elaborieren diese, indem sie erste Vermutungen anstellen, die nicht weiter kommentiert werden. Die Lehrkraft beendet die Sequenz und fährt mit einer Anschlussproposition fort:

Lm: Okay (.) Ihr habt alle schon sehr viele richtige Sachen gesagt (.) uuund heute solls genau um diesen Fall gehen (.) genau das habt ihr auch gesagt (.) ihr sollt das rausfinden (.) (Transkript Lehrkraftkamera, 01:40–02:15)

Es folgt eine längere Phase, in der aus Sicht der Lehrkraft der Auftrag geklärt wird. Abschließend sagt die Lehrkraft:

Lm: Ihr könnt jetzt Experimente durchführen, von denen ihr glaubt, dass sie euch weiterbringen. Dürft ihr ganz selber entscheiden. (Transkript Gruppe 3, 02:34–02:39)

Auf kommunikativer Ebene wird den S*S freigestellt, was und wie sie experimentieren. Wie oben gezeigt wurde, entspricht dies auch dem Verhalten der S*S. Diese verstehen „Experimentieren“ offenbar als Aufforderung zum Handeln und zu physischer Aktivität [Orientierung 5: Experimente sind physische Aktivität.]. Dabei arbeiten die S*S sich an der wahrgenommenen Aufgabe ab, auch wenn die Diskussionen innerhalb der Gruppen zeigen, dass den S*S das Ziel nicht immer klar ist. [Orientierung 8: Experimente sind eine zu erledigende Aufgabe].

Zugleich drückt die Proposition der Lehrkraft einen Vorbehalt aus: Der Nebensatz, „von denen ihr glaubt“, impliziert, dass die letzte Entscheidung darüber, ob die Experimente sinnvoll und zielführend sind, bei der Lehrkraft liegt. Dieser verbal sich andeutende Vorbehalt gegenüber den Ergebnissen der Gruppenarbeiten wird in der Sicherungsphase erneut auftauchen und steht in Passung zu den Vorstellungen der Schüler*innen [Orientierung 4: Die Lehrkraft entscheidet, welche Experimentierhandlungen richtig sind.].

Am Ende der Experimentierphase teilt die Lehrkraft in beiden Klassen Magnetkarten an die einzelnen S*S aus. Auf den Karten sind bereits Temperatur-Werte eingetragen. In der ersten Klasse beendet die Lehrkraft die Sicherungsphase, indem sie das gewünschte Ergebnis bestätigt. In der zweiten Klasse entwickelt sich ein Unterrichtsgespräch, bei dem erst im gemeinsamen Gespräch die von der Lehrkraft gewünschte Anordnung der Begriffe erreicht wird. Die von der Lehrkraft am Ende der Experimentierphase ausgeteilten Magnetkarten strukturieren die Sicherung so weit vor, dass es keines Vergleichs der Ergebnisse bedarf, um die korrekten Messwerte, Bilder und Begriffe gemeinsam an der Tafel zusammenzutragen. Auf diese Weise wird die Relevanz der von den S*S gemessenen Werte weiter eingeschränkt. [Orientierung 7: Experimente liefern keine bedeutsamen Ergebnisse; Orientierung 4: Die Lehrkraft entscheidet, welche Experimentierhandlungen richtig sind.].

Nachdem in der zweiten Klasse die Anordnung der Begriffe für die Übergänge zwischen den Aggregatzuständen an der Tafel ins Stocken gerät, weist die Lehrkraft zunächst darauf hin, dass noch Karten (und damit bestimmte Begriffe) fehlen. Daraufhin heften die S*S weitere Karten an. Eine Schülerin weiß nicht, wo sie ihre Magnetkarte hinhängen soll, und steht in der Mitte an der Tafel. Die Lehrkraft bemerkt daraufhin: „Wer Hilfe braucht, kann sie sich holen“. Auf kommunikativer Ebene wird die Schülerin ermutigt, sich Unterstützung zu holen. Ihr Zögern und ihre Körperhaltung drücken jedoch Unwohlsein und eine gewisse Scham aus. Andere S*S melden sich. Die Ambivalenz des Helfens (siehe Abschn. Experimentieren in Gruppen) wiederholt sich hier: Auf kommunikativer Ebene bieten die Mitschüler*innen ihre Hilfe an, positionieren sich aber zugleich gegenüber der Lehrkraft und ihrer Mitschülerin als (Mehr‑)Wissende und Überlegene. [Orientierung 2: Helfen beim gemeinsamen Experimentieren als Überlegenheit, Hilfebedarf als Defizit.].

Der Irrelevanz der ermittelten Messergebnisse auf kommunikativer Ebene entspricht in diesem Arrangement ein konjunktives Wissen der S*S, worauf es bei Experimenten ankommt: Dies dokumentiert sich u. a. darin, wie die vorgegebenen Ergebnisse hingenommen werden und im Ausbleiben des Rückbezugs auf die eigenen Ergebnisse und Beobachtungen. Beides zeugt von einem konjunktiven Erfahrungsraum „Experimentieren im Naturwissenschaftsunterricht“, in dem gilt, dass die Ergebnisse der Experimente nicht entscheidend sind, weil diese ohnehin feststehen. [Orientierung 7: Experimente liefern keine bedeutsamen Ergebnisse.] Die Experimente werden zu einer zu erledigenden Aufgabe [Orientierung 8], zu einer mehr oder weniger ausgedehnten physischen Aktivität [Orientierung 5], deren Ziel – entgegen der explizit geäußerten Aufgabenstellung – nicht darin besteht, selber etwas herauszufinden, sondern sich über eine gesetzte Zeit mit gegebenen Geräten und Materialien zu beschäftigen [Orientierung 6].

Zusammenfassung der rekonstruierten Orientierungen

Insgesamt wurden acht Orientierungen rekonstruiert, die einen Einblick liefern, welche Vorstellungen zum gemeinsamen Experimentieren die Lernenden mitbringen oder sich im Unterricht herausgebildet haben:

  • O1: Kooperation beim gemeinsamen Experimentieren bedeutet sachliche Auseinandersetzung und Aushandeln.

  • O2: Helfen beim gemeinsamen Experimentieren als Überlegenheit, Hilfebedarf als Defizit.

  • O3: Gemeinsames Experimentieren als Konkurrenz.

  • O4: Die Lehrkraft entscheidet, welche Experimentierhandlungen richtig sind.

  • O5: Experimente sind physische Aktivität.

  • O6: Experimente sind Beschäftigung über eine bestimmte Zeitdauer.

  • O7: Experimente liefern keine bedeutsamen Ergebnisse.

  • O8: Experimente sind eine zu erledigende Aufgabe.

Diskussion

Fachdidaktische Unterrichtsforschung zielt auf empirisch belastbare Aussagen über die Voraussetzungen, den Verlauf, die Förderung und die Ergebnisse gegenstandsbezogener Lehr-Lernprozesse (Schecker et al. 2018). Rekonstruktive Forschungsmethoden wie die DM fokussieren hingegen jenseits didaktischer Bewertungen die Sicht der Subjekte auf das Unterrichtsgeschehen, ohne anhand deduktiver Ableitungen – etwa auf Basis externer Geltungskriterien wie die fachliche Richtigkeit oder fachdidaktische Qualitätskriterien – das Material zu deuten und zu beurteilen (Martens et al. 2022, S. 7 f.). Die dabei rekonstruierten Orientierungen beanspruchen keine Allgemeingültigkeit, sondern sind zunächst dadurch bedeutsam, dass sie anhand konkreter Unterrichtssituationen rekonstruiert werden können.

Bohnsack spricht in diesem Zusammenhang von der „Einklammerung des Geltungscharakters“ (Bohnsack 2014, S. 65) der zu interpretierenden Darstellungen, bei denen nicht interessiert, ob diese faktisch wahr oder falsch sind, sondern „was sich in ihnen über die Darstellenden und deren Orientierungen dokumentiert“ (ebd.; Hervorhebung im Original). Es ist aber selbstverständlich möglich und im Hinblick auf unsere Forschungsfrage (siehe Abschn. Forschungsfrage und methodisches Vorgehen) auch notwendig, nach Abschluss der Analyse die erhaltenen Ergebnisse vor dem Hintergrund fachlicher oder fachdidaktischer Ziele zu diskutieren.

Im Anschluss an Bonnet (2009, S. 224) und Bohnsack (2020, S. 47) gehen wir davon aus, dass auch in der „kollektiven Praxis“ der temporären Gemeinschaft einer Unterrichtsstunde oder Unterrichtsreihe ein eigenes Milieu entstehen kann, das einen konjunktiven Erfahrungsraum konstituiert und bestimmte Schülervorstellungen hervorbringt (vgl. ebd., S. 49). Für die Bedeutsamkeit der mittels der DM erhaltenen Ergebnisse bedeutet dies, dass in strukturanalogen Unterrichtssituationen ähnliche Orientierungen zu erwarten sind, aus denen sich gegebenenfalls allgemeingültige Hypothesen ableiten ließen, z. B. darüber, in welchem Zusammenhang bestimmte Orientierungen mit bestimmten Unterrichtsarrangements stehen. So können die mit der DM erhaltenen Ergebnisse ihrerseits die Basis hypothesentestender Untersuchungen bilden.

Potenziale und Grenzen der Dokumentarischen Methode für die fachdidaktische Forschung

Die Bedeutung von Schülervorstellungen für das Lernen im naturwissenschaftlichen Unterricht ist mittlerweile unstrittig. Die Erforschung von Schülervorstellungen bezieht sich dabei in der Regel auf das explizite Wissen der Lernenden über naturwissenschaftliche Phänomene und Sachverhalte und bleibt oft zusätzlich beschränkt auf die Analyse verbalsprachlichen Handelns. Mit der wissenssoziologisch fundierten DM werden auch Handlungen und soziale Praktiken, wie das gegenständliche Handeln von S*S beim Experimentieren, als wissensstrukturierte Domänen erforschbar (vgl. Martens et al. 2022, S. 6). In der vorliegenden Studie wurde das handlungsleitende Wissen von Lernenden bei der gemeinsamen Durchführung von Experimenten anhand der Analyse von Videoaufzeichnungen rekonstruiert. Die rekonstruierten Orientierungen ermöglichen ein vertieftes Verständnis typischer Handlungsabläufe und Reaktionen der S*S. Fachdidaktisch gewendet können die Ergebnisse dabei helfen, Strategien zu entwickeln, um den Unterricht vor dem Hintergrund dieses impliziten Wissens so anzupassen, dass Kooperation und gemeinsames Lernen gelingen. Die rekonstruierten Orientierungen zum gemeinsamen Experimentieren sind Teil der zu berücksichtigenden Lernausgangslagen und damit eine wesentliche Voraussetzung, um das Handeln der Schüler*innen während des gemeinsamen Experimentierens besser zu verstehen und auf dieser Basis Planungsentscheidungen zu treffen und zu begründen.

Offenheit und Strukturierung beim Experimentieren

Die Analyse in Abschn. Einstiegs- und Sicherungsphase hat gezeigt, dass bestimmte unterrichtsorganisatorische Routinen eines offenen, gemeinsamen Unterrichts bei Lehrkraft wie S*S in Passung zueinander stehen: Die S*S beginnen die Arbeit relativ unmittelbar und selbstständig (O5, O6, O8). Zugleich dokumentiert sich sowohl im Handeln der S*S wie im Handeln der Lehrkraft eine gewisse Gleichgültigkeit gegenüber den tatsächlichen Versuchsabläufen und -ergebnissen (O4, O7). Unterrichtsorganisatorische Routinen und die Erfüllung wechselseitiger sozialer Erwartungen an das Unterrichtsgeschehen stehen hier einer experimentell-forschenden Lernhaltung entgegen und verhindern letztlich eine konsequente und wertschätzende Auseinandersetzung mit fachlichen Konzepten, wissenschaftlichen Praktiken und Fragestellungen.

Auf die wiederholte Frage der S*S nach der fachlichen Bewertung und Einordnung ihres experimentellen Handelns, reagiert die Lehrkraft in verschiedenen Situationen eher vage:

Lm: Die Experimente- (–) legt ihr selber fest. (Transkript Lehrkraftkamera, 41:28–41:30)

Aussagen wie diese verweisen die S*S auf eine vermeintliche Entscheidungsfreiheit, die sie in den untersuchten Sequenzen jedoch kaum nutzen können, da ihnen sowohl ein fachlich klar strukturiertes Handlungsziel als auch ein entsprechender, an einer experimentellen Haltung orientierter Handlungsrahmen fehlen, um die Versuche eigenständig durchzuführen und auf eigenen Wegen zu kreativen Lösungen zu gelangen. Stattdessen rekurriert die Lehrkraft immer wieder auf das Material und das vorgegebene Schaubild. Beides liefert jedoch keine hinreichende Strukturierung für die S*S. Da die Ergebnisse der Experimente auf fachlicher Ebene nicht offen sind (O7), sondern die gewünschten Resultate zu den Übergängen der Aggregatzustände bereits vorab feststehen, sind die offenen Impulse der Lehrkraft in sich widersprüchlich (O4).

Hier zeigt sich exemplarisch ein kontraproduktives Zusammenwirken von Lehrhabitus und Orientierungen der S*S (vgl. Abschn. Kooperation in der fachdidaktischen Forschung, Bohnsack 2020): Während die Lehrkraft explizit die didaktische Idee eines forschend-entdeckenden Lernens verfolgt, zeigen die S*S durch ihr Verhalten, dass sie die impliziten Spielregeln der Unterrichtsstunde durchschaut und verinnerlicht haben: Sie dürfen zwar frei mit dem Material agieren, aber die Lehrkraft erwartet von ihren Experimenten keine relevanten, neuen oder überraschenden Ergebnisse. Höttecke und Rieß (2015) stellten die Frage nach der Authentizität von Schulexperimenten im Sinne ergebnisoffener Forschungsprozesse – die hier rekonstruierten Vorstellungen der S*S zum Experimentieren belegen exemplarisch das von ihnen konstatierte Problem mangelnder Authentizität. Eine mögliche Konsequenz könnte darin bestehen, im naturwissenschaftlichen Unterricht ein Verständnis von Experimenten zu vermitteln, dass deren kontingenten Charakter und begrenzte Planbarkeit berücksichtigt (vgl. ebd., S. 136).

Lernwirksame Gestaltung kooperativen Experimentalunterrichts

Kooperation wird in den von uns analysierten Videosequenzen von der Lehrkraft nur in einer sehr allgemeinen und abstrakten Weise initiiert oder eingefordert:

Lm: Dürft ihr euch nen Experimentierkasten holen, wenn: eure Gruppenmitglieder dann fertig [sind, experimentiert] ihr zusammen, ja …

Aus unserer Analyse der Gruppenarbeiten wird deutlich, dass die Situation zwar bestimmte handlungsleitende Orientierungen wachruft (z. B. O3, O5, O8), dass die S*S aber jenseits praktischer Arbeitsteilung (z. B. Material holen, O6) über wenig Wissen verfügen, um die Kooperation ertragreich zu gestalten.

In den analysierten Gruppenarbeiten finden sich aber auch zahlreiche Momente gelingender Kooperation und gemeinsamen Lernens: In zwei Gruppen (Gruppe 1 & 2) kommt es während des Experimentierens zu längeren Phasen praktischer, fachlich orientierter Interaktionen, etwa zu der Frage, wie das Thermometer zu gebrauchen ist oder wie bestimmte Zustandsübergänge im Versuch zu realisieren sind. In allen Gruppen sind sehr ähnliche Interaktionen mit den materiellen Dingen zu beobachten. So sind alle Gruppen schon nach den ersten Minuten der Experimentierphase dabei, einen Eiswürfel im Becherglas über der Kerzenflamme zu schmelzen und das Thermometer an verschiedene Stellen im Wasser, am Eis, in der Kerzenflamme oder auch in der Luft zu halten (O5). Dies verweist zunächst auf ein alltagspraktisches oder unterrichtspraktisches Wissen, wie diese Materialien üblicherweise verwendet werden. Dieser Umstand birgt ein großes didaktisches Potenzial, gezielt auf diesem Wissen aufzubauen und die aus fachlicher Sicht erwünschten Tätigkeiten mit den selbstläufigen Mensch-Ding-Assoziationen im Sinne Latours (siehe Abschn. Kooperation in der fachdidaktischen Forschung) zu verknüpfen, die sich in der weitgehend spontanen Auseinandersetzung mit deren Aufforderungscharakter dokumentieren.

Unterschiede zwischen den S*S, was das Vorwissen über den fachlich korrekten Gebrauch von Messinstrumenten und Laborgeräten betrifft, können genutzt werden, um S*S anzuregen, ihre Vorstellungen untereinander zu teilen, sich Verwendungsweisen gegenseitig zu erklären und darüber auszutauschen (O1). Hier wären mehr Gelegenheiten einzuplanen, die im Sinne der in Abschn. Kooperation in der fachdidaktischen Forschung angesprochenen fachlichen Bedeutung von Kooperation in den Naturwissenschaften (Nature of Science; vgl. Höttecke und Hopf 2018), den kooperativen Charakter naturwissenschaftlicher Tätigkeiten als gemeinschaftlichen Aushandlungs- und Arbeitsprozess erfahrbar machen. Der Mehrwert fachbezogener Kooperation zeigt sich dabei u. a. in einer sinnvollen Verschränkung individueller Perspektiven und Wissensbestände: Lern- und Entwicklungsdifferenzen zwischen den S*S können produktiv gewendet werden, wenn sie zu bewussten Aushandlungsprozessen in Diskussionen oder im gemeinsamen Handeln führen, wie dies bei einigen der untersuchten Gruppen beobachtet wurde (etwa bezüglich des richtigen Gebrauchs des Thermometers oder beim Positionieren des Gefäßes über der Kerze zum Erhitzen), wo S*S einander geholfen oder Wissen weitergegeben haben (O2).

In den analysierten Unterrichtssituationen zeigt sich die allgemeine Schwierigkeit, dass sich fachlich adäquate Denk- und Handlungsweisen nicht von selbst durchsetzen. So stand zwar am Ende aller Aushandlungsprozesse in den Gruppen das Problem der korrekten Verwendung und Ausrichtung des Thermometers; oft wurde aber nicht lange genug – oder nicht an den richtigen Stellen – gemessen. In solchen Fällen sind gezielte Interventionen der Lehrkraft erforderlich. Ein Sich-Einlassen auf die konkrete Gruppensituation und die einzelnen S*S schafft die Voraussetzung für eine effektive Unterstützung durch die Lehrkraft. Darüber hinaus wäre es bereits bei der Unterrichtsplanung hilfreich, den S*S Strategien der fachlichen Kooperation und Kommunikation durch bestimmte Leitfragen zu vermitteln und sie dabei zugleich in die Grundlagen praktischen (natur-)wissenschaftlichen Arbeitens („Doing science“) einzuführen (Hodson 2014). Bell et al. (2010) formulieren beispielsweise Fragen, durch die das Potenzial kooperativen Lernens in Gruppen voll ausgeschöpft werden kann: „Was mache ich gerade?“, „Was verspreche ich mir davon?“, „Ist das sinnvoll, was meint ihr?“, aber auch: „Wie würde ein*e Wissenschaftler*in hier vorgehen?“, „Wie macht man das in einem Labor?“ Die in manchen Unterrichtssituationen eher kontraproduktive Konkurrenzförmigkeit des gemeinsamen Experimentierens innerhalb der einzelnen Gruppen (O3) würde auf diese Weise aufgehoben, indem die S*S konstruktive Unterstützung und kooperatives Handeln als wesentliches Moment naturwissenschaftlichen Erkenntnisgewinns erfahren.

Routinisierung und Schülerjob im Fachunterricht

Aus den Gruppenarbeiten konnte ein implizites Regelwissen der S*S zur Durchführung von Experimenten im Naturwissenschaftsunterricht rekonstruiert werden, das fachübergreifend als Orientierung an schematischen Unterrichtsroutinen beschrieben werden kann. Diese in verschiedener Hinsicht erwünschte Routinisierung, die auch in anderen Unterrichtsphasen in ausgeprägter Weise rekonstruiert werden konnte (etwa beim stummen Impuls zu Beginn des Unterrichts oder bei der Besprechung des Arbeitsauftrags) und in Passung zum Lehrhabitus der Lehrkraft steht, wird in den Gruppenarbeitsphasen zu einer unproduktiven Form der Erledigung des Schülerjobs, wie sie auch Breidenstein (2006) sowie Martens und Asbrand (2021) rekonstruiert haben. Ein in dieser Hinsicht auffälliger Aspekt ist die stetige Rückversicherung der S*S bei der Lehrkraft. Insbesondere beim Experimentieren erweist sich diese Orientierung als eher hinderlich sowohl für das fachliche Lernen als auch für Kooperationsprozesse. Dies gilt auch für den Umgang mit den vorbereiteten Arbeitsmaterialien: Statt direkt in das Messen einzusteigen, durchläuft z. B. Gruppe 1 zunächst die komplette Routine der Versuchsvorbereitung (alle Geräte und Chemikalien werden geholt, einschließlich kochendem Wasser und Eiswürfeln, alles wird ordentlich platziert), bis damit begonnen wird, die Temperatur des „kochenden“ Wassers zu bestimmen. Die Fokussierung auf Routinevorgaben führt dazu, dass die Gruppe am Ende eine deutlich niedrigere Temperatur misst, da das Wasser bereits abgekühlt ist. Zugleich führt diese Orientierung im Miteinander der Gruppen zu einer wechselseitigen Verpflichtung auf diese Ablaufvorgaben, die stellenweise den Charakter einer Gängelung annehmen kann. Ein Teil der Abarbeitung durch die S*S zeigt sich im titelgebenden Zitat: „Fertig, du bist über sieben“: Die S*S nutzen die Messwerte des Thermometers offensichtlich bestenfalls oberflächlich. Sie benötigen sie zu keinem anderen Ende als zur Feststellung, dass sie aufhören und die Arbeit einstellen können. Im Sinne Leontjews (1982, S. 223–282) fehlt ihrer Lerntätigkeit ein fachlich sinngebendes Motiv, das durch veränderte Erkenntnisziele und damit ein verändertes Erkenntnisinteresse eine Orientierung auf die fachliche Bedeutung der Ergebnisse des Experimentierhandelns initiiert.

Fachliche Bedeutung der Ergebnisse der Experimente

In der Rekonstruktion der Experimentierphasen konnte gezeigt werden, dass die S*S die Ergebnisse nicht hinterfragen, was von uns als Ausdruck der zuvor ausgeführten schematischen Aufgabenerledigung gelesen wurde (O5 bis O8). Diese Praxis verweist auf einen konjunktiven Erfahrungsraum „Experimentieren im Naturwissenschaftsunterricht“, der sich in der für diese Stunde gewählten Unterrichtsorganisation aktualisiert. Die S*S problematisieren die im Plenum vorgetragenen Ergebnisse nicht, obwohl es, wie in unserer Analyse dargestellt, aufgrund von Handhabungs- und Ablesefehlern (Abkühlung des kochenden Wassers, Fehlplatzierung des Thermometers) zu systematischen Abweichungen kommt und in der Experimentierphase deutlich andere Werte gemessen worden sind als dann an der Tafel gesichert werden.

Diese Beobachtung unterstreicht die Notwendigkeit, die mitunter problematische Funktion von Experimenten im Naturwissenschaftsunterricht zu reflektieren und empirisch weiter zu untersuchen (Höttecke und Rieß 2015, S. 136): Im Unterricht geht es in der Regel um „Ready-Made-Science“, also darum, ein bereits bekanntes Phänomen zu reproduzieren (z. B.: „Eis schmilzt bei über 0 °C“) und nicht darum, etwas Eigenes oder Neues herauszufinden, auch wenn das auf kommunikativer Ebene behauptet wird. Bei vielen Experimenten ist der untersuchte Sachverhalt für die S*S nicht einmal neu. Dass Wasser bei Raumtemperatur flüssig ist und bei 0 °C erstarrt, ist für die meisten S*S kein wissenschaftliches Rätsel (vgl. Gruschka 2012, S. 399). Betrachtet man die Experimente der S*S in dieser Perspektive, so könnte die tatsächliche Aufgabe der Unterrichtsstunde darin bestehen, auf möglichst „originelle“ oder „kreative“ Weise bereits vorhandenes Wissen mit dem Material zu demonstrieren. Damit geht jedoch erneut die Gefahr einher, dass Experimentierphasen zu einem „Schülerjob“ geraten, bei dem es darum geht, der Lehrkraft zu zeigen, dass der Aufgabe nachgegangen, das Material bespielt und ein sozial erwünschtes Ergebnis reproduziert wird (O6, O8).

In dem von uns analysierten Unterricht befinden sich die Orientierungen der Lernenden und der Lehrkraft teilweise in problemverstärkender Passung: Die Lernenden versuchen den Eindruck zu erwecken, als ob sie experimentieren und Ergebnisse produzieren würden und die Lehrkraft bezeugt auf kommunikativer Ebene ihr Interesse daran. Für den tatsächlichen Verlauf der Sicherung erweisen sich die Ergebnisse aber als irrelevant. Sandi-Urena et al. (2011) haben in quantitativen Untersuchungen wie in qualitativen Interviewstudien zeigen können, dass herausfordernde, problembasierte, in Gruppen durchgeführte Experimente auch die Metakognition über naturwissenschaftliche Erkenntnisgewinnung fördern können, allerdings nur im Falle von intensiver, bedeutungsvoller sozialer Interaktion. Der von uns rekonstruierte Lehrhabitus der Lehrkraft (O4) bewirkt hier gerade das Gegenteil und ist mitursächlich für die rekonstruierten Schülervorstellungen im Bereich der Natur der Naturwissenschaften. McComas et al. (2002) haben eine Reihe von wünschenswerten Zielen für den Lerngegenstand Nature of Science formuliert, etwa dass wissenschaftliche Erkenntnisse zwar dauerhaft sind, aber lediglich vorläufigen Charakter haben (vgl. ebd., S. 6). Wenn S*S allerdings im Unterricht erleben, dass die Experimente nicht als Weg zur Gewinnung von Ergebnissen ernst genommen werden (O7), werden diese Ziele konterkariert.

Eine im Kontext diversitätssensiblen Unterrichts relevante Frage, zu der die DM einen wichtigen Beitrag leisten kann, besteht in der Untersuchung der Überlagerung unterschiedlicher konjunktiver Erfahrungsräume. Denn in der Schule spielen sowohl solche konjunktiven Erfahrungsräume eine Rolle, die auf zurückliegenden gemeinsamen Erfahrungen beruhen (z. B. milieuspezifische Erfahrungen, Gender, Ability oder habituelle Prägungen), als auch solche, die sich in der unmittelbaren gemeinsamen Interaktion einstellen. Hier lässt sich eine Unterteilung von Fachunterricht in diverse Mikromilieus (Schulen, Klassen, Kleingruppen, Dyaden) rekonstruieren (Tesch 2018). Die Rekonstruktion der sich aus dem Zusammenspiel dieser konjunktiven Erfahrungsräume ergebenden fachlichen wie kooperationsbezogenen Orientierungen kann dabei helfen, Lernangebote und Unterrichtsarrangements, unter Beachtung eben dieser Orientierungen, fachdidaktisch lernwirksam zu gestalten.