Zusammenfassung
Mit der Etablierung der Ganztagsschulen in Deutschland wird das Mittagessen in der Schule zunehmend Normalität. Hierbei profilieren sich derzeit Ökotrophologie, Gesundheitswissenschaften, Agrarwissenschaften und Marktforschung als hegemoniale Fachakteure. Gar keine oder bestenfalls eine Nebenrolle spielen bislang Erziehungswissenschaften und Sozialpädagogik, obwohl das Essen in ihren eigenen Institutionen stattfindet. Dies hat Folgen für die wissenschaftliche Auseinandersetzung und die Praxisentwicklungen zur Schulverpflegung. Der Beitrag rekonstruiert erstens die aktuelle Diskurs- und Forschungssituation, die durch normative Überschüsse und wenig qualitative Empirie zur profanen Alltagspraxis des Schulessens gekennzeichnet ist. Zweitens liefert er Anregungen für eine neue sozialpädagogisch basierte Forschung und Praxisentwicklung zum Schulessen.
Abstract
With the growing establishment of full-time schools in Germany, school-meals become more normal. A leading role thereby are playing dietetics, health sciences, agronomics and market research. If at all paedagogics and social work play a very minor role, although the meals take place in paedagogical institutions. This has consequences for the scientific debate and the practical development of school meals. The paper reconstructs first of all the current scientific discussion and the research situation, which is characterized by normative surplus and little qualitative research on the daily practice of school meals. Secondly the paper formulates ideas for a new social work based research and practical development of school meals.
Notes
Die Ernährungspyramide ist ein verbreitetes visuelles Schema, mit dem die empfohlenen Tagesrationen der verschiedenen Lebensmittel dargestellt werden: Lebensmittel, die nur in geringen Maßen erlaubt sind (Fett, Zucker, Alkohol usw.) stehen in der Spitze der Pyramide, solche, die in großen Mengen gegessen werden sollen (Getreide, Gemüse usw.) an der Grundlinie.
Die Szene entstammt einem Seminar zu den pädagogischen Grundlagen Sozialer Arbeit, das die durchgeführt hat.
Der Medienskandal um die Schlachtung eines Kaninchens in einer norddeutschen Schule im Frühjahr 2011 offenbart exemplarisch die Paradoxie dieser Vorgänge (Rose2011).
Nach einer Studie in sächsischen Schulen (vgl. Freistaat Sachsen2010) wird in über 90 % der Schulen das Essen im Caféteria-Stil an einer Theke ausgegeben. Nur in 3 % der Schulen wird Essen auf Gemeinschaftstische aufgebracht.
Zu nennen ist hier beispielsweise die Initiative der Slow-Food-Pionierin Alice Waters zum „essbaren Schulhof“ in der Martin Luther King School in Berkeley, USA (USA – Der essbare Schulhof2009).
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Rose, L. Essen in der Schule. Soz Passagen 4, 231–246 (2012). https://doi.org/10.1007/s12592-012-0111-5
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