Skip to main content
Log in

Die Krisenmechanismen des Grundgesetzes im Wandel der Bedrohungslagen. Was ist und wozu taugt die Notstandsverfassung?

The Crisis Mechanism of the German Basic Law Against the Backdrop of Changing Threat Situations. What is the Emergency Constitution and of what use is it?

  • Essay
  • Published:
Zeitschrift für Außen- und Sicherheitspolitik Aims and scope Submit manuscript

Zusammenfassung

Die Notstandsverfassung, Teil des Grundgesetzes, unterscheidet zwei Tatbestände des inneren und vier Tatbestände des äußeren Notstandes. Sie ist Geschöpf des Kalten Krieges. Heute zeigt sich die Welt, außen- und sicherheitspolitisch angespannt, ungleich komplexer. Neben militärische Szenarien treten transnationaler Terrorismus, Cyber-Attacken, Fake News-Kampagnen. Vollends sprengt hybride Kriegführung die hergebrachten Kategorien. Gleichwohl ist die Notstandsverfassung nicht unbrauchbar. Ist auch eine Grundgesetzänderung wohl nicht zu erwarten, steht doch der Weg der Auslegung offen.

Abstract

The Emergency Constitution, part of the German Basic Law, sets up two types of interior and four types of exterior states of emergency against the historical and political background of Cold War. Today the world is much more complex. The global situation seems tense and unpredictable. Besides military scenarios, there are terrorism, cyber-attacks and fake news-campaigns. Hybrid warfare completely goes beyond the scope of customary conceptions. Nevertheless, the Emergency Constitution has not lost its potency. Although it may not be amended, there is room for interpretation.

This is a preview of subscription content, log in via an institution to check access.

Access this article

Price excludes VAT (USA)
Tax calculation will be finalised during checkout.

Instant access to the full article PDF.

Notes

  1. Der in Art. 81 GG geregelte Gesetzgebungsnotstand bezeichnet eine Funktionsstörung innerhalb der Staatsorganisation und damit keinen eigentlichen Notstand.

  2. Im vorliegenden Artikel wird, abweichend vom ZfAS-Standard, bei personenbezogenen Substantiven die männliche grammatikalische Form verwendet. Dies geschieht vor allem, da die verwendeten Begriffe aus Gesetzestexten entlehnt sind. Der Autor schließt damit Personen weiblichen wie männlichen Geschlechts gleichermaßen ein.

  3. Zu Deutsch: „Fällt der Sinn eines Gesetzes fort, so fällt das Gesetz selbst fort“.

  4. Teils völlig überzogene Kritik kam insbesondere aus den Reihen der Opposition (Ackeret 2016).

  5. Carl Schmitt (1888–1985) hat die Unterscheidung von Normalzustand und Ausnahmezustand in den juridischen Diskurs eingeführt und mit den Schriften „Die Diktatur“ (1921), „Politische Theologie“ (1922) und „Die Diktatur des Reichspräsidenten nach Artikel 48 der Weimarer Verfassung“ (1927) die Begriffe bis heute geprägt.

  6. „Der Reichspräsident kann, wenn im Deutschen Reiche die öffentliche Sicherheit und Ordnung erheblich gestört oder gefährdet wird, die zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nötigen Maßnahmen treffen, erforderlichenfalls mit Hilfe der bewaffneten Macht einschreiten.“ – Reichsjustizminister Eugen Schiffer räumte 1920 ein, der Reichspräsident könne hiernach, wenn er es für erforderlich halte, eine deutsche Stadt mit Giftgas belegen lassen (zit. n. Schmitt 1921, S. 198).

  7. Durch das Denken von der Grenzsituation her werde das konkrete Leben (vgl. Eingangszitat) gerade verfehlt (Hesse 1955, S. 742).

  8. Nicht der Terror sei die Bedrohung, sondern die Lehre Carl Schmitts (Darnstädt 2008, S. 160-161).

  9. Der Ausnahmezustand ist für Schmitt also kein Thema der Verfassungstheorie, sondern der Staatstheorie, nach der nicht die Verfassung den Staat macht, sondern der Staat die Verfassung. Hiernach ist es staatliche Macht, die dem Recht überhaupt erst normative Kraft zuführt.

  10. Von den zwischen 1960 und 1968 im Bundestag behandelten vier großen Entwürfen für eine Notstandsverfassung war jeder Entwurf weniger schneidig als der jeweils vorangegangene (Übersicht bei Stern 1980, S. 1322–1326).

  11. Das Grundgesetz behält die ursprüngliche Bezeichnung der 2005 in Bundespolizei umbenannten Behörde bei.

  12. Historisches Exempel: Als nach dem in der Nacht auf den 21. August 1968 erfolgten Einmarsch von 27 Divisionen des Warschauer Paktes in die Tschechoslowakei mit einer weiteren Eskalation der Lage, die zur Konfrontation von Ost und West und damit in den Verteidigungsfall geführt hätte, gerechnet werden musste, äußerte Bundeskanzler Kurt-Georg Kiesinger gegenüber dem Generalinspekteur der Bundeswehr Ulrich de Maizière, er sei auf die Übernahme der Befehls- und Kommandogewalt nicht vorbereitet (zit. n. Bange 2008, S. 430–431).

  13. Auch zum Einsatz der Streitkräfte im Bündnis genügt nicht die Feststellung des Bündnisfalls. Hierzu bedarf es eines entsprechenden Beschlusses des Deutschen Bundestages.

  14. Zu Deutsch: Westen.

  15. Entführung und Ermordung Hanns-Martin Schleyers im Herbst 1977 waren nicht der erste Anlass für die Aktivierung eines gesetzlich nicht vorgesehenen Krisenstabes, ebenso wenig die Entführung des Berliner CDU-Landesvorsitzenden Peter Lorenz 1975. Im August 1968 wurde, nachdem Truppen des Warschauer Paktes in die Tschechoslowakei einmarschiert waren, auf Druck der NATO in der BRD ein „Ministergremium für besondere Lagen“ geschaffen, das durch direkte Kooperation von Bund und Ländern und unter Beteiligung der Fraktionsvorsitzenden zeitnah und flexibel reagieren sollte (Dahlke 2011, S. 135–136). Soweit ersichtlich, handelt es sich dabei um das erste präterkonstitutionelle Gremium zur Krisenbewältigung – zwei Monate nach Inkrafttreten der Notstandsverfassung, die solche präterlegalen Maßnahmen gerade entbehrlich machen sollte.

Literatur

  • Ackeret, M. (2016). Von „Hamsterkäufen“ kann keine Rede sein. Neue Zürcher Zeitung Online. https://www.nzz.ch/international/europa/zivilschutz-in-deutschland-von-hamsterkaeufen-kann-keine-rede-sein-ld.112820. Zugegriffen: 27. Okt. 2017.

    Google Scholar 

  • Arndt, A. (1962). Demokratie – Wertesystem des Rechts. In A. Arndt, & M. Freund (Hrsg.), Notstandsgesetz – aber wie? (S. 7–66). Köln: Verlag Wissenschaft und Politik.

    Google Scholar 

  • Augstein, R. (1966, 11. Apr.). Notstand – das Ende aller Sicherheit?. Der Spiegel, 1966 (16), 37–61.

    Google Scholar 

  • Bange, O. (2008). Das Ende des Prager Frühlings 1968 und die bundesdeutsche Ostpolitik. In B. Greiner, C. T. Müller, & D. Walter (Hrsg.), Studien zum Kalten Krieg, (Bd. 2) (S. 411–445). Hamburg: Hamburger Edition.

    Google Scholar 

  • Benda, E. (1968). Die Notstandsverfassung (8. Aufl.). München, Wien: Olzog.

    Google Scholar 

  • BMI – Bundesministerium des Innern. (2016). Konzeption Zivile Verteidigung. Berlin: BMI.

    Google Scholar 

  • Böckenförde, E.-W. (1978). Der verdrängte Ausnahmezustand. Zum Handeln der Staatsgewalt in außergewöhnlichen Lagen. Neue Juristische Wochenschrift, 1978, 1881–1890.

    Google Scholar 

  • Dahlke, M. (2011). Demokratischer Staat und transnationaler Terrorismus. München: Oldenbourg.

    Book  Google Scholar 

  • Darnstädt, T. (2008, 22. Sep.). Der Mann der Stunde. Die unheimliche Wiederkehr Carl Schmitts. Der Spiegel, 2008 (39), 160–161.

    Google Scholar 

  • Depenheuer, O. (2011). Kommentierung zu Art. 80a. In T. Maunz, & G. Dürig (Hrsg.), Grundgesetz. Loseblattsammlung. München: Beck.

    Google Scholar 

  • Depenheuer, O. (2014). Vorbehalt des Möglichen. In J. Isensee, & P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland (Bd. XII, 3. Aufl.) (S. 557-589). Heidelberg: C.F. Müller.

    Google Scholar 

  • Freudenberg, D. (2016). Sittliche Verantwortung versus die „Majestät des Rechts“. Österreichische Militärische Zeitschrift, 2016 (6), 711–719.

    Google Scholar 

  • Greiner, B., Müller, C., & Walter, D. (2008). Studien zum Kalten Krieg, (Bd. 2). Hamburg: Hamburger Edition.

    Google Scholar 

  • Hesse, K. (1955). Ausnahmezustand und Grundgesetz. Die Öffentliche Verwaltung, 1955, 741–746.

    Google Scholar 

  • Isensee, J. (1979). Verfassung ohne Ernstfall: der Rechtsstaat. In A. Peisl, & A. Mohler (Hrsg.), Der Ernstfall (S. 98–123). Frankfurt a.M., Berlin, Wien: Propyläen.

    Google Scholar 

  • Isensee, J. (2008, 21. Jan.). Not kennt Gebot. Selbstbehauptung des Staates gegenüber dem Terrorismus. Frankfurter Allgemeine Zeitung, (17), S. 10.

  • Isensee, J. (2010). Die Staatlichkeit der Verfassung. In O. Depenheuer, & C. Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie (S. 199–270). Tübingen: Mohr Siebeck.

    Google Scholar 

  • Isensee, J. (2014). Verfassungsrecht als „politisches Recht“. In J. Isensee, & P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland (Bd. XII, 3. Aufl.) (S. 483–555). Heidelberg: C.F. Müller.

    Google Scholar 

  • Jestaedt, M. (2010). Verfassungstheorie als Disziplin. In O. Depenheuer, & C. Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie (S. 3–56). Tübingen: Mohr Siebeck.

    Google Scholar 

  • Kaiser, M. (2017). Hybride Bedrohungen oder der Kampf von innen (Fake News). In F. Hahn (Hrsg.), Sicherheit für Generationen (S. 61–65). Berlin: Duncker & Humblot.

    Google Scholar 

  • Klein, E. (2014). Innerer Staatsnotstand. In J. Isensee, & P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland (Bd. XII, 3. Aufl.) (S. 935–971). Heidelberg: C.F. Müller.

    Google Scholar 

  • Kloepfer, M. (2015). Handbuch des Katastrophenrechts. Baden-Baden: Nomos.

    Google Scholar 

  • Leibholz, G. (1957). Einleitung zum Status-Bericht des Bundesverfassungsgerichts. Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart, (6), 110–221.

    Google Scholar 

  • Lemler, K. (2017). Sicherheitskonzepte in asymmetrischen Konflikten. Baden-Baden: Tectum.

    Book  Google Scholar 

  • Mann, T. (2014). Kommentierung zu Art. 80a. In M. Sachs (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar (7. Aufl.) (S. 1669-1672). München: C. H. Beck.

    Google Scholar 

  • März, W. (2014). Äußerer Staatsnotstand. In J. Isensee, & P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, (Bd. XII, 3. Aufl.) (S. 973–1025). Heidelberg: C.F. Müller.

    Google Scholar 

  • Matz, W. (1949). Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland und Besatzungsstatut. Stuttgart, Köln: Kohlhammer.

    Google Scholar 

  • Robbers, G. (1989). Die Änderungen des Grundgesetzes. Neue Juristische Wochenschrift, 1989 (21), 1325–1332.

    Google Scholar 

  • Schmitt, C. (1921). Die Dikta tur (8. Aufl.). Berlin: Duncker & Humblot.

    Google Scholar 

  • Schmitt, C. (1922). Politische Theolog ie (10. Aufl.). Berlin: Duncker & Humblot.

    Google Scholar 

  • Schmitt, C. (1927). Die Diktatur des Reichspräsidenten nach Artikel 48 der Weimarer Verfass ung (8. Aufl.). Berlin: Duncker & Humblot.

    Google Scholar 

  • Schönbohm, A. (2017). Bedrohung im Cyber-Raum. In F. Hahn (Hrsg.), Sicherheit für Generationen (S. 57–60). Berlin: Duncker & Humblot.

    Google Scholar 

  • Siemons, M. (2016, 29. Aug.). Diffuses Gefühl, jetzt amtlich. Frankfurter Allgemeine Zeitung Online. http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/neuer-zivilschutz-sind-wir-potentiell-immer-im-krieg-14408324.html. Zugegriffen: 27. Okt. 2017.

    Google Scholar 

  • Der Spiegel. (1962, 7. März). Herr der Flut. (10), S. 26–30.

    Google Scholar 

  • Stern, K. (1980). Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland (Bd. II). München: Beck.

    Google Scholar 

  • Stürmer, M. (2017). Wendezeiten – Krisenzeiten – Vorkriegszeiten. In F. Hahn (Hrsg.), Sicherheit für Generationen (S. 15–19). Berlin: Duncker & Humblot.

    Google Scholar 

Download references

Author information

Authors and Affiliations

Authors

Corresponding author

Correspondence to Harald Erkens.

Additional information

Der Autor ist Doktorand am Institut für Öffentliches Recht der Universität Bonn bei Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Josef Isensee. Der Aufsatz ist hervorgegangen aus einem Vortrag, den der Autor im September 2017 an der Bundesakademie für Sicherheitspolitik gehalten hat. Er gibt die persönliche Meinung des Verfassers wieder.

Rights and permissions

Reprints and permissions

About this article

Check for updates. Verify currency and authenticity via CrossMark

Cite this article

Erkens, H. Die Krisenmechanismen des Grundgesetzes im Wandel der Bedrohungslagen. Was ist und wozu taugt die Notstandsverfassung?. Z Außen Sicherheitspolit 10, 485–510 (2017). https://doi.org/10.1007/s12399-017-0674-5

Download citation

  • Published:

  • Issue Date:

  • DOI: https://doi.org/10.1007/s12399-017-0674-5

Schlüsselwörter

Keywords

Navigation