Die Jubiläumstagung zum 25-jährigen Bestehen des Arbeitskreises Demokratieforschung fand – mit etwas Verspätung aufgrund der Corona-Pandemie – im März 2023 an der Humboldt-Universität zu Berlin statt. Das Tagungsmotto lautete „Demokratie – flexibel, streitbar oder gefährdet?“ und nahm damit die gegenwärtigen internen und externen Herausforderungen der Demokratie in den Blick. Die Tagung wurde von Norma Osterberg-Kaufmann, Susanne Pickel, Carsten Wegscheider, Christoph Mohamad-Klotzbach und Toralf Stark organisiert und versuchte die großen Themen der Demokratieforschung der letzten zwei bis drei Jahrzehnte aufzugreifen und aus gegenwärtiger Perspektive neu zu beleuchten. Welche Rolle spielt der klassische Transformationsbegriff? Erfassen wir die Qualität der Demokratien angemessen? Das sind nur zwei von vielen weiteren Fragen, die im Rahmen der Tagung debattiert worden sind.

In der Begrüßung durch die Sprecherinnen und Sprecher des Arbeitskreises blickte Susanne Pickel auf die Gründungs- und Entstehungsgeschichte des Zusammenschlusses zurück: Der Arbeitskreis Demokratieforschung in der Deutschen Vereinigung für Politikwissenschaft (DVPW) ist als Vereinigung der Arbeitskreise Postsozialistische Systeme, Systemwechsel und Interkultureller Demokratievergleich schrittweise entstanden. Zahlreiche Gründungsmitglieder dieser früheren Arbeitskreise waren auf der Jubiläumstagung anwesend und ermöglichten einen fruchtbaren Austausch zwischen den Wissenschaftsgenerationen. Der Arbeitskreis Demokratieforschung wurde in seiner heutigen Form 2006 gegründet und kann auf zahlreiche nationale und internationale Aktivitäten zurückblicken, beispielsweise die internationale Tagung 2013 an der Goethe-Universität Frankfurt am Main zu Measuring Democracy, aus der 2016 auch ein Special Issue in der International Political Science Review (Kneuer et al. 2016) hervorging. Auch die Gründung und erfolgreiche Weiterentwicklung der Zeitschrift für Vergleichende Politikwissenschaft (ZfVP) und das Netzwerk Fabrics of Democracy sind als Ergebnisse der fruchtbaren Kooperation im Arbeitskreis Demokratieforschung zu nennen.

Den Auftakt der Tagung bildete das interaktive Format eines World Cafés, in dem an drei Tischen die zentralen Themenstränge der Tagung diskutiert wurden. Den ersten Tisch moderierten Marianne Kneuer (Technische Universität Dresden), Wolfgang Merkel (HU Berlin) und Dieter Segert (Universität Wien) zur Demokratieforschung als Transformationsforschung. Die Diskussionen drehten sich hier sowohl um eher konzeptionelle Fragen der Reichweite und Grenzen des Transformationsbegriffs als auch um das theoretische beziehungsweise empirische Verhältnis zwischen Demokratie und wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Transformationsprozessen, die beispielsweise durch den Klimawandel bedingt werden. Wolfgang Merkel stellte die These in den Raum, dass „Transformation“ womöglich bereits „Krise“ als überdehntes und allumfassendes Schlagwort ersetzt hat. Schwindet das Zutrauen in die Problemlösungskapazitäten der Demokratie? Reichen diese Kapazitäten für die notwendigen „Transformationen“ und sind Demokratien hier womöglich – zumindest was die Reaktionsgeschwindigkeit angeht – autoritären Regimen unterlegen? Möglicherweise weicht der Demokratisierungsoptimismus der 1980er- und 90er-Jahre auch einer eher skeptischen Sicht auf die Transformation und Stabilität der Demokratien hinsichtlich der zahlreichen globalen und internen Herausforderungen. Diese und viele ähnliche Fragen waren Gegenstand der lebhaften Debatten.

Die Diskussion am zweiten Tisch leiteten Hans-Joachim Lauth (Universität Würzburg) und Gert Pickel (Universität Leipzig) unter dem Thema Demokratieforschung als Qualitätsforschung. Hier wurde unter anderem über die Frage diskutiert, ob die Demokratie ein universelles oder ein kulturspezifisches Konzept ist und welche Folgen das für die Frage geeigneter Indikatoren zur Demokratiemessung hat. Hans-Joachim Lauth verwies darauf, dass es auch nach fünfundzwanzig Jahren Demokratieforschung im Arbeitskreis dazu keine Konsensposition gibt. Was ist der Kern der Demokratie? Wie kann eine kultursensible Demokratie aussehen? Anschließend wurde unter anderem darüber debattiert, ob Sprache und Qualität der öffentlichen politischen Rhetorik stärker als bisher als Indikatoren für Demokratiequalität berücksichtigt werden sollten. Die Polarisierung durch Sprache und gezielte rhetorische Verletzung von Konventionen prägt die öffentlichen Debatten in vielen Demokratien und kann möglicherweise auch einen inhaltlichen Qualitätsverlust auf anderen Ebenen nach sich ziehen.

Schließlich stand der dritte Tisch des World Cafés unter dem Motto Demokratieforschung als Diversitätsforschung und wurde von Timm Beichelt (Europa-Universität Frankfurt/Oder), Ellen Bos (Andrássy Universität Budapest) und Silvia von Steinsdorff (HU Berlin) moderiert. In der Diskussion wurden insgesamt vier wesentliche Herangehensweisen an Demokratieforschung als Diversitätsforschung aufgezeigt: In der ersten ist Diskriminierung das wesentliche konstituierende Element, während in der zweiten Herangehensweise die Diversität von Lebenserfahrungen im Fokus steht. In der dritten Herangehensweise stehen Ethnizität, Migration und Citizenship im Vordergrund, während die vierte Herangehensweise das Spannungsfeld von Inklusion und Exklusion in den Blick nimmt. Gerade mit Blick auf dieses Spannungsverhältnis wurde im Weiteren kontrovers diskutiert, wieviel Inklusion für eine Demokratie notwendig ist und wo die Grenzen von Inklusion liegen. Unterstrichen wurde auch, dass die Überlebensfähigkeit einer Demokratie auch von ihrer Fähigkeit zur Exklusion abhängt, insbesondere gegenüber ihren Feind*innen. Zudem scheint der Konsens von Rede und Gegenrede gebrochen zu sein, wobei Meinungsfreiheit zunehmend mit Meinungsdominanz verwechselt wird. Einig waren sich die Diskutierenden daher darin, dass Demokratie von ihren Bürger*innen auch Gegenleistungen zum Erhalt fordert und dann an Grenzen stößt, wenn zunehmende Teile der Gesellschaft Demokratie ablehnen.

Zum Abschluss des ersten Tages der Tagung hielt Wolfgang Merkel einen Festvortrag als Laudatio auf Hans-Joachim Lauth zum 65. Geburtstag, in dessen Rahmen auch eine entsprechende Festschrift mit dem Titel „Staat, Rechtsstaat und Demokratie. Konzeptionelle und aktuelle Diskussionen in der vergleichenden Politikwissenschaft“ übergeben wurde (Muno et al. 2022). Merkel würdigte in seinem Abendvortrag den Politikwissenschaftler Hans-Joachim Lauth als verdienstvollen academic citizen der Disziplin, der sich durch die Betätigung in der akademischen Selbstverwaltung, ausgeprägte Nachwuchsförderung und wegweisende inhaltliche Beiträge zur Weiterentwicklung der Demokratieforschung auszeichnet. Die Politikwissenschaft sei dabei für Hans-Joachim Lauth immer „Arbeit, Leben und Berufung zugleich“ (Merkel) gewesen. Das wissenschaftliche Denken Lauths ist dabei insbesondere von drei Persönlichkeiten geprägt, wie Merkel nachzeichnet: von Max Weber, vor allem mit seiner Passion für Typenbildung und Klassifizierungen, von Douglas North und der Idee des Neo-Institutionalismus (vor allem unter dem Blickwinkel informaler Institutionen) sowie von Guillermo O’Donnell mit seiner Forschung zu Staat und Rechtsstaat in Lateinamerika. Entsprechend finden sich Beiträge zu verschiedenen Subtypen defizitärer Demokratien und defizitärer Rechtsstaaten, in denen jeweils auch die Bedeutung informeller Institutionen berücksichtigt wurde.

Am zweiten Tag standen drei Panelstränge auf dem Programm, die sich thematisch der Struktur der Tische des World Cafés anschlossen. Das erste Panel zu Demokratieforschung als Transformationsforschung eröffnete Marianne Kneuer (Technische Universität Dresden) entlang der Frage, was sich von Transformationen hin zur Demokratie über Prozesse weg von der Demokratie lernen lässt. Kneuer plädierte dabei für eine Ausweitung der analytischen Perspektiven auf Prozesse demokratischer Erosion. Zum Beispiel darf Transformationsforschung eher antizyklische Entwicklungen nicht aus dem Blick verlieren und muss bei der Fallauswahl für dichte Analysen auch „nicht-erfolgreiche“ Prozesse demokratischer Erosion hinreichend berücksichtigen, um einen selection bias zu vermeiden. Im zweiten Vortrag des Panels nahm Wolfgang Merkel (WZB Berlin/HU Berlin) den gegenwärtigen Zustand der Demokratie in den Fokus. Der Verlust an Qualität der Demokratie seit etwa 2008 auch in liberalen Demokratien, in Verbindung mit der Exposition zu multiplen externen „Mega-Challenges“ wie beispielsweise dem Klimawandel, verleiten oftmals zur Diagnose einer sich weiter verschärfenden „Krise der Demokratie“. Merkel stellte dem eine vorsichtig optimistische Perspektive entgegen und argumentierte, dass der Ist-Zustand der Demokratie auch als Zeichen ihrer Resilienz gedeutet werden kann. Daran anknüpfend schlug Merkel ein „multi-level-model of democratic resilience“ vor, welches sowohl das System als Ganzes als auch seine wichtigsten (Überlebens‑)Funktionen, seine Struktur und die darin handelnden Akteure berücksichtigt. Dirk Berg-Schlosser (Universität Marburg) finalisierte schließlich dieses erste Panel und eröffnete seinen Vortrag zu „Democratic Resilience or Retreat?“ mit einer Warnung vor zu alarmistischen Diagnosen einer generellen Krise der Demokratie. Alternativ plädierte er für eine stärkere Akzentuierung demokratischer Resilienz. So können auf der Makro-Ebene die vertikale und horizontale accountability, auf der Meso-Ebene funktionierende Parteiensysteme, und auf der Mikro-Ebene vor allem die politische Kultur als wichtigste Mechanismen der Resilienz benannt werden. Anhand einer QCA versuchte Berg-Schlosser Konfigurationen von resilienten Demokratien zu identifizieren. Als stärkste Faktoren stellten sich dabei die Kontrolle von Korruption, die gleichmäßige Verteilung von Ressourcen sowie eine starke Zivilgesellschaft heraus.

Im zweiten Panel des Bereiches Demokratie als Transformationsforschung eröffneten Norma Osterberg-Kaufmann (HU Berlin) und Toralf Stark (Universität Duisburg-Essen) die Runde mit konzeptionellen Überlegungen zum Zusammenhang des demokratischen Krisendiskurses mit der Frage des Demokratieverständnisses. Den Ausgangspunkt bildete die Feststellung, dass eine Diskrepanz zwischen der allgemeinen Zustimmung zur Demokratie als Regierungsform und der Unzufriedenheit mit der realen Demokratie besteht. Es ist also für die Demokratieforschung fundamental zu wissen, von welchem Demokratieverständnis ausgehend die Bürger*innen die bestehenden demokratischen Systeme bewerten. Osterberg-Kaufmann und Stark plädieren daher für einen Paradigmenwechsel in der Demokratieforschung, der die Frage der möglichen Krise der Demokratie stärker von der Mikro-Ebene und dem Aspekt der Demokratieverständnisse aus untersucht. Dafür müssen vermehrt auch bisher marginalisierte Demokratiekonzeptionen berücksichtigt sowie induktive Methoden in den Forschungsprozess eingebaut werden. Im zweiten Vortrag dieses Panels stellte Wolfgang Muno (Universität Rostock) eine Studie über die Demokratieentwicklung in Lateinamerika vor, an der er gemeinsam mit Christian Pfeiffer (auch Rostock) arbeitet. Auch hier stand die Frage des democratic backsliding im Vordergrund. Zwar kann Lateinamerika immer noch als die demokratischste Region außerhalb Europas und Nordamerikas gelten, aber wie die Daten von Varieties of Democracy (V-Dem) zeigen, geht die Demokratiequalität in den letzten Jahren eher zurück. Das schwierige Erbe der Militärdiktaturen, Einschränkungen bei den Menschenrechten und ökonomische Krisen haben die Entwicklung der Demokratien nach der dritten Demokratisierungswelle von Anbeginn vor Herausforderungen gestellt. Die Kombination aus Demokratie, Ungleichheit und Armut sei daher auch als „lateinamerikanisches Dreieck“ bezeichnet worden. Eine Reihe linker Regierungsübernahmen in den 1990er-Jahren führte zwar zu sozialpolitischen Reformen und sichtbaren Verbesserungen, aber die Stabilität der Demokratien erhöhte sich dadurch nicht. Insofern beobachten Muno und Pfeiffer auch in Lateinamerika, das eigentlich als Herkunftsregion des Linkspopulismus gilt, einen erstarkenden Rechtspopulismus als Folge der Unzufriedenheit der Bevölkerung. Zum Abschluss dieses Panels referierte Ellen Bos (Andrássy Universität Budapest) über das Konzept der illiberalen Demokratie in Ungarn. Aus politikwissenschaftlicher Sicht ist die Einordnung der ungarischen Demokratie unter Orban uneindeutig und mit vielfältigen Begrifflichkeiten versehen worden. Insbesondere die Selbstbeschreibung folgt seit einer programmatischen Rede Orbans im Jahr 2014 der Idee einer illiberalen Demokratie. Diese steht für die Annahme, dass auch etwas Nicht-Liberales eine Demokratie sein kann: Die Kritik am Liberalismus richtet sich dabei primär auf den liberalen Individualismus und stellt diesem das Ideal einer starken Gemeinschaft gegenüber. Dieses Gemeinschaftskonzept ist allerdings sehr exklusiv und verletzt zentrale Grundprinzipien der liberalen Demokratie. In der Praxis ist damit ein dauerhafter Machtanspruch verbunden, der durch die umfassende Kontrolle der Medien und gezielte Unterdrückung von Opposition ermöglicht wird. Als weitere Kennzeichen dieser illiberalen Demokratie zeigte Bos die permanente Konstruktion eines Ausnahmezustandes, eine antipluralistische Stoßrichtung und die gezielte Instrumentalisierung von Feindbildern zur eigenen Machtlegitimierung. Die illiberale Demokratie ist alles in allem ein eher loses Konzept und ähnelt vielmehr einem politischen Kampfbegriff, dessen zentrales Ansinnen die Kritik am Liberalismus und Legitimierung eigener Macht ist.

Im ersten Beitrag des dritten Panels im Themenstrang Demokratie als Transformationsforschung ging Anna Fruhstorfer (Universität Potsdam) in einem Beitrag mit Alexander Hudson (International Institute for Democracy and Electoral Assistance, Sweden) der Frage nach den Erklärungsfaktoren für das Einhalten oder Umgehen von Amtszeitbeschränkung von Präsidenten nach. Ausgangspunkt ihrer Untersuchung bildet die Beobachtung, dass die Hälfte aller Präsidenten in autokratischen und hybriden Regimen versuchen, das Ende ihrer Amtszeit zu umgehen, wobei in den Ländern der dritten Demokratisierungswelle rund 80 % erfolgreich mit ihrem Versuch sind. Als zentrale Erklärungsfaktoren wurden einerseits die Institutionalisierung von Parteien und andererseits der Grad der Korruption untersucht. Hudson und Fruhstorfer konnten einen positiven Effekt von Korruption auf die Nicht-Einhaltung einer Amtszeitbegrenzung nachweisen. Auch ein höherer Grad der Institutionalisierung von Parteien hatte einen begünstigenden Effekt auf die Nicht-Einhaltung einer Amtszeitbegrenzung. Ausgehend von der Beobachtung, dass sowohl Demokratie als auch akademische Freiheit weltweit im Rückgang sind, stellte Lars Pelke (Universität Erlangen-Nürnberg) im zweiten Beitrag des Panels die Frage, inwiefern akademische Freiheit durch die Vermittlung eines pro-demokratischen Bias unter Studierenden und Forschenden vor einer Autokratisierung bzw. einer Regression der Demokratie schützt. Das Kernargument seiner Untersuchung war, dass mehr akademische Freiheit zu einer höheren Unterstützung von liberalen Wertorientierungen und einer größeren diffusen Unterstützung für die Demokratie einhergeht. Pelke kam zu dem Ergebnis, dass Universitäten in der Tat einen Pro-Democracy-Bias vermitteln und damit zu einer höheren diffusen Unterstützung von Demokratie führen. Auch scheint akademische Freiheit eine Art Frühwarnsystem für eine Autokratisierung zu sein, da Rückgänge der akademischen Freiheit und Autokratisierungs-Episoden parallel zueinander verlaufen. Den Abschluss des Panels bildete ein Beitrag von Aron Buzogány (Universität für Bodenkultur Wien), in dem er durch einen Vergleich des Transformationsbegriffs in der vergleichenden Politikwissenschaft mit dem Begriff der Energietransformation zu einem interdisziplinären Austausch der jeweiligen Stränge aufrief. Ausgangsbefund seines Beitrags war die Feststellung, dass Forschungen zu Energietransformation und Systemtransformation relativ ähnliche Gegenstände behandeln und dennoch bisher wenig gegenseitiges Interesse der Disziplinen zu bestehen scheint. Daher sollte Systemtransformationsforschung in der Politikwissenschaft auch die materielle Basis einbeziehen sowie Ressourcen und Infrastrukturen mitdenken, wohingegen interdisziplinäre Forschung zur Energietransformation auch Fragen nach Macht, Politik, Institutionen und politische Prozesse wie demokratische Innnovationen in den Blick nehmen sollte.

Im Bereich der Demokratieforschung als Qualitätsforschung eröffnete Hans-Joachim Lauth (Universität Würzburg) das erste Panel mit Überlegungen zu „Unschärfen der Transformationsforschung“ und notwendigen „konzeptionellen und methodischen Korrekturen“. Lauth plädierte darin für einen stärkeren Fokus auf das Informelle in der Demokratie- und Transformationsforschung. In formalen Konzepten wie Lijpharts Mehrheits- oder Konsensdemokratie und Merkels embedded democracy sieht Lauth hier Schwächen durch die Vernachlässigung der informellen Regelwelt von politischen Ordnungen. Die primäre Aufgabe liegt in der Identifizierung und Systematisierung informeller Institutionen, nicht nur in Transformationskontexten, wo dies in Ansätzen schon seit geraumer Zeit erfolgt, sondern auch in etablierten Demokratien wie den USA, Frankreich oder Italien. Das Beispiel Trump verdeutlicht dies: Formal hat der damalige US-Präsident in seiner Amtszeit keine demokratischen Normen verletzt, aber durchaus gegen wichtige informelle Konventionen verstoßen und zu einem informellen Qualitätsverlust der Demokratie beigetragen. Diese informelle Sphäre im Kontext von Systemtransformation und demokratischer Qualitätsforschung zu berücksichtigen und auch die Datengrundlage über informelle Institutionen durch dichte Einzelfallstudien und Area-Forschung zu verbessern, ist dabei zentrale Zukunftsaufgabe der Vergleichenden Politikwissenschaft. Im zweiten Vortrag ging Rolf Frankenberger (Universität Tübingen) der begrifflichen Unschärfe in der gegenwärtigen Demokratieforschung nach. Beobachten wir wirklich ein democratic backsliding als Verlust von Demokratiequalität? Frankenberger kritisierte, dass im Zusammenhang mit solchen Befunden unsauber situiert und konzeptionalisiert wird. Es braucht daher substanzielle Definitionen von Demokratie und Autokratie, um ein democratic backsliding im Sinne gradueller Abstufungen untersuchen zu können. Ausgehend von den Überlegungen Josiah Obers zu einer Basisdemokratie schlug Frankenberger eine solche Basisdefinition jeweils von Demokratie und Autokratie vor. Daran anschließend kann dann backsliding zweiseitig untersucht werden, denn eine abnehmende Qualität der Demokratie ist nicht gleichzusetzen mit zunehmender autokratischer Qualität und umgekehrt. Im letzten Vortrag dieses Panels untersuchte Philipp Harfst (Universität Göttingen) die Wähler*innenzufriedenheit mit dem Wahlsystem in verschiedenen Listenformaten. Hängt die Zufriedenheit der Bürger*innen in der Demokratie mit dem Wahlsystem zusammen? Bisher ist hinsichtlich dieser Frage oftmals nur die klassische Unterscheidung von Mehrheits- und Verhältniswahlsystemen berücksichtigt worden. Allerdings haben sich insbesondere Verhältniswahlsysteme stark weiterentwickelt und ausdifferenziert. Die Stimmgebungsform steht dabei stärker im Vordergrund: Bisherige Ergebnisse zeigen beispielsweise, dass offene Listenwahlen zu höherer Demokratiezufriedenheit führen. In einem eigenen Online Survey Experiment im Zuge der österreichischen Nationalratswahl 2017 fand Harfst zusammen mit Jean-François Laslier (Paris School of Economics) heraus, dass insbesondere das politische Interesse der Personen in einem Zusammenhang mit der Zufriedenheit mit dem Wahlsystem steht. Harfst und Laslier plädierten daher für zusätzliche Wahlmöglichkeiten bei Listenwahlen, um die Zufriedenheit besonders politisch Interessierter mit dem Wahlsystem zu erhöhen.

Das zweite Panel des Themenstrangs Demokratie als Qualitätsforschung wurde von Saskia Schäfer (HU Berlin) mit einem Beitrag eröffnet, der auf Grundlage zweier Fallstudien zur Türkei und Indonesien zentrale Herausforderungen für die Demokratieforschung herausstellt: Ausgangspunkt ihres Beitrags war, dass Autokratisierungs-Prozesse, wie sie in beiden Fällen in den vergangenen Jahren festzustellen sind, Kernprobleme der empirischen Demokratieforschung aufzeigen, wobei die Fallauswahl auch damit begründet wird, dass beide Fälle noch bis in die 2000er-Jahre als „Poster-Children“ für die Demokratisierung in den jeweiligen Regionen standen. Die gängigen Mainstream-Demokratieverständnisse begrenzen in diesem Zusammenhang die analytischen Möglichkeiten von Forscher*innen, wobei die unreflektierte Hegemonie des liberalen Demokratieverständnisses hierzu entscheidend beiträgt. Weiterhin ist die derzeitige politikwissenschaftliche Forschung zu sehr auf Staaten und Institutionen fokussiert, um beispielsweise die Rolle der Zivilgesellschaft zu erfassen. Auch stellt Schäfer die Bedeutung der Rolle von Religion heraus, die in der Politikwissenschaft auch mit Blick auf Demokratisierungs- oder Autokratisierungsprozesse unterschätzt wird. Auch der zweite Beitrag des Panels von Silvana Krause (Universidade Federal do Rio Grande do Sul, Brasilien) knüpfte an die Bedeutung des Faktors Religion an, wobei sie den Fokus auf den Fall Brasilien lenkte: Ausgangspunkt ihres Beitrags bildete die Beobachtung, dass auch Brasilien als Musterbeispiel für Demokratisierung galt und im Zeitraum von 1980 bis 2010 bedeutende Fortschritte vorweisen konnte, wohingegen die jüngste Entwicklung den „Weg eines Rückschritts“ beschreiben. Im Zentrum der Erklärung dieses Rückschritts sieht Krause den Aufstieg der extremen Rechten in Brasilien in den vergangenen Jahrzehnten, der in der Wahl Jair Bolsonaros zum Präsidenten gipfelte. Erklärungsfaktoren dieser Entwicklungen sind ein drastischer Wandel des Parteiensystems, demographische und sozio-ökonomische Veränderungen in der Wähler*innenschaft, sowie ein Bedeutungsverlust der katholischen Kirche zugunsten einer erstarkten Rolle von Evangelikalen im Verbund mit rechten Parteien. Der abschließende Beitrag von Brigitte Weiffen (The Open University in Milton Keynes, UK) beschäftigte sich aus einer Makroperspektive heraus mit Klauseln zur Verteidigung von Demokratie regionaler Organisationen in Lateinamerika und deren Entwicklung mit Blick auf die sich verändernden Herausforderungen von Demokratie. Weiffen unterscheidet dabei zwischen endogenen und exogenen Herausforderungen der Demokratie: Endogene Herausforderungen können von Akteuren des politischen Systems ausgehen, wohingegen exogene Herausforderungen vom Militär oder anderen nicht-staatlichen Akteuren ausgehen. Die Herausforderungen von Demokratie in Lateinamerika erfolgen dabei zunehmend aus dem politischen System selbst heraus, die Demokratieklauseln regionaler Institutionen wie der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) reagieren darauf aber nur sehr langsam. Zudem sei durch die vielen unterschiedlichen Visionen von Demokratie ein Streit über die Bedeutung von Demokratie entstanden, der es der OAS zunehmend erschwere, Verletzungen von demokratischen Normen eindeutig zu identifizieren. Diese Infragestellung von Demokratie bzw. des Kerns von Demokratie sei nach Weiffen der Hauptgrund für den Misserfolg regionaler Demokratieklauseln in Lateinamerika.

Das erste Panel des Themenstrangs Demokratie als Diversitätsforschung wurde mit einem Beitrag zum Verständnis von Meinungsfreiheit im Ost/West-Vergleich von Susanne Pickel (Universität Duisburg-Essen) eröffnet. Ausgehend vom Befund, dass es eine Teilung im Hinblick auf die Einstellung zur Meinungsfreiheit zwischen Ost- und Westdeutschland gibt, die sich durch einen starken Rückgang in der Zustimmung zur Aussage „in Deutschland kann man seine Meinung frei äußern, ohne dafür Ärger zu bekommen“ ausdrückt, stellte Pickel die Frage nach den politischen und sozialpsychologischen Erklärungsfaktoren dieser Einstellungen. Pickel unterstrich den Doppelcharakter von Meinungsfreiheit: So beinhaltet Meinungsfreiheit nicht nur das Recht zur freien Meinungsäußerung, sondern auch das „Recht zum Gegenschlag“, also das Recht, auf eine Äußerung mit einer Gegenrede zu reagieren. Mit Blick auf die Erklärungsfaktoren für die Einstellungen zur Meinungsfreiheit zeigten sich Bildung in Westdeutschland und autoritäre Persönlichkeitseigenschaften in Ostdeutschland als von Bedeutung. Übergreifend wurde deutlich, dass Menschen, die die Demokratie unterstützen, auch eine größere Unterstützung für Meinungsfreiheit aufzeigen. Aus ihren Ergebnissen leitete Susanne Pickel die Notwendigkeit einer Demokratisierung des Bildungssystems ab, da durch Hierarchien in diesem Bereich zur Unterwürfigkeit sozialisiert wird. Für eine demokratische politische Kultur sind jedoch engagierte, partizipierende Bürger*innen eine Notwendigkeit. Auch der zweite Beitrag des Panels von Merve Schmitz-Vardar (Universität Duisburg-Essen) knüpft an die politische Kulturforschung an: Ausgehend von dem Befund, dass liberale Demokratien durch migrationsbedingte Vielfalt geprägt sind, untersucht sie den Einfluss demokratischer Wertorientierungen und der Anerkennung des multikulturellen Gemeinwesens auf die Verwirklichung der liberalen Demokratie in europäischen Einwanderungsgesellschaften. Kernergebnis ihrer Studie mit insgesamt 36 Fällen ist, dass für den Grad der Verwirklichung liberaler Demokratie der Anerkennung des multikulturellen Gemeinwesens durch die Bürger*innen eine größere Bedeutung zukommt als dem Legitimitätsempfinden. Während die ersten beiden Beiträge des Panels stark auf die Individualebene und ein liberales Demokratieverständnis fokussierten, stand im abschließenden Beitrag von Jonas Wolff (Universität Frankfurt am Main) insbesondere die konzeptionelle Diversität von Demokratie im Mittelpunkt: Ausgangspunkt seines Beitrags ist die Beobachtung, dass Kontestation und Dekontestation von Demokratie Prozesse politisch-institutionellen Wandels begleiten und prägen, wobei dies gleichermaßen die gesellschaftliche und akademische Auseinandersetzung um Demokratie betrifft. Im akademischen Bereich zeigt Wolf verschiedene Herausforderung, einerseits durch das Phänomen der Autokratisierung als Herausforderung für die Demokratieforschung, andererseits aber auch durch die starke Fokussierung auf die liberale Demokratie als Maßstab, was mit Blindstellen und biases einhergeht. Auseinandersetzungen um konkurrierende Demokratieverständnisse sollten in der empirischen Demokratieforschung also systematischer untersucht werden. Auch das Zusammenspiel gesellschaftlicher und wissenschaftlicher „conceptual politics“ sollte als Teil des Untersuchungsgegenstands begriffen werden.

Das zweite Panel des Stranges Demokratieforschung als Diversitätsforschung eröffnete Thamy Progrebrinschi (WZB Berlin) mit dem Thema „Democratic Experimentation“ und was sich diesbezüglich aus 30 Jahren Bürgerbeteiligung in Lateinamerika lernen lässt. Die massive und teils innovative Ausweitung der Bürgerbeteiligung in Lateinamerika, z. B. in Form von „participatory budgeting“ ist bislang außerhalb der Region eher wenig bekannt. Progrebinschi schlug einen problemorientierten Ansatz vor, der mehr Bürgerbeteiligung nicht als Ergebnis demokratischer Innovationen, sondern als Mittel zur Stärkung von Demokratie begreift. Es konnte gezeigt werden, dass die demokratischen Innovationen der letzten 30 Jahre in Lateinamerika vor allem der Lösung spezifischer Probleme (z. B. in den Bereichen Wohnen, Wassermanagement oder Gesundheit) unter stärkerem Einbezug der Bürger*innen dienten. Dabei haben die unterschiedlichen Innovationen auf verschiedene Mittel der Bürgerbeteiligung – Deliberation, Bürger*innen-Repräsentation, digitales Engagement, oder direktdemokratische Abstimmungen – gesetzt und diese mit verschiedenen demokratiebezogenen Zielen – accountablity, Responsivität, Rechtsstaatlichkeit, soziale Gleichheit oder politische Inklusion – kombiniert. Anschließend fragte Svend-Erik Skaaning (Universität Aarhus) danach, ob und inwieweit Bürger*innen bereit sind, anti-demokratische Äußerungen zu tolerieren, und in welcher Relation dies zu anderen kontroversen Äußerungen, die mit materiellen Kosten oder dem Angriff auf soziale Identitäten verbunden sind, steht. Mit einem Conjoint-Experiment, welches in Deutschland, Ungarn und den USA durchgeführt wurde, konnte gezeigt werden, dass Bürger*innen in allen drei Ländern bereit sind, anti-demokratische, verletzende und risikobehaftete Äußerungen auszuschließen – und zwar in einem höheren Maße als dies in Bezug auf policy-orientierte „placebo statements“ (z. B. zu Einwanderung, Abtreibung oder dem Steuersystem) der Fall ist. Tendenziell tolerieren Bürger*innen mit sehr niedrigem Bildungsgrad sowie junge Personen (Generation X und Y) dabei am ehesten anti-demokratische Äußerungen. Zum Abschluss des Panels unternahm Kevin Walz (Universität Mainz) den Versuch, den Begriff des „Anti-Pluralismus“ konzeptuell zu schärfen. Hierfür verdichtete Walz verschiedenste Konzeptionen aus der Ideengeschichte zu einer gemeinsamen Definition von Pluralismus als notwendiger (Vor‑)Bedingung von Demokratie. Unter Rückgriff auf Rousseaus Figur des volonté générale, aber auch insbesondere auf die Politische Theorie Carl Schmitts, definierte Walz Anti-Pluralismus grundsätzlich als „the negation of the functional and normative necessity, purpose, and merit of Pluralism“. Pluralismus und Anti-Pluralismus sind Antonyme und spannen ein Kontinuum auf, das sich auf Regime‑, Partei- und Individualebene anwenden lässt. Anti-Pluralismus ist ein Kernmerkmal jeder „anti-systemness“ in demokratischen Regimen.

Im dritten Panel des Stranges zur Diversitätsforschung widmete sich Cemal Öztürk (Universität Duisburg-Essen) einer kritischen Überprüfung von Huntingtons These zum Clash of Civilizations. Besonders umstritten waren Huntingtons Befunde zur Unvereinbarkeit von islamischer Religion und Demokratie, da religiöse und weltliche Macht dort immer miteinander in Verbindung stehen. Besteht wirklich ein Graben zwischen der islamischen und der westlichen Welt bei der Präferenz politischer Autoritäten? Ist der Islam also ein Demokratisierungshindernis? Es zeigte sich zunächst, dass der grundsätzliche Wunsch, in einer Demokratie zu leben, in der islamischen Welt nicht anders verteilt ist als im Westen. Öztürk plädierte daher dafür, die islamische Welt nicht als monolithischen Block zu betrachten, sondern mit dem gleichen Willen zur Differenzierung heranzugehen wie bei der Analyse der westlichen Demokratien. Die Befunde Öztürks offenbaren dementsprechend, dass in den islamischen Ländern die Varianz hinsichtlich der Zustimmung zur Aussage, ob Religionsführer die Auslegung der Gesetze bestimmen sollten, sehr groß ist. Des Weiteren zeigte sich, dass eine hohe Zustimmung zu dieser Aussage durchaus ein Demokratisierungshindernis ist, dies aber für jegliche Form des individuellen religiösen Fundamentalismus gilt und Unterschiede zwischen den Weltregionen und Weltreligionen nicht zu erkennen sind. Anschließend folgte Thomas Kestlers (Universität Würzburg) Präsentation eines neuen Vorschlags zur Konzeptualisierung von Cleavage-Strukturen in demokratischen Gesellschaften. Da sich politische Konflikte in den letzten Jahrzehnten stärker von der klassischen ökonomischen Achse (Arbeit vs. Kapital) auf eine kulturelle Konfliktachse verschoben haben, können viele bisherige Ansätze diese neuen Konflikte nicht mehr angemessen konzeptualisieren. Kestler schlägt vor dem Hintergrund der kognitiven Revolution (nicht mehr Einstellungen und Zustimmungen im Vordergrund, sondern Ideen) eine neue zweidimensionale, ideenbasierte Konzeptualisierung vor: Die erste Achse stellt Individualismus und Kollektivismus gegenüber, die zweite Achse Voluntarismus und Essentialismus. Die Vorteile sieht Kestler in einer besseren Nachvollziehbarkeit von programmatischen Verschiebungen einzelner Parteien über die Zeit, allerdings geht auch das Links-Rechts-Schema verloren. Außerdem müsste darauf aufbauend die Synthese mit dem ökonomischen Cleavage erfolgen. Zum Abschluss dieses Panels stellten Christoph Mohamad-Klotzbach (Universität Würzburg), Carsten Wegscheider (Universität Münster) und Toralf Stark (Universität Duisburg-Essen) ihre Forschung zur Wirkung von Regime und Zivilgesellschaft auf democratic knowledge vor. Als letzteres wird dabei die Fähigkeit verstanden, demokratische von autokratischen Prinzipien zu unterscheiden. Mittels Mehrebenenanalyse untersuchten sie, inwiefern individuelles Sozialkapital sowie Regimetyp (liberaler Demokratieindex von V‑Dem) und Autonomie der Zivilgesellschaft auf der Makroebene democratic knowledge beeinflussen. Es zeigt sich, dass in autoritären Regimen Sozialkapital im Sinne generalisierten Vertrauens keinen positiven Einfluss auf democratic knowledge besitzt, in demokratischen Regimen hingegen sehr wohl. In autokratischen Regimen hat wiederum bürgerschaftliches Engagement sogar einen negativen Effekt darauf. Sozialkapital kann also je nach Regimekontext als school of democracy oder school of autocracy gesehen werden.

Die gesamte Jubiläumstagung des AK Demokratieforschung war geprägt von intensiven Fachdebatten, die auch in den Pausen in wechselnden Konstellationen fortgeführt wurden. Nach zwei Jahren, in denen pandemiebedingt überwiegend nur Onlineformate möglich waren, war allen Teilnehmer*innen die Freude an der Rückkehr zum formellen und informellen Austausch in Präsenz deutlich anzumerken. Zudem hat die Tagung gezeigt, dass nicht nur neuere Phänomene wie democratic backsliding oder Populismus interessant für Analysen sind, sondern auch viele Überlegungen aus den Zeiten der Vorgängerarbeitskreise auch heute noch wichtige Denkanstöße für die Erforschung der Demokratie und ihren Herausforderungen liefern.