Ambivalenz der Aufmerksamkeit)

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Boettner, Johannes (2015)

Öffentlichkeit, Vertraulichkeit und Diskretion im Berufsfeld der Sozialen Arbeit Opladen u.a.: Barbara Budrich, ISBN: 978-3-8474-0725-6 211 Seiten, 24,90 Euro

Das Lehrbuch „Ambivalenz der Aufmerksamkeit“ von Johannes Boettner, Hochschullehrer und Leiter zweier Lehrpraxisstellen in Neubrandenburg, eröffnet eine wesentliche Perspektive auf die Handlungsanforderungen Sozialer Arbeit: „Gerade in einem beruflichen Umfeld, das sich durch den Bezug auf soziale Probleme definiert, konkurriert das Bemühen um die Herstellung von Aufmerksamkeit mit dem gegenläufigen Bestreben, sie zu begrenzen oder gar ganz zu vermeiden.“ Durch Soziale Arbeit wird den Lebenssituationen von Menschen in der Krise, von Außenseitern und Ausgegrenzten öffentliche Aufmerksamkeit zuteil. Soziale Probleme bedürfen der Anerkennung als soziale Probleme, doch zugleich braucht es Vertrauensschutz, um die — ohnehin oft fragilen — Arbeitsbeziehungen zu gestalten. Finden sich Beiträge zum Verhältnis Sozialer Arbeit und Öffentlichkeit sonst eher verstreut, bietet dieses Buch eine zusammenhängende Analyse der Aspekte Öffentlichkeit, Vertraulichkeit und Diskretion in der Sozialen Arbeit. Seinen Ausgang nimmt es von der Beobachtung, dass es z.B. in Praktikumsberichten Studierender oft an einer Auseinandersetzung mit dem Interaktionsgeschehen in der Sozialen Arbeit fehlt (S. 11f.). Ausgehend vom Selbstverständnis als HelferInnen, bemüht um den Aufbau eines Vertrauensverhältnisses, geraten die Bedingungen des Interaktionsgeschehens leicht aus dem Blick. Werden aber Lebenssituationen von KlientInnen wahrgenommen, ohne die Zumutungen, Möglichkeiten und Zugzwänge in Rechnung zu stellen, die den KlientInnen aus der Begegnung mit der Sozialarbeiterin bzw. dem Behördenvertreter erwachsen, kommt es zu folgenreichen Fehleinschätzungen. Anhand von Beobachtungen und Beispielen aus seiner Lehr- und Forschungstätigkeit stellt der Autor die Herausforderungen Sozialer Arbeit mit Blick auf Aufmerksamkeit und auf Öffentlichkeit dar. Das geschieht im Durchgang der Ebenen direkter Begegnungen, dauerhafter sozialer Beziehungsnetzwerke und Organisationen sowie der Arenen, mit denen Gemeinwesenarbeit zu tun hat. Zuvor werden Aufmerksamkeit und Öffentlichkeit in Kapitel 2 grundlegend thematisiert: Aufmerksamkeit als Anerkennung einerseits, als Beschämung und demütigende Überwachung andererseits (S. 27), als regulierte Aufmerksamkeit und der Kontrolle entzogene Aufmerksamkeit. Durch geteilte (vereinigte) Aufmerksamkeit entsteht Öffentlichkeit. Inwiefern etwas öffentlich gemacht wird, indem es der Aufmerksamkeit nicht länger verborgen wird und inwiefern „öffentlich“ ein sachbezogenes Attribut ist (im Sinne von nicht privat), wird hier ebenfalls beschrieben. Zur Leitdifferenz der Analyse von Beobachtungs- und Kommunikationsverhältnissen (in den Kapiteln 3 bis 5) wird „öffentlich“ versus „geheim“ (S. 31ff.). Um Bedingungen der Gestaltung von Arbeitsbeziehungen geht es zunächst auf der Ebene lokaler Begegnungen (Kap. 3): Die Regulierung von Aufmerksamkeit, unterschiedliche Rahmungsmöglichkeiten von Situationen, Inszenierungen und face work in Interaktionen werden als theoretische Konzepte am Beispiel alltäglicher Situationen eingeführt. Diese ausführlichen, ineinander übergehenden Schilderungen lesen sich — gerade auch für EinsteigerInnen — so anschaulich, dass die abstrakten Konzepte in den Hintergrund treten und von hier aus zum Nachdenken über alltägliche, vermeintlich unspektakuläre Schwierigkeiten in face-to-face-Begegnungen einladen. Sie führen hin zu der Problematik, wie man sich als SozialarbeiterIn über die Grenzen der Höflichkeit hinwegsetzt, ohne unhöflich zu werden und zu der „dramaturgischen Not“, in die man als KlientIn der Sozialen Arbeit gerät und die erhebliche Folgen für die Interaktion hat (S. 79ff.). Ebenso folgenreich sind die Beobachtungs- und Kommunikationsverhältnisse in Beziehungsnetzwerken und Organisationen (Kap. 4). Vertrauliche Mitteilungen erscheinen im Lichte der Erwiderungsdynamiken von Bekanntschaftsnetzwerken als massive Herausforderung an SozialarbeiterInnen, Diskretions- und Mitteilungspflichten abzuwägen. Noch einmal anders stellt sich Kommunikation in Organisationen dar: Entscheidungen und alles, was damit einhergeht, spielt sich in einer Verfahrensöffentlichkeit ab; dennoch kann es zu „Klientenklatsch“ kommen, der eher der Geselligkeit als fachlicher Reflexion dient (S. 139ff.). Der Zusammenhang von Interaktions-, Beziehungs- und Verfahrensöffentlichkeit wird am Beispiel gleichzeitiger Vertraulichkeitserwartungen dargestellt, „für deren Erfüllung oder Nichterfüllung das Rechtsinstitut der Schweigepflicht nicht der entscheidende Bezugspunkt ist“ (S. 130). Anschaulich wird dabei das Problem, das Hans Thiersch als „Ambivalenz in Selbstverständnis und Arbeitsarrangements der Sozialen Arbeit“ bezeichnet hat. Boettner bezieht es auf Vertrauensschutz und Wächteramt in der Kinder- und Jugendhilfe. Im fünften Kapitel zu den Öffentlichkeiten der Gesellschaft werden Prozesse der Konstruktion sozialer Probleme in den Handlungsarenen der Gemeinwesenarbeit analysiert, gestützt auf Praxiserfahrungen in den Neubrandenburger Stadtteilbüros Datzeberg und Oststadt. In der „Verknüpfungspraxis“ der Gemeinwesenarbeit greift das Prinzip der „ungebremsten Erweiterung des Kreises der Mitwisser und Mitsprecher“ (S. 145). Beim Thema Agenda-Building (was wird wie zur öffentlichen Angelegenheit) wird die Orientierung an den Impulsen und Bedürfnissen der BürgerInnen von paternalistischer Fürsorglichkeit deutlich abgegrenzt, ebenso von einer Orientierung an Fördermitteln und guten Beziehungen zu einflussreichen Akteuren des Gemeinwesens (S. 181ff.). Schließlich wird das Verhältnis von Vertraulichkeit und Transparenzgebot ausgeleuchtet, bezogen auf Verhandlungen mit verschiedenen kommunalen Partnern. Die Lektüre hat neben dem soziologischen auch einen professionsethischen Zug, jedoch mit einem gewissen Abstand zu den berufsethischen Prinzipien Sozialer Arbeit (der IFSW und des DBSH). Im Fokus steht — in interaktionistischer Tradition — „das Paradoxe, das Zerbrechliche, das Fehlerhafte des professionellen Handelns“ (Fritz Schütze 1996). Gleichwohl eröffnet sich darüber eine Perspektive auf gute professionelle Praxis, Studierenden ebenso wie SozialarbeiterInnen und Lehrenden.

Telefonseelsorge interdisziplinär

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Eberhard Hauschildt, Bernd D. Blömeke (Hrsg.) (2016)

(Arbeiten zur Pastoraltheologie, Liturgik und Hymnologie, Band 81) Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, ISBN 978-3-525-62435-7, 439 Seiten, 80,00 Euro (als eBook 64,99 Euro)

In Deutschland existiert ein 24/7-Gesprächsangebot der Telefonseelsorge, ermöglicht durch ein variables Netzwerk von bundesweit über 100 Telefonseelsorge-Stellen. Jede Stelle ist eine Welt für sich, nachhaltig geprägt durch die Gründergeneration mit einer regionalen Identität, abhängig und beeinflusst von unterschiedlichen Trägern. Mal ist es die evangelische oder die katholische Kirche, mal sind es beide in ökumenischer Eintracht oder ein Trägerverein. Wer sich dort auf den Weg macht, die Telefonseelsorge durch die Brille seiner eigenen Disziplin generalisierend in den Blick zu nehmen, um seriöse Erkenntnisse zu gewinnen, begibt sich auf ein äußerst unsicheres Gebiet. Dem ist ein gewisser Mut nicht abzusprechen. Das ist gewiss! Dem Klappentext von „Telefonseelsorge interdisziplinär“ ist zu entnehmen, dass die Beiträge dieses Werkes insbesondere zwei Leitfragen beantworten sollen: (1) Wie unterscheidet sich Telefonseelsorge von anderen Hilfehotlines, was charakterisiert sie? (2) Wie lassen sich die wesentlichen Elemente ihrer Arbeit präzisieren, die Anrufenden, Ehrenamtlichen, juristische und organisatorische Rahmenbedingungen? In den 60 Jahren seit Gründung der deutschen Telefonseelsorge seien zahlreiche Aufsätze, Handbücher und wissenschaftliche Arbeiten zumeist von „Insidern der Telefonseelsorge“ verfasst worden. Demgegenüber gehe es in „Telefonseelsorge interdisziplinär“ um externe Fachleute, um Soziologen, Psychologen, Literaturwissenschaftler, Juristen, Theologen und Organisationsberater, die aus ihrer Fachrichtung auf die Telefonseelsorge schauen und deren Arbeit reflektieren. Teils handelt es sich um Einzelbeiträge (21) oder sie stammen aus der Feder von zwei oder drei Verfassern (4). Der im Autorenverzeichnis erwähnte Thomas Kamm konnte keinem der Beiträge zugeordnet werden. Anders als der Klappentext vermuten lässt, handelt es sich bei den 12 Autorinnen und 16 Autoren nicht ausnahmslos um externe Fachleute, auch „Insider der Telefonseelsorge“ kommen zu Wort. So beantwortet etwa die von Bernd Blömeke wortgewandt gezeichnete biographische Karte der sich entwickelnden Telefonseelsorge eine Vielzahl von Fragen, die anderorts so weder gestellt noch beantwortet werden. Es ist eine Karte, die in eine bemerkenswerte Vision für „Telefonseelsorge 2020“ einmündet. Norbert Dietel erörtert kenntnisreich die ökumenische Geschichte der Telefonseelsorge mit allerlei Anekdoten, die diese lehrreich und fundiert veranschaulichen und konkretisieren. Martin Weimer befasst sich mit „Über seelsorgerliche Dauergespräche“ und kommt dabei sicher für manche aus dem Personal der Telefonseelsorge in der Tat zu verblüffenden Erkenntnissen, die diese dort oftmals negativ apostrophierte Gruppe der Hilfesuchenden in einem neuen Licht erscheinen lassen. Die diese gewissermaßen vom Kopf auf die Füße stellen. Dabei definiert der Autor die Telefonseelsorge als organisierte Mütterlichkeit: „Mit ihren drei grundlegenden Strukturmerkmalen, immer, überall und für alles da sein zu wollen, entspricht nun die TelefonSeelsorge tatsächlich exakt der Mutter des ersten Lebensjahres. TS kann darum eine Organisation primärer Mütterlichkeit genannt werden. Denn auch die Säuglingsmutter muss — aus der Perspektive des Säuglings gesehen — immer, überall und für alles da sein.“ (S. 167). Von den „externen Fachleuten“ sei das Resümee des Forscherteams um Martin Klein erwähnt, das auf der Grundlage einer statistischen Untersuchung der Hilfesuchenden unter anderem Impulse für die von Ehrenamtlichen erwarteten Kenntnisse und Fertigkeiten explizit anmahnt. Gerade dort, bei den externen Fachleuten, wird eine gewisse, sicher auch gebotene Vorsicht mal ausdrücklich geäußert oder scheint im Konjunktiv der Ergebnisse ihrer Studien zwischen den Zeilen durch. So erörtert etwa Friederike Heidland eben nicht die rechtlichen Aspekte der Telefonseelsorge, sondern überschreibt ihren Beitrag mit Gedanken zu deren rechtlichen Aspekten. Anders Christiane Burbach zu den „Genderperspektiven in der Telefonseelsorge“, deren Beitrag in eine positive Expertise einmündet: „Im Ganzen sollte jedoch abschließend auch vermerkt werden, dass die Telefonseelsorge unter Genderaspekt bisher ein Erfolgsmodell ist.“ (S. 332) Dabei meint die Autorin natürlich die Führungsetagen der Telefonseelsorge, nimmt eben nicht die Ehrenamtlichen in den Blick. Dort kann bei einem Verhältnis von vier (w) zu eins (m) wohl kaum von einem Erfolgsmodell die Rede sein. Die Verknüpfung der Disziplinen erfolgt in diesem Werk auffällig selten, eilend und flüchtig, per Querverweis oder in den die Einzelbeiträge schließenden Literaturhinweisen. Ein Diskurs der Disziplinen erfolgt noch nicht. Es liegt in den Händen der Telefonseelsorge, die in diesem Fachbuch verbrieften Erkenntnisse für die Gestaltung ihres variablen Netzwerkes zu nutzen, weitere Disziplinen zu ermutigen, die Telefonseelsorge in den Blick zu nehmen und in einen fruchtbaren Diskurs einzutreten. Ein Forschungsbedarf besteht ungebrochen, daran ist nicht zu zweifeln. Das ist ein Fazit aus dem Studium dieses Werkes. Weiterhin könnten diese Expertisen zugleich und vor allem die praktische Telefonseelsorge beeinflussen, die Qualifikation der Ehrenamtlichen und die Erreichbarkeit dieses Gesprächsangebotes.

Kurz und bündig

Pflege

Kommunen

Die Bertelsmann-Stiftung hat die Gestaltungsmöglichkeiten von Kommunen im Bereich Pflege untersucht: Trotz eingeschränkter rechtlicher Verantwortung von Kommunen im Pflegebereich können kommunale Pflegeakteure ambulante Versorgungsangebote stärken und ehrenamtliche Unterstützung fördern. Vier Ansätze zur Stärkung ambulanter Versorgungsstrukturen in der Pflege wurden identifiziert: Aufbau effektiver Vernetzungsgremien vorantreiben, Gestaltungsmöglichkeiten der Kommunalverwaltung aktiv nutzen, Kommunale Investoren- und Trägerberatung strategisch ausrichten sowie Auszeiten für pflegende Angehörige durch Tagespflege ermöglichen.

Mehr: www.bertelsmann-stiftung.de

Kongress

Positive Psychologie

Positive Psychologie ist die Wissenschaft vom gelingenden Leben. Als Forschungsgebiet der Psychologie untersucht sie, was Wohlbefinden fördert und wie Menschen ihre Stärken einsetzen können, um Arbeits- und Lebenszufriedenheit zu erleben. Der deutschsprachige Dachverband für Positive Psychologie (DACH-PP) organisiert vom 17. bis 18.9.2016 in Berlin seinen ersten Kongress. Der Kongress findet an der FU Berlin unter Schirmherrschaft von Univ.-Prof. Dr. Michael Eid statt und zeigt, wie sich die Positive Psychologie sinnvoll und praxisnah anwenden lässt, etwa in Führung und Zusammenarbeit, in der Gesundheitsförderung und im Coaching, in Erziehung und Bildung. An beiden Tagen präsentieren sowohl Anwender als auch Forscher auf dem Gebiet der Positiven Psychologie ihre Arbeit in unterschiedlichen Veranstaltungen. Der Kongress richtet sich an alle, die nicht nur wissen wollen, was Burnout und Krankheit verhindert, sondern was Zufriedenheit, Engagement, positive Zusammenarbeit und Gesundheit fördert. Die Teilnehmer erwartet ein vielfältiges Programm aus Kurzvorträgen, Workshops und Keynotes namhafter Forscher.

Mehr: www.dach-pp.eu/kongress-2016

Tagung

Streetwork

Vom 13. bis 16.9. findet in Eisenach die 31. Bundesweite Streetworktagung statt. Sie steht unter dem Thema „Streetwork als Wächterin der Menschenrechte: Ethik und Auftrag eines innovativen Arbeitsfeldes“. Wer sich für Beteiligung und Stärkung unterprivilegierter Personengruppen einsetzt, kommt sehr schnell an argumentative Grenzen. Soziale Leistungen werden nicht mehr zum Ausgleich sozialer Benachteiligungen gewährt, sondern ihnen liegt in der Logik des Gebenden immer ein Tauschhandel zu Grunde: fördern und fordern — wer fördert, darf auch fordern. Ethische Grundlagen Sozialer Arbeit werden u.a. durch Sanktionen und Ablehnung sozialer Leistungen auf die Probe gestellt. Die Tagung bietet Raum für Debatten, kritische Auseinandersetzungen und möchte Mut machen, sich öffentlich gegen aktuelle Ressentiments zu stellen.

Mehr / Programm: http://www.bundesarbeitsgemeinschaft-streetwork-mobile-jugendarbeit.de