Akademisierung hat sich bezahlt gemacht Die Reformen, die in den 1970er Jahren den Durchbruch der Sozialen Arbeit zu ‚akademischen Würden’ eingeläutet haben, konnten es bisher nicht verhindern, dass die Souveränität und Integrität der Profession noch immer auf dem Prüfstand stehen — nicht so sehr von außen, also von der Politik oder anderen Berufsgruppen und Fachkulturen, sondern von den Protagonisten der Theorie und Praxis, also von uns, den AkteurInnen, der Sozialen Arbeit selbst. Soziale Arbeit wird immer noch als eine relativ junge, methodisch wie organisatorisch hybride Disziplin und Profession empfunden, die sich — und das ist die erfreuliche Seite an der Sache — in einer Pluralität von Perspektiven, Konzepten und Ideen ausdrückt und kommuniziert.

Die Soziale Arbeit ist, dies ist schnell zu erkennen, gut aufgestellt. Sowohl in Bezug auf die Qualifizierungsformen wie auch bezüglich der Praxisfelder, von der Forschung, die sich im zurückliegenden Jahrzehnt enorm entwickelte, bis hin zur Theoriebildung, geht es ihr blendend. Zur Verdeutlichung: Im Feld des Sozialen arbeiten gegenwärtig ungefähr 1,4 Millionen Beschäftigte — davon 73 Prozent bei privatgemeinnützigen, 22 Prozent bei den öffentlichen und fünf Prozent bei privat-gewerblichen Trägern. Allen gegenläufigen Prognosen zum Trotz ist die Soziale Arbeit weiterhin ein expandierendes Handlungsfeld: Dem „Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung“ (IAB) zufolge arbeiteten Mitte 2009 im Bereich „Erziehung und Unterricht“ 4,2 Prozent und im „Gesundheits- und Sozialwesen“ 3,8 Prozent mehr Beschäftigte als noch ein Jahr zuvor. Insgesamt sind in den Arbeitsmarktsegmenten „Erziehung, Unterricht“ und „Gesundheit und Soziales“ am Ende des ersten Jahrzehnts 4,4 Millionen Beschäftigte sozialversicherungspflichtig tätig.

Soziale Arbeit spielt im Konzert der Bildungs-, Gesundheits- und Sozialberufe keineswegs eine marginalisierte Rolle. Ihre Konsolidierung und Expansion stabilisiert und konturiert wesentlich den individuums- und lebensweltbezogenen Dienstleistungsbereich. Und auch das Projekt der Professionalisierung kann auf eine durchaus beachtliche Entwicklung zurückblicken. Die Soziale Arbeit hat sich im zurückliegenden Jahrhundert zu einem ausgedehnten, vielschichtigen Praxisfeld entwickelt, das zudem auch qualifiziert gestaltet wird.

Die Akademisierung hat sich also bezahlt gemacht — das ist die Grundaussage aller Autoren dieses Schwerpunkts, trotz der Skepsis der Praxisträger, trotz der Vorbehalte der traditionellen Fachdisziplinen, trotz anhaltender, aber inzwischen von gegenseitiger Akzeptanz getragener Revierkämpfe zwischen Unis und FHs… Das Fach hat die zwei Reformwellen, die große Hochschulreform der 1970er Jahre und die Bologna-Reform um die Jahrtausendwende, nicht nur überlebt, sondern ist mit Gewinn aus ihnen hervorgegangen. Dies gibt zu der Hoffnung Anlass, dass auch die nächsten Reformwellen, die nicht ausbleiben können, die noch verbliebenen Desiderate ausräumen werden.

Was diese Fortschritte bedeuten, lässt sich besonders gut nachvollziehen, wenn man sie vor der Folie der Erfahrungen vorangegangner Generationen betrachtet. Dem inzwischen emeritierten Tübinger Sozialarbeiter und Hochschullehrer Siegfried Müller verdanken wir einen anschaulichen Rückblick: „Als ich 1965, nach einer Lehre, einer nachträglich erworbenen mittleren Reife und einer mehrjährigen Berufstätigkeit in der Industrie an einer Ev. Höheren Fachschule in Nordrhein-Westfalen meine Ausbildung als Sozialarbeiter begann, wusste ich kaum, was mich dort erwartete. Vom Beruf des Fürsorgers hatte ich nur vage Ahnung. Ich konnte mich lediglich daran erinnern, daß das Auftauchen dieser Personen in der Nachbarschaft während meiner Jugendzeit als kein gutes Zeichen galt und die Eltern mit ihnen drohten, wenn sie mit ihrem erzieherischen Latein mal wieder am Ende waren. Das erste Ausbildungsjahr galt als Probejahr. Danach wurde in einer Konferenz der Lehrenden entschieden, wer zur Fortsetzung der Ausbildung zugelassen wurde. Mit diesem Damoklesschwert im Bewußtsein gingen wir nach sechs Monaten Unterricht in das erste halbjährige Praktikum. Ich landete mit zwei anderen Schülern in einem ortsnahen geschlossenen Fürsorgeheim mit eigener Landwirtschaft und angeschlossenen Produktionsstätten. Der Heimleiter war ein Diakon und legte Wert darauf, mit Hausvater angeredet zu werden. Ich wurde von heute auf morgen zum ’Bruder Müller’ und einem Gruppenleiter unterstellt, der als Hauptmann der Wehrmacht nach einer Reihe von erfolglosen Versuchen, in der Wirtschaft Fuß zu fassen, hier eine Heimat gefunden hatte und gelegentlich von den heldenhaften Kämpfen deutscher Fallschirmspringer auf Kreta berichtete. Auch das Heimleben war für ihn eine Art Lebenskampf: nicht unterkriegen lassen und den Zöglingen gleich und jeden Tag aufs Neue deutlich machen, wer hier das Sagen hatte und was Disziplin und Ordnung im Leben bedeuten.“ (Müller 1999, S. 107 ff.)

So war es also vor der Reform, vor wohlgemerkt erst 50 Jahren — und damit durchaus noch im Bewusstsein der ‚Alten’ lebendig. In 50 Jahren werden die Nachgeborenen darüber staunen, wie viel Missbrauch, Rückschrittlichkeit und Skandale es auch noch nach der Reform gegeben hat. In diesem Schwerpunkt werden deshalb nicht nur stolz und selbstbewusst Erfolge und Fortschritte referiert, sondern es wird auch zum Nachdenken darüber eingeladen, was alles noch zu erledigen ist.