Einleitung

Die Coronapandemie und damit verbundene SchutzmaßnahmenFootnote 1 haben seit 2020 drastische Auswirkungen auf das alltägliche gesellschaftliche Leben weltweit [14]. Bewegungsmangel zählt zu den führenden Risikofaktoren für nicht-übertragbare Krankheiten und verursacht hierzulande etwa 7,5 % aller Todesfälle [19]. Im Jahr 2018 bewegte sich mehr als jeder zweite deutsche Erwachsene zu wenig, womit Deutschland auf Platz 15 der inaktivsten Länder weltweit lag [12]. Es stellt sich die Frage, wie sich die coronabedingten Maßnahmen auf das Bewegungsverhalten der deutschen Bevölkerung auswirken und ob es unterschiedliche Entwicklungen zwischen sportaffinen und nicht-sportaffinen Personen gibt.

Aktueller Forschungsstand

Bewegungsausmaß

Während der ersten Coronawelle zeigt sich bei Erwachsenen weltweit eine Tendenz hin zu einem geringeren oder gleichbleibenden Bewegungsausmaß [8, 17, 20]. Gemessen an der Zahl derjenigen, die das von der WHO empfohlene Mindestmaß an Bewegung erreichen (150 min/Woche ausdauerorientierte Aktivitäten und an mindestens 2 Tagen/Woche muskelstärkende Aktivitäten), wird im Rahmen des „German COVID-19 Snapshot Monitoring“ (COSMO) im April 2020 jedoch nur ein leichter Rückgang von 22,6 % im Jahr 2014/15 auf 22,3 % festgestellt [5]. Eine italienische Studie kommt mit einem Rückgang von 34,9 % auf 24,6 % allerdings zu höheren Rückgängen. Zudem haben sich die transportbezogenen Aktivitäten durch die Coronapandemie mehr als halbiert und die durchschnittliche Zeit, die mit Sport und Bewegung in der Freizeit verbracht wird, sinkt ebenfalls signifikant um knapp 30 % [13]. Auch eine weltweite Online-Befragung belegt während der Coronapandemie in allen Bewegungsbereichen signifikant niedrigere Aktivitätswerte im Vergleich zu davor. Vor allem die Gehaktivitäten nehmen mit Verringerungen von bis zu 42 % stark ab. Allgemein sinkt das Bewegungsausmaß signifikant um 38 % [1].

Unterschied zwischen sportaffinen und nicht-sportaffinen Personen

Unter sportaffin sind Personen zu verstehen, die vor der Coronapandemie das empfohlene Mindestmaß an Bewegung erreichen, die Bewegungsaktivitäten also einen hohen Stellenwert in ihrem Lebensstil zuweisen. Bezüglich unterschiedlicher Auswirkungen der Coronapandemie auf sportaffine und nicht-sportaffine Personen besteht in der aktuellen Forschungsdiskussion keine Einigkeit.

Während z. T. davon ausgegangen wird, dass zuvor aktive Personen ihr Bewegungsausmaß weiter erhöhen und inaktive sich weniger bewegen ([15]; sog. Schereneffekt), belegen andere Studien eine genau gegenteilige Entwicklung und weisen für sportaffine Personen eine Verringerung und für nicht-sportaffine Personen eine Erhöhung des Bewegungsausmaßes [6, 9] bzw. gleichbleibendes Aktivitätsausmaß [13, 16, 17] nach.

Andere Studien kommen zum Ergebnis, dass zuvor Inaktive ihre Bewegungsaktivitäten erhöhen und zuvor Aktive ihr Aktivitätsniveau beibehalten [7, 10]. Aufgrund der jeweiligen Anzahl an veröffentlichten Studien zeigt sich insgesamt eine Tendenz zu einer Bewegungsabnahme bei sportaffinen und einem gleichbleibendem oder leicht angestiegenen Bewegungsausmaß bei nicht-sportaffinen Personen.

Psyche

In bislang publizierten Forschungsarbeiten zu Zusammenhängen zwischen dem Bewegungsverhalten und der psychischen Gesundheit während der Coronapandemie wird eine negative Veränderung des Aktivitätsausmaßes mit einem schlechteren positiven Wohlbefinden sowie mit einer erhöhten Auftrittswahrscheinlichkeit von Depressionen, Angst oder Stress assoziiert [2, 4, 16].

Relevanz und Fragestellungen der Studie

Untersuchungen zu den Auswirkungen der Coronapandemie auf das Bewegungsverhalten in Deutschland sind bisher noch limitiert und es existieren nur wenige Forschungsarbeiten, die dabei den Einfluss der Sportaffinität berücksichtigen. Die vorliegende Studie untersucht daher die coronabedingte Veränderung des Bewegungsverhaltens deutscher Erwachsener und geht dabei schwerpunktmäßig auf mögliche Unterschiede zwischen sportaffinen und nicht-sportaffinen Personen ein. Da Infektionskrankheiten und Pandemien auch im sportwissenschaftlichen Kontext als eine der größten globalen Bedrohungen des 21. Jahrhunderts gelten, ist eine Analyse der Auswirkungen der Coronapandemie auf gesundheitliche Verhaltensweisen von sehr hoher Relevanz [18]. Die Ergebnisse können helfen, das Verhalten der Menschen in ähnlichen Situationen besser vorherzusagen und dadurch gezieltere gesundheitsfördernde Maßnahmen einzusetzen, um dem weltweit vorherrschenden Bewegungsmangel auch in Krisenzeiten entgegenwirken zu können. Konkret werden folgende Fragestellungen (FS) behandelt:

FS 1.

In welchem Ausmaß hat sich das Bewegungsverhalten in den unterschiedlichen Aktivitätsdomänen durch die Coronapandemie verändert?

FS 2.

Welche Zusammenhänge zeigen sich zwischen dem Aktivitätsausmaß und der psychischen Gesundheit während der Coronapandemie?

Methodik

Design

Die Feldstudie basiert auf einer quantitativen, querschnittlichen Datenerhebung eines „convenient samples“ in Form einer anonymen, internetgestützten Befragung. Die Datenerhebung wurde mit in Deutschland lebenden Erwachsenen vom 5. bis 25. Mai 2021 durchgeführt.

Untersuchungsstichprobe

Die statistischen Analysen basieren auf einer Stichprobe von 329 Probanden (w: 63,5 %, m: 36,5 %; Altersverteilung: 18–39 Jahre [60,5 %], über 40 Jahre [39,5 %]; Schulabschluss: mindestens (Fach‑)Abitur [76,6 %]). 256 Probanden erfüllen mindestens eine der Bewegungsempfehlungen der WHO (mindestens 150 min/Woche ausdauerorientierte und/oder an mindestens 2 Tagen/Woche muskelkräftigende Aktivitäten) und gehören somit der sportaffinen Teilstichprobe an, wohingegen 68 Personen das Mindestmaß an Bewegung nicht erreichen und als nicht-sportaffin eingestuft werden. Die sportaffine Gruppe wird weiter untergliedert in AGAusdauer (= Erreichen ausdauerorientierte Bewegungsempfehlung, n = 95) und AGbeide (= Erreichen beide Bewegungsempfehlungen, n = 151).

Erhebungsmethoden und Datenauswertung

Das Bewegungsausmaß vor und während der Coronapandemie wird mit dem European Health Interview Survey – Physical Activity Questionnaire (EHIS-PAQ) erfasst [11]. Um Zusammenhänge zwischen dem Aktivitätsausmaß und der psychischen Gesundheit während der Coronapandemie aufdecken zu können wird mit der Short Warwick-Edinburgh Mental Wellbeing Scale (SWEMWBS; [3]) die Höhe des allgemeinen mentalen Wohlbefindens während der Coronapandemie ermittelt sowie die Auftrittswahrscheinlichkeit der Gefühle Einsamkeit, Stress, Ängstlichkeit und Depression abgefragt.

Die Datenanalyse findet mittels χ2-Tests nach McNemar für nominal skalierte Merkmale sowie mittels Varianzanalysen mit Messwiederholung für intervallskalierte Variablen statt. Zur Überprüfung eines statistisch signifikanten Zusammenhangs zwischen der Veränderung des Bewegungsverhaltens und der psychischen Gesundheit wird der Korrelationskoeffizient nach Pearson bzw. der Eta- (η‑)Korrelationskoeffizient berechnet. Um Effekte der soziodemografischen Variablen zu kontrollieren, werden in allen Unterschiedsanalysen, Geschlecht, Alter und Bildung als Kovariate berücksichtigt.

Darstellung der Ergebnisse

Ausmaß

Bei einer allgemeinen Abfrage zur Veränderung des Aktivitätsausmaßes geben 50,5 % der Befragten an, sich durch die Coronapandemie weniger zu bewegen. Demgegenüber liegt der Anteil derer, die ihr Aktivitätsniveau beibehalten bzw. erhöhen bei je etwa einem Viertel (23,7 % bzw. 25,8 %). Diese Tendenz wird durch die detaillierte Auswertung des EHIS-PAQ-Fragebogens bestätigt (vgl. Tab. 1). So werden sowohl für transportbezogene Aktivitäten als auch für freizeitbezogene, ausdauerorientierte und muskelkräftigende Aktivitäten signifikante Rückgänge zwischen den beiden Zeiträumen nachgewiesen. Bei den gesamten ausdauerorientierten Aktivitäten (Radfahren und freizeitbezogene Aktivitäten) ist somit ein signifikanter Rückgang um 56,81 min/Woche zu konstatieren.

Tab. 1 Aktivitätsausmaß vor und während der Coronapandemie in den unterschiedlichen Aktivitätsdomänen

Zudem können auch hinsichtlich der Erfüllung der Bewegungsempfehlungen der WHO signifikante Veränderungen durch die Coronapandemie dokumentiert werden. Die prozentualen Anteile derer, die mindestens 150 min/Woche aktiv sind (v: 75,9 %; w: 62 %), mindestens an 2 Tagen/Woche muskelkräftigende Übungen durchführen (v: 50,5 %; w: 40,4 %) oder beide Mindestempfehlungen erfüllen (v: 46,6 %; w: 35,5 %) sind durch die Coronapandemie signifikant mit mittlerer Effektstärke gesunken (χ2 [1] = 22,25***; V = 0,41; χ2 [1] = 9,39**; V = 0,35; χ2 [1] = 11,78**; V = 0,35 [***p < 0,001; **p < 0,01)]). Dem gegenüber steigt der Anteil derer, die keine der Mindestempfehlungen erreichen von 20,7 % auf 32,8 % signifikant an (χ2 [1] = 17,28***; V = 0,35 [***p < 0,001]).

Unterschied sportaffin – nicht-sportaffin

Wird zwischen den Aktivitätsgruppen AGkeine, AGAusdauer und AGbeide unterschieden, zeigen sich sowohl für die ausdauerorientierten Aktivitäten (F [2,308] = 11,87***; η2 = 0,07) als auch für die muskelstärkenden Aktivitäten (F [2,308] = 33,03***; η2 = 0,18) signifikante Unterschiede bezüglich der coronabedingten Veränderung des Bewegungsverhaltens. Das Gesamtausmaß der aeroben Aktivitäten sinkt in der AGbeide bzw. AGAusdauer um etwa 2 h/Woche bzw. 1 h/Woche deutlich (Abb. 1a). Im Gegensatz dazu ist in der AGkeine – die zuvor mit einer durchschnittlichen Aktivitätszeit von knapp 70 min/Woche das Mindestmaß an Bewegung nicht erreicht – eine starke Erhöhung um 100 min/Woche zu verzeichnen, wodurch sie während der Coronapandemie mit etwa 170 min/Woche knapp über dem empfohlenen Mindestmaß liegt.

Abb. 1
figure 1

Graphische Darstellung der Bewegungsaktivitäten vor und während der Coronapandemie in unterschiedlichen Aktivitätsgruppen (N = 314; n AGkeine = 68; n AGAusdauer = 95; n AGbeide = 151): a ausdauerorientierte Aktivitäten (in min/Woche), b muskelstärkende Aktivitäten (in Tagen/Woche)

In Bezug auf die Tage, an denen muskelkräftigende Übungen durchgeführt werden, ist in der AGbeide eine signifikante Abnahme von etwa 3 auf 2 Tagen/Woche zu verzeichnen, während die beiden anderen Gruppen – die vor der Coronapandemie die Bewegungsempfehlungen von mindestens 2 Tagen/Woche Krafttraining nicht erreicht haben – während der Pandemie im Durchschnitt etwa einen halben Tag pro Woche häufiger muskelkräftigende Übungen machen (Abb. 1b). Die AGbeide ist zwar auch während der Coronapandemie die aktivste Gruppe bezüglich der ausdauerorientierten und muskelstärkenden Aktivitäten, jedoch verringert sich der Abstand zwischen den Gruppen durch die Coronapandemie.

Psyche

Eine weitere wichtige Erkenntnis dieser Arbeit ist, dass die Veränderung des Bewegungsausmaßes in Krisensituationen wie der Coronapandemie ein entscheidender Faktor in Bezug auf die psychische Gesundheit zu sein scheint. Ein durch die Pandemie verringertes Bewegungsausmaß korreliert signifikant positiv mit einem schlechteren mentalen Wohlbefinden (|r| = 0,123*) sowie mit höheren Einsamkeits‑, Stress- und Depressionssymptomen (|r| = 0,131*; |r| = 0,113*; |r| = 0,137*). Mehr als jeder Zweite, der sein Bewegungsausmaß während der Coronapandemie verringert hat, gibt eine Verschlechterung des mentalen Wohlbefindens an, wohingegen nur 3,2 % dieser Gruppe eine bessere psychische Gesundheit aufweisen. Im Gegensatz dazu, berichtet in der Gruppe, die ihr Bewegungsausmaß durch die Coronapandemie erhöht hat, etwa jeder 4. (23,7 %) von einem verbesserten mentalen Wohlbefinden.

Diskussion

FS 1

Übereinstimmend mit bisherigen Forschungserkenntnissen [8, 17, 20] gibt auch in vorliegender Untersuchung etwa die Hälfte der Befragten an, sich durch die Coronapandemie weniger zu bewegen. Die Aktivitätswerte sind in vorliegender Befragung zwar während beider Zeiträume höher als in vorangegangenen Studien [13], jedoch ist eine vergleichbar hohe Abnahme des Bewegungsausmaßes in allen Aktivitätsdomänen zu verzeichnen. In Bezug auf die pandemiebedingte Veränderung des prozentualen Stichprobenanteils, der die Bewegungsempfehlungen erfüllt, kommt vorliegende mit einem Rückgang um etwa 10 % zu ähnlichen Ergebnissen wie bisherige Befragungen [13]. Das abweichende Ergebnis der COSMO-Studie im April 2020 [5] lässt vermuten, dass sich die Coronapandemie anfangs noch nicht so stark auf das Bewegungsverhalten ausgewirkt hat und erst nach einem längeren Lockdown signifikante Veränderungen zu erkennen sind.

Vorliegende Untersuchung zeigt eine Verringerung des aeroben Bewegungsausmaßes bei sportaffinen Personen und eine Erhöhung des Bewegungsausmaßes in der nicht-sportaffinen Gruppe und lässt sich damit neben folgenden Forschungsarbeiten einordnen [6, 9]. Die einzige deutsche Studie [17], die Unterschiede zwischen aktiven und inaktiven Personen untersucht, geht ebenfalls von einer Reduktion in der sportaffinen, allerdings von einem gleichbleibendem Bewegungsausmaß in der nicht-sportaffinen Gruppe aus.

FS 2

Die Vermutung, dass die Veränderung des Bewegungsverhaltens mit dem psychischen Wohlbefinden korreliert, wird durch die Berechnung von Pearson-Korrelationen sowie durch die Erkenntnisse aktueller Studien [2, 4, 16] bestätigt. So ist eine Steigerung des aeroben Aktivitätsausmaßes signifikant mit einer besseren psychischen Gesundheit sowie mit geringeren Stress‑, Einsamkeits‑, Angst- und depressiven Symptomen verbunden. Da die AGbeide auch während der Coronapandemie noch die höchsten Aktivitätswerte, jedoch die schwächste psychische Gesundheit aufweist, wird vermutet, dass in Krisensituationen wie der Coronapandemie v. a. die Veränderung des Bewegungsverhaltens und nicht die Höhe des Aktivitätsausmaßes ein entscheidender Faktor in Bezug auf die psychische Gesundheit ist. Personen, die sich durch die Coronapandemie mehr bewegen, weisen unabhängig von der Dauer und Häufigkeit eine bessere mentale Gesundheit auf als Leute, bei denen das Bewegungsausmaß abnimmt. Allerdings muss in Bezug auf die Erkenntnisse zum Zusammenhang des Bewegungsverhaltens mit der psychischen Gesundheit beachtet werden, dass diese Korrelation beidseitig besteht. Es bleibt somit offen, ob die Höhe des Aktivitätsausmaßes das mentale Wohlbefinden beeinflusst oder der Zustand der psychischen Gesundheit das Bewegungsverhalten.

Fazit für die Praxis

  • Aufgrund des starken Bewegungsrückgangs durch die Coronapandemie sollten besonders in Krisenzeiten die positiven Aspekte von Bewegung herausgestellt und aktiv zu Sport und Bewegung aufgefordert werden.

  • Da sich v. a. in Bezug auf die sportaffinen Gruppen negative Auswirkungen der Coronapandemie zeigen, sollten z. B. anhand von gemeinsamen Online-Trainings Alternativen gestaltet werden, die auch während eines Lockdowns den Spaß am Sport aufrechterhalten.

  • Die nachgewiesene Korrelation der Veränderung des Bewegungsausmaßes mit psychischer Gesundheit verdeutlicht, dass Bewegungsförderung v. a. in psychisch herausfordernden Pandemiezeiten ein hilfreiches Mittel zur Stabilisierung des mentalen Wohlbefindens darstellt.

  • Die Steigerung des Aktivitätsausmaßes in der nicht-sportaffinen Gruppe verdeutlicht, dass Krisensituationen auch positive Auswirkungen auf das Bewegungsverhalten erzielen können. Hier sollte versucht werden, diese Entwicklung auch nach der Coronapandemie beizubehalten.