Einleitung

Prozessorientierte Forschung ist ein wichtiger Bestandteil der modernen psychotherapeutischen und klinischen Forschung. Dennoch bleibt noch viel zu tun, um therapeutische Prozesse bei der Behandlung chronischer Krankheiten (z. B. Depression, Adipositas, Erschöpfung) vollständig zu verstehen. Insbesondere die Untersuchung therapeutischer Mikroprozesse, kleiner, aber wesentlicher Aspekte der Interaktion zwischen Ärzt*in und Patient*in (vor allem der Mikroausdrücke im Gesicht), bietet vielversprechende Einblicke in die Mechanismen der Therapie und ermöglicht die Identifizierung spezifischer Faktoren, die für eine erfolgreiche Behandlung wesentlich sind.

Die Behandlung chronischer Krankheiten und deren Verlauf in klinischen Situationen beruht traditionell auf „nomothetischen“ Messungen mit vorgegebenen Items und Kriterien auf der Grundlage von Normen und Durchschnittswerten, die aus früheren Daten auf Bevölkerungsebene gewonnen wurden [3] und dann einheitlich auf jeden Patienten angewendet werden [18]. Ein solcher Standardansatz wurde ausgiebig kritisiert, vor allem wegen seiner Unflexibilität und der Unmöglichkeit, sich an spezifische Ziele anzupassen, die für einen bestimmten Patienten möglicherweise am wichtigsten sind, oder wegen der unterschiedlichen Interpretation bestimmter Elemente durch einzelne Patienten [13]. Die Einbeziehung von Patient*innen/der Öffentlichkeit in allen Phasen der Forschung und ein partizipatives Design, das Daten aus dem wirklichen Leben und/oder „idiografische“ Methoden und Messungen umfasst, können dazu beitragen, diese Lücke zu schließen. Definitionsgemäß beinhalten solche Ansätze die Messung von Veränderungen und Variationen im Laufe der Zeit oder über verschiedene Kontexte hinweg bei einem Individuum in Bezug auf spezifische Variablen und Items, die entweder vom Patienten ausgewählt oder aus individuell zugeschnittenen Bewertungsstimuli/Kontexten abgeleitet wurden, um ihre Relevanz für das jeweilige Individuum zu maximieren [3, 10].

Was die Behandlungsbeziehung betrifft, so sind eine Reihe von nonverbalen Ereignissen unbewusst und können oft den emotionalen und psychischen Zustand eines Patienten/einer Patientin in einer Weise vermitteln, wie es die verbale Kommunikation nicht kann [16]. Darüber hinaus gibt es in jeder zwischenmenschlichen Interaktion eine große Anzahl und Vielfalt von Gesichtsausdrücken [19], und viele der sichtbaren Ausdrücke in Gesprächen zwischen zwei oder mehreren Personen sind mehrdeutig oder werden sehr bewusst kontrolliert. Mikroausdrücke hingegen können weder kontrolliert noch freiwillig gezeigt werden und bieten daher einen validen und authentischen Einblick in die echten Gefühle und Emotionen einer Person. Sie dauern nur eine Viertel- bis eine halbe Sekunde [9], können als verdrängte oder unbewusste Gefühlsäußerungen verstanden werden [7, 17] und haben, wenn sie von Klinikern angemessen angesprochen werden, positive Auswirkungen auf das Arbeitsbündnis zwischen behandelndem Kliniker und Patient, was für den Behandlungserfolg entscheidend ist [4], sowie auf die Therapietreue an sich. Darüber hinaus wurde festgestellt, dass Therapiesitzungen mit einem höheren Maß an nonverbaler Mikroaffektivität einen größeren Einfluss auf den Behandlungserfolg haben [1].

Unter diesem Gesichtspunkt könnten die üblichen Methoden zur Analyse des Zusammenspiels zwischen Kognition und Affekt unvollständig sein, da sie die sprachlosen Formen des affektiven Ausdrucks nicht erfassen. Daher ist es von entscheidender Bedeutung, den Zusammenhang zwischen verbalen Interventionen/Anweisungen und den dadurch ausgelösten unwillkürlichen Mikroausdrücken im Gesicht zu untersuchen, insbesondere in Bezug auf das Arbeitsbündnis. Dies ermöglicht ein besseres Verständnis effektiver therapeutischer Interaktionen und kann helfen, mehrdeutige verbale/nonverbale Botschaften zu identifizieren.

Im Hinblick auf die kognitiven Aspekte der Interaktionen zwischen Patient und Therapeut müssen aber auch Überzeugungen und die Wahrnehmung von Krankheit berücksichtigt werden. Da die Interaktionen im „wirklichen Leben“ stattfinden, mit nur begrenzten Möglichkeiten zur Reflexion und Analyse des Geschehens, besteht ein großer Bedarf an Instrumenten, die in der Lage sind, metakognitive Prozesse zu erkennen. Insgesamt sollte die kognitive und affektive (Selbst‑)Regulation in therapeutischen Interaktionen, insbesondere bei Patienten mit chronischen Erkrankungen, gestärkt werden, um Verinnerlichungsprozesse eines gesunden Lebensstils anzuregen oder chronische Zustände angemessen und nachhaltig zu verändern.

Fortschritte in der Forschung und in der Gesundheitsversorgung haben die krankheitsbedingte Sterblichkeit verringert und die Lebenserwartung in den Industrieländern verlängert. Patienten mit chronischen Erkrankungen (z. B. Depressionen, Fettleibigkeit, Müdigkeit) müssen jedoch häufig ihre Erwartungen, ihren Lebensstil und ihre Beschäftigung anpassen, was zu langwierigen Belastungen und der Entwicklung psychiatrischer Störungen führt, am häufigsten Depressionen, Angstzustände oder Schlafstörungen [2]. Affektive Störungen beeinflussen auch den Schweregrad somatischer Störungen und die Entwicklung chronischer Erkrankungen bei Patienten mit einer vorbestehenden psychischen Erkrankung. Dies kann zu einer Verschlimmerung ihrer Symptome und einer zunehmenden Verschlechterung ihrer Funktionsfähigkeit führen. Ebenso kann das Auftreten neuer Symptome bei einem Patienten, dessen chronischer Zustand zuvor stabil war, auf das Vorhandensein einer psychischen Störung hinweisen. Eine prospektive Studie über die Aufnahmediagnosen von Patienten in der Allgemeinmedizin ergab, dass 13 % der Männer und 17 % der Frauen eine affektive Störung aufwiesen [15]. Der Anteil der Patienten mit Erkrankungen wie Diabetes, Fettleibigkeit oder rheumatoider Arthritis, die an einer affektiven Störung leiden, liegt zwischen 20 und 25 % [8].

Komplexität des Menschen und Annäherung der Technik

Bekannte Faktoren für die Non-Adhärenz sind: krankheitsspezifischer Leidensdruck, depressive Störungen, posttraumatische Belastungsstörung, Vermeidungsverhalten, das Gefühl mangelnder Kontrolle, Merkmale des Behandlungsschemas, Chronizität [12]. Vor allem ein Mangel an Empathie und Informationen sowie ein Mangel an Vertrauen haben sich als Risikofaktoren für Non-Adhärenz [12] sowie für eine Abnahme der Resilienz erwiesen.

Daraus ergibt sich die Forderung nach einem geeigneten eHealth-Feedbacksystem für Patienten mit chronischen Erkrankungen, beginnend mit Face-Reading-Feedbacktechniken (zur Identifizierung von Mikro-Gesichtsausdrücken), der Einbeziehung von kognitiver Regulierung in Echtzeit und subjektiv erlebten Merkmalen (z. B. durch Beantwortung von Fragebögen auf digitalen Geräten) unter realen Bedingungen, im Rahmen von genauen Datenschutzregeln. Dieser Betreuungsansatz ermöglicht die Verinnerlichung und den Aufbau von epistemischem Vertrauen innerhalb eines partizipativen Forschungsdesigns und in Richtung Echtzeit-Feedback, was derzeit eine Forschungslücke darstellt [11]. Aber ist dies tatsächlich hilfreich für den Patienten?

eHealth und die Bedeutung für die Patient*innen

Wenn es um die Etablierung von eHealth-Konzepten, beispielsweise Feedbacktechniken zur Erhöhung der Adhärenz geht, stellt sich die Frage, ob „epistemic trust“, wie Vertrauen in die Authentizität und persönliche Relevanz des zwischenmenschlich vermittelten Wissens, durch ein realtime monitoring aufgebaut werden kann. Da bekanntermaßen die subjektive Bewertung der Krankheit und die subjektive Krankheitstheorie ausschlaggebend für die Behandlung sind, sind diese Faktoren mittlerweile operationalisiert [14]. Wie sich die unbewussten Faktoren genauer fassen lassen, ist konzeptualisiert [20]. Doch wie können diese abgebildet und durch mathematische Simulation dargestellt der Komplexität des Menschen gerecht werden?

Komplexität – ein Fallbeispiel

Der 52-jährige FS ist Zeitungszusteller, der in Nachtschichten arbeitet und mit seiner Frau zusammenlebt; sie haben drei Kinder. Er wurde von der Schmerzklinik an die psychiatrische Klinik (Tertiärzentrum, Medizinische Universität Wien) überwiesen, nachdem er 36 Jahre lang chronische Schmerzen hatte und mehrere Ärzte (Allgemeinmediziner, Neurologen, Anästhesisten und Orthopäden) mit demselben Gesundheitsproblem aufgesucht hatte, ohne dass es trotz wiederholter und gründlicher Untersuchung der Systeme eine somatische Erklärung gab – keine Therapie hatte angeschlagen. Seine derzeitigen Beschwerden sind Schmerzen im ganzen Körper, insbesondere in den Gelenken, der Kopfhaut und der (papillären) Brust. Außerdem klagte er über Zahnfleischparästhesien, Schluckbeschwerden, Verdauungsprobleme und chronische Schlafstörungen. Der Patient ist recht gesprächig, selbstbewusst, freundlich und eher kontaktfreudig. Im Alter von 16 Jahren lernte er seine erste Liebe kennen, seine bewunderte zukünftige Frau, und er hatte seine erste Schmerzattacke, schreckliche Kopfschmerzen. Als Kind geschiedener Eltern war er von seinem Bruder getrennt worden und wuchs bei seiner Mutter, seinen Großeltern, seiner Tante und in Pflegefamilien auf.

In seiner Kindheit wurden die emotionalen und körperlichen Bedürfnisse von FS konsequent ignoriert, er wurde geschlagen und in der Pflegefamilie emotional vernachlässigt. Er nutzte jedoch die Vorteile der Laissez-faire-Erziehung, schwänzte die Schule und blieb abends lange weg. Er beendete seine Klarinettenausbildung nicht und begann eine Arbeit als Zeitungsausträger, um ein Haus und seine Familie zu finanzieren. Seit etwa zwei Jahren leidet er unter einer neuen Art von heftigen Schmerzattacken, die seiner Beschreibung nach an diese erste Attacke erinnern, nur tiefer sind und den ganzen Körper betreffen, wie „ein Blitz, der zu einer Schmerzsäule von Kopf bis Fuß führt“. Die Anfälle treten etwa dreimal im Monat auf, in seiner Freizeit. Das lästigste Leiden ist jedoch eine wiederkehrende linksseitige Halbseitenlähmung am Morgen, die ihn daran hindert, den Tag ohne die Hilfe seiner Frau zu beginnen. Erst nachdem seine Frau ihn aus dem Bett gehoben hat, geht er humpelnd ins Bad und duscht ausgiebig, wobei die Halbseitenlähmung spontan zurückgeht. Für seine Symptome und sein Verhalten hat FS keine Erklärung. Er hatte jedoch versucht, sie mit dem Mond-Sonnen-Lauf, mit Veränderungen im Wettergeschehen und mit Spannungen und Trennungen in den Familienbeziehungen zu erklären. In der Tat hatte sich die Beziehung zu seiner Frau in letzter Zeit verschlechtert, zusammen mit seinen sexuellen Störungen. Aufgrund der Ehekonflikte ist er nun motiviert, sich erneut untersuchen zu lassen und scheint sich über jede mögliche Hilfe zu freuen.

Wie unbewusste, schwer zugängliche Inhalte bearbeitet werden können, sodass Affekte mit Bedeutungen verknüpft in einer spezifischen Beziehungskonstellation den adäquaten Stellenwert und einen für den Patienten lebensgeschichtlich relevanten Bedeutungszusammenhang bekommen, ist Aufgabe der psychoanalytischen Therapie.

Eine Antwort auf algorithmische AI-Lösungen

Wie können diese Faktoren nun empirisch beforscht und dargestellt werden?

Das Psi-Modell – ein einheitliches, axiomatisch klar definiertes neuropsychoanalytisches Modell

Das Nervensystem mit inkludierter Psyche – nennen wir das Gebilde Ψ‑Organ – kann als Informationssystem angesehen werden. In Neuronen ist der Träger der Information der Impulsabstand, in der Psyche sind die Informationen symbolisierte Repräsentanzen. Auf Basis dieser Betrachtungsweise können die in der Psychoanalyse, Neurologie und Informationstechnik erarbeiteten Gesetze aus dem Blickwinkel der Naturwissenschaft Anwendung finden, so auch der erweiterte Mealy-Formalismus [6]. Er macht es möglich, ein einheitliches Modell über funktionale Schichten zu entwickeln, wenn physikalisch beschriebene Funktionen (Synapsen, Neuronen usw.) mit informationstechnischen (Psyche, Es usw.) in einem einheitlichen, dreischichtigen Modell zusammengeführt werden. Dabei werden in der untersten Schicht alle neurologischen Zusammenhänge beschrieben, in der obersten Schicht die Psyche mit Primär- und Sekundärprozess. Die Beschreibung der psychischen Funktion erfolgt vor allem über psychoanalytische Erkenntnisse sowie über weitere Erkenntnisse der Gehirnforschung, ausformuliert über informationstechnische, funktional zusammenhängende Beschreibungsmethoden.

Die zweite funktionale Schicht zwischen der neurologischen und der psychischen Schicht bildet die neurosymbolische Schicht. Wesentliche Elemente dieses einheitlichen, funktionalen Modells sind die Schnittstellen zwischen den Schichten. Während der Übergang zwischen der neurologischen und der neurosymbolischen Schicht für die Bildung von Repräsentanzen (Symbole) aus den Informationen der Impulsabstände der Neuronen verantwortlich ist, z. B. kleinste Details, die ein Auge oder der Tastsinn wahrnehmen kann, abstrahiert die Schicht 2 Repräsentanzen geringerer Abstraktion, bildet also zusammenhängende Repräsentanzen von Objekten und Zuständen, z. B. eines Fingers, einer Hand oder einer Tasse.

Nach der Schnittstelle neurosymbolische Schicht/Psyche (Schicht 2/Schicht 3) ermittelt die erste Funktion der Psyche (Schicht 3) im Primärprozess Affekte und daraus in weiteren Funktionen die verschiedenen Emotionen, mit denen Objekte und Zustände unbewusst bewertet werden. Die Informationen im Primärprozess besitzen die Eigenschaft, unbewusst zu sein, jene im Sekundärprozess können die Eigenschaft unbewusst, vorbewusst und bewusst annehmen. Unbewusste Repräsentationen sind Sachrepräsentationen, die über einen extrem hohen Vernetzungsgrad verfügen, weshalb sich Träume auch so extrem vielfältig gestalten können. Den Sachrepräsentationen werden im Übergang zum Sekundärprozess Wortrepräsentanzen hinzugefügt, die jeweils über ein Gefühl bewertet werden. Erst dadurch können sie bewusst werden.

Die Erkenntnisse sind das Ergebnis des Forschungsprojekts SiMA (Simulation of the Mental Apparatus & Applications) [5]. Es zeichnet sich gegenüber Simulations-Tools der allgemeinen künstlichen Intelligenz vor allem dadurch aus, dass es nicht Verhalten über Algorithmen nachempfindet, sondern die verschiedenen Funktionen des dreischichtigen Ψ‑Organs als Generatoren der diversen inneren Prozessabläufe verwendet. Damit können neurologische und psychoanalytische Annahmen über virtuelle Experimente überprüft werden. Es steht außer Frage, dass die extrem große Zahl der Sach- und Wortrepräsentanzen und ihre Verlinkung mit all den verschiedenen Bewertungsmechanismen sowie die zahlreichen Funktionen des Primär- und Sekundärprozesses heute noch eine gewaltige Herausforderung darstellen. Doch SiMA zeigt: Auf der Basis der Zusammenarbeit von Neurologen, Psychoanalytikern sowie Computerwissenschaftlern wird es dank der Simulationsexperimente im virtuellen Raum endlich möglich, die hochkomplexen Abläufe in allen Details über Monitoring zu analysieren.

Fazit für die Praxis

  • Die komplexen Vorgänge, die neurowissenschaftlich erfasst zu einer eHealth-Strategie ausgearbeitet werden können, benötigen differenzierte Planungen seitens der Informationstechnik.

  • Damit Vertrauen in die Authentizität und persönliche Relevanz des zwischenmenschlich vermittelten Wissens, unter Zuschaltung von eHealth-Elementen aufgebaut werden kann, benötigt es Überlegungen zu unbewussten Prozessen sowie deren Abbildung.