Gefahren des Verstehens

Zusammenfassung

Palinurus, der Steuermann des Aeneas, begegnet in einer Episode in Vergils altrömischem Epos Aeneis dem Gott des Schlafes, Somnus, und kommt dabei auf eine so tragische wie grausame Weise zu Tode. Die Episode ist außerordentlich rätselhaft – unter anderem, weil sie die Frage der Schuld aufwirft, mögliche Ursachen der Schuld aber verdeckt bleiben. Wilfred Bion hat diese Episode lebenslang zu denken gegeben. An mehreren Stellen seines Werks nimmt er sie auf und spürt ihrem – mythischen – Gehalt nach, um sie schließlich zu einem „Modell“ (in Kants und Freuds Sinne) zu transformieren, anhand dessen die Gefahren von Verstehen und Deuten in der psychoanalytischen Behandlung in den Blick geraten können. Der vorliegende Beitrag nimmt zunächst eine Lektüre der Episode bei Vergil vor, um dann Bions Lektüren der Episode vorzustellen und deren Konzeption des Verstehens aus ihnen zu destillieren. Die so entstehenden epistemologischen und hermeneutischen Perspektiven werden im dritten Schritt zu einem psychologischen und geschichtsphilosophischen Ausblick zusammengebracht. Im letzten Schritt wird die Palinurus-Episode als Allegorie des Verstehens im Akt des Lesens aufgefasst, mit deren Hilfe Möglichkeiten, Methoden und Gefahren des Verstehens auch in der philologischen Arbeitssituation näher benannt werden können.

Abstract

In an episode in Virgil’s ancient Roman epic “Aeneid”, Palinurus, the helmsman of Aeneas, encounters the god of sleep, Somnus, and dies in a tragic and cruel way. An extraordinarily enigmatic episode—because it raises, among other problems, the question of guilt, while probable causes of this guilt remain obscured. Wilfred Bion reflected on this episode for all his life. In several passages of his work he takes it up and traces its—mythical—content in order to transform it into a “model” (in Kant’s and Freud’s sense), on the basis of which the dangers of interpretation, and of understanding in general, in psychoanalytic treatment can come into view. This article opens with a reading of the episode in Virgil, then presents Bion’s readings of the episode and distils their conception of understanding from them. The epistemological and hermeneutical perspectives that emerge in this way are brought together in a third step to form a psychological and historical philosophical outlook. In a fourth and final step, the Palinurus episode is conceived as an allegory of understanding in the act of reading, with the help of which possibilities, methods and dangers of understanding in the philological work situation can be described in more detail.