Frühgeburtlichkeit und das postnatale Auftreten der Frühgeborenenretinopathie (engl. „retinopathy of prematurity“ [ROP]) erhöhen das Risiko für das Auftreten von amblyogenen Risikofaktoren. Für Kinder mit Frühgeborenenanamnese werden deshalb in der Leitlinie halbjährliche augenärztliche Kontrollen bis zum zweiten Lebensjahr und anschließend jährliche Kontrollen bis zum sechsten Lebensjahr empfohlen. Für den Zeitraum danach werden augenärztliche Untersuchungen nur noch in Abhängigkeit vom Befund empfohlen. Es existieren allerdings bisher keine Daten zur augenärztlichen Versorgung ehemaliger früh- und reifgeborener Personen im Erwachsenenalter. Die vorliegende Studie untersucht erstmals die augenärztliche Versorgung und das Vorliegen von Augenerkrankungen ehemaliger früh- und reifgeborener Personen im Alter von 18 bis 52 Jahren.

Frühgeburtlichkeit und das postnatale Auftreten der Frühgeborenenretinopathie (engl. „retinopathy of prematurity“ [ROP]) zählen zu den Hauptrisikofaktoren für eine verminderte Sehschärfe und Erblindung in der Kindheit. Diese Tatsache ist von großer klinischer Bedeutung, insbesondere weil der Anteil an Frühgeborenen sowie das Auftreten der ROP sowohl in Deutschland als auch weltweit immer weiter steigt [4, 5]. In Deutschland werden ca. 65.000 Kinder pro Jahr zu früh geboren [43], und weltweit wird fast jedes zehnte Neugeborene vor 37 + 0 Schwangerschaftswochen (SSW) geboren. Technische Fortschritte und Errungenschaften in der Neonatalmedizin bei der peri- und postnatalen Behandlung der Frühgeborenen haben das Überleben von immer noch kleineren und unreiferen Neugeborenen ermöglicht. Frühgeborene Kinder haben ein hohes Risiko für das Auftreten von amblyogenen Augenveränderungen in den ersten Lebensjahren, wie z. B. einen erhöhten Anteil an Brechkraftfehlern und Schielen. Der Versorgung dieser Personen kommt jedoch insbesondere im Erwachsenenalter aufgrund der demografischen Entwicklung sowie der immer höher werdenden Lebenserwartung von Frühgeborenen eine immer größer werdende Bedeutung zu.

Aktuell wird in der im Jahr 2020 überarbeiteten Leitlinie der Fachverbände bei Frühgeborenen mit einem Gestationsalter (GA) unterhalb von 31 + 0 Schwangerschaftswochen und unterhalb von einem Geburtsgewicht von 1500 g unabhängig von dem postnatalen Auftreten einer ROP und bei Frühgeborenen zwischen 31 + 0 und 36 + 6 SSW mit einer ROP sowie bei Frühgeborenen mit Hirnparenchymblutung und/oder zystischer periventrikulärer Leukomalazie bis zum zweiten Lebensjahr eine augenärztliche Untersuchung halbjährlich und ab dem dritten bis zum sechsten Lebensjahr jährlich empfohlen. Für den Zeitraum danach werden keine routinemäßigen augenärztlichen Kontrolluntersuchungen empfohlen, weitere Kontrollen sollen nur in Abhängigkeit von der vorliegenden Pathologie durchgeführt werden [45]. In der Leitlinie zur augenärztlichen Basisdiagnostik wird für reifgeborene Kinder die Durchführung einer augenärztlichen Untersuchung bis zur Vollendung des 42. Lebensmonats angeraten. Dies soll v. a. der Detektion von amblyogenen Risikofaktoren wie z. B. der Erkennung von Refraktionsfehlern und/oder eines Strabismus dienen, um diese Kinder frühzeitig zu erkennen und, falls nötig, zu therapieren, um weitere Seheinschränkungen zu vermeiden [9]. In einer kürzlich veröffentlichten Studie berichteten die Autoren, dass jedes zweite früh- und reifgeborene Kind auch nach dem Erreichen des sechsten Lebensjahres noch in regelmäßiger augenärztlicher Kontrolle ist [20]. Zusätzlich deuten neueste Daten darauf hin, dass Personen mit niedrigem Geburtsgewicht (< 2500 g), welches als Surrogatmarker für Frühgeburtlichkeit zählt, eine reduzierte Sehschärfe [28], erhöhte myope Brechkraftfehler [28], ein gehäuftes Auftreten von Augenerkrankungen [13, 22] sowie Veränderungen der Augengeometrie [24, 29,30,31,32] im Erwachsenenalter von 35 bis 80 Jahren aufweisen. Diese Daten sind allerdings limitiert, da in dieser Studie weder das Gestationsalter noch das postnatale Auftreten der ROP erfasst wurde. Im Rahmen der Gutenberg Prematurity Eye Study wurden erstmalig die Auswirkungen von Frühgeburtlichkeit an Teilnehmenden mit unterschiedlichen Reifegraden mit und ohne ROP im Erwachsenenalter untersucht. Es konnte gezeigt werden, dass v. a. frühgeborene Personen mit dem postnatalen Auftreten einer fortgeschrittenen ROP mit Therapienotwendigkeit das größte Risiko für funktionelle und morphologische Augenveränderungen im Alter von 18 bis 52 Jahren aufweisen [12, 14,15,16,17,18,19, 23, 25,26,27]. Allerdings gibt es bisher keine Daten über die Notwendigkeit und Inanspruchnahme von augenärztlichen Kontrolluntersuchungen von ehemaligen Frühgeborenen im Erwachsenenalter.

Deshalb war es das Ziel der vorliegenden Arbeit, die augenärztliche Versorgung ehemaliger früh- und reifgeborener Kinder im Erwachsenenalter zu untersuchen und diese in Bezug zu Augenerkrankungen zu setzen.

Materialien und Methoden

Studienpopulation

Die Gutenberg Prematurity Eye Study (GPES) ist eine retrospektive Kohortenstudie an der Universitätsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (UMCM) mit prospektiver augenärztlicher Untersuchung im Erwachsenenalter. Im Rahmen der GPES wurden Personen untersucht, die zwischen 1969 und 2002 in der UMCM als früh- oder reifgeborene Personen geboren wurden und zum Zeitpunkt der Untersuchung zwischen 18 und 52 Jahre alt waren. Die Probandenrekrutierung und die Untersuchungen der Probanden wurden zwischen 2019 und 2021 durchgeführt. Die Methode der Probandenrekrutierung und der Selektionsalgorithmus sind bereits anderswo beschrieben [12, 14,15,16,17,18,19, 23, 25,26,27] und in Abb. 1 dargestellt. Bei sämtlichen Teilnehmenden wurden eine umfassende augenärztliche Untersuchung, eine Befragung zur Krankengeschichte sowie eine Erhebung der Perinatalhistorie aus den Geburtsakten durchgeführt.

Abb. 1
figure 1

Studiendesign der Gutenberg Prematurity Eye Study (GPES)

Von allen Studienteilnehmenden wurde vor der Teilnahme an der Studie eine schriftliche Einverständniserklärung eingeholt. Die GPES wurde durchgeführt in Anlehnung an die Grundsätze der Guten Klinischen Praxis (GCP), der Guten Epidemiologischen Praxis (GEP) und an die ethischen Grundsätze der Erklärung von Helsinki. Das Studienprotokoll und die Studiendokumente wurden von der lokalen Ethikkommission der Ärztekammer Rheinland-Pfalz (Deutschland) genehmigt (Referenznummer 2019-14161; ursprüngliche Abstimmung: 29.05.2019, letzte Aktualisierung: 02.04.2020).

Ein- und Ausschlusskriterien für Studie

In die vorliegende Studie wurden alle Teilnehmende der GPES eingeschlossen, die an der augenärztlichen Untersuchung im Rahmen der GPES teilgenommen haben.

Kategorisierung

Für die deskriptive Analyse wurden die Teilnehmenden in Gruppen eingeteilt. Reifgeborene Teilnehmende mit einem GA ≥ 37 Wochen bildeten die Gruppe 1 (Kontrollgruppe). Teilnehmende ohne postnatales Auftreten einer ROP wurden wie folgt eingruppiert: 33–36 SSW (Gruppe 2); 29–32 SSW (Gruppe 3); ≤ 28 SSW (Gruppe 4) und Teilnehmende mit GA ≤ 32 mit postnatalem Auftreten einer ROP ohne ROP-Behandlung (Gruppe 5), während diejenigen mit ROP-Behandlung in Gruppe 6 eingeteilt wurden. Für den Fall, dass nur an einem Auge eines Teilnehmenden eine ROP auftrat, wurde das andere Auge, an dem keine ROP aufgetreten ist, von der Analyse ausgeschlossen.

Ophthalmologische Untersuchung

Bei allen Studienteilnehmenden wurden folgende Untersuchungen durchgeführt: Messung der Brechungsfehler und der fernkorrigierten Sehschärfe mit einem automatischen Refraktometer (ARK-1s, NIDEK, Oculus, Wetzlar, Deutschland). Zusätzlich wurde der Augeninnendruck mit einem berührungslosen Tonometer (NT 2000™, Nidek Co., Gamagori, Japan) dokumentiert. Die Sehschärfe wurde in Übereinstimmung mit den Empfehlungen in der medizinischen Fachliteratur von Dezimalwerten in logMAR umgerechnet [3]. Das sphärische Äquivalent wurde durch Addition von Sphäre und der Hälfte des zylindrischen Wertes berechnet. Die Anisometropie wurde durch Berechnung der Differenz des sphärischen Äquivalents (≥ 1,0 dpt) zwischen dem rechten und dem linken Auge ermittelt. Zusätzlich wurde bei allen Teilnehmenden erfragt, ob sie zum aktuellen Zeitpunkt eine Brille für die Ferne verwenden.

Definition Amblyopie

Amblyopie wurde definiert in Anlehnung an die Definition der Gutenberg Health Study, welche die Prävalenz der Amblyopie in einem bevölkerungsbasierten Studiendesign in Deutschland bereits untersucht hat [10]. Unilaterale Amblyopie wurde definiert als bestkorrigierte Sehschärfe des schlechteren Auges ≤ 0,63 mit einem 2‑Zeilen-Unterschied (Unterschied zwischen der Sehschärfe der beiden Augen von mindestens 2 Zeilen) oder ≤ 0,5 ohne einen solchen Unterschied und Schielen oder Schielen in der Vorgeschichte und/oder Anisometropie ≥ 1,0 dpt (sphärisch, zylindrisch, das schwächere Auge betreffend) und/oder keine anderen ophthalmologischen Anomalien, die das eingeschränkte Sehvermögen bei einem Teilnehmenden erklären. Bilaterale Amblyopie war definiert als bestkorrigierte Sehschärfe ≤ 0,63 auf beiden Augen und binokulare Hyperopie ≥ 4,0 dpt und/oder bilateraler Astigmatismus ≥ 2,0 dpt und/oder bilaterale Myopie ≥ 6,0 dpt und/oder bilaterale Deprivation und keine anderen ophthalmologischen Anomalien, die eine eingeschränkte Sehfähigkeit erklären [10, 18]. Teilnehmende mit Netzhautablösung, Katarakt und anderen sehbehindernden Augenkrankheiten, die mittels Spaltlampenuntersuchung festgestellt wurden, wurden als nicht amblyop eingestuft.

Orthoptische Untersuchung

Bei sämtlichen Teilnehmenden wurden ein Cover-Uncover-Test sowie ein alternierender Cover-Test durchgeführt sowie eine Testung der Fixation. Schielen wurde definiert als konstante oder intermittierende Heterotropie jeglicher Dimension in der Ferne und/oder in der Nähe nach der Korrektur des Refraktionsfehlers.

Datenerhebung

Bei allen Teilnehmenden der GPES wurden aus den Krankenakten der Kinder und Mütter folgende Parameter erfasst: Gestationsalter (Wochen), Geburtsgewicht (kg), postnatales Auftreten einer ROP, Stadium der ROP, ROP-Behandlung, Plazentainsuffizienz, Präeklampsie, mütterliches Rauchen während der Schwangerschaft und Stillen. Für die vorliegende Studie wurde die Geburtsgewichtsperzentile nach Voigt et al. berechnet [55]. Zusätzlich wurden bei allen Probanden folgende weitere Parameter erfasst: Geschlecht (weiblich), Alter (Jahre), perinatale unerwünschte Ereignisse (ja). Perinatale unerwünschte Ereignisse wurden gemäß der deutschen Abfrage zur Qualitätskontrolle der Neugeborenenkliniken definiert: intraventrikuläre Blutung (mindestens Grad 3 oder Parenchymblutung) und/oder nekrotisierende Enterokolitis und/oder mäßige oder schwere bronchopulmonale Dysplasie [40]. Das Auftreten eines dieser Ereignisse wurde als perinatales unerwünschtes Ereignis definiert.

Statistische Auswertung

Die deskriptiven Statistiken wurden entsprechend der verschiedenen Gruppen der GPES stratifiziert. Absolute und relative Häufigkeiten wurden für dichotome Parameter berechnet, Mittelwert und Standardabweichung für annähernd normalverteilte Variablen, ansonsten Median und Interquartilsbereich. Der Chi-Quadrat-Test wurde verwendet, um nominale und kategorielle Parameter der frühgeborenen Gruppen mit den Daten der reifgeborenen Gruppen zu vergleichen. Zusätzlich wurden die Angaben stratifiziert für das Alter der Teilnehmenden 18 bis < 30 Lebensjahre, 30 bis unter 40 Lebensjahre und ≥ 40 Lebensjahre. Es handelte sich bei der vorliegenden Arbeit um eine explorative Studie, und es wurden keine Anpassungen für Mehrfachtestung vorgenommen. Die Berechnungen wurden mit kommerzieller Software durchgeführt (IBM SPSS 20.0; SPSS, Inc., Chicago, IL, USA).

Ergebnisse

Probandencharakteristika

In die vorliegende Analyse wurden die Daten von 310 Frühgeborenen und 140 Reifgeborenen einbezogen (Alter 28,6 ± 8,6 Jahre, 251 Frauen). Die Probandencharakteristika sind in Tab. 1 beschrieben. Von den Teilnehmenden, die wegen ROP behandelt wurden, erhielten 7 Teilnehmende (14 Augen) eine Behandlung mit Laserkoagulation und 8 Teilnehmende (16 Augen) eine Kryokoagulation. Die effektive Rekrutierungsrate sowie die Anzahl der ausgeschlossenen Probanden sind in Abb. 1 dargestellt.

Tab. 1 Charakteristika der Teilnehmenden der Gutenberg Prematurity Eye Study (n = 450)

Ophthalmologische Untersuchung

In Tab. 2 sind die Ergebnisse der augenärztlichen Untersuchung der Probanden dargestellt. Die Prävalenz eines manifesten Strabismus betrug in den Gruppen 1 bis 6 2,1 % (3/140); 6,6 % (9/137); 17,4 % (16/92); 11,1 % (2/18); 27,1 % (13/48) und 60 % (9/15). Dabei zeigte sich ein signifikanter Unterschied hinsichtlich der Strabismusprävalenz von Reifgeborenen vs. Frühgeborenen ohne ROP (p < 0,001) und mit ROP ohne Behandlung (p < 0,001) sowie mit ROP mit Behandlung (p < 0,001). Eine Amblyopie wurde bei 2,1 % (3/140); 4,4 % (6/137); 10,9 % (10/92); 5,6 % (1/18); 16,7 % (8/48) und 46,7 % (7/15) in den jeweiligen Gruppen beobachtet. Ein statistisch signifikanter Unterschied hinsichtlich des Vorliegens einer Amblyopie wurde beim Vergleich der Reifgeborenen vs. der Frühgeborenen ohne ROP beobachtet (p < 0,034) sowie beim Vergleich der Reifgeborenen vs. den Frühgeborenen mit ROP ohne Behandlung (0,001) und den Frühgeborenen mit ROP-Behandlung (p < 0,001). Die deskriptiv höchsten Werte für Myopie, Astigmatismus, Anisometropie wurden in den Gruppen mit dem postnatalen Auftreten der ROP und insbesondere bei den Teilnehmenden mit einer ROP-Behandlung beobachtet. Der Anteil an Teilnehmenden mit Myopie (≥ 3 dpt) und Anisometropie (≥ 1 dpt) war in der Gruppe der Probanden mit ROP-Behandlung deutlich erhöht im Vergleich zur Kontrollgruppe (jeweils p < 0,001). Während zwischen 38,9 % und 53,3 % der Teilnehmenden in den verschiedenen Gruppen angaben, eine Brille zu tragen, lag der Anteil der Brillentragenden bei ROP-behandelten Kindern bei über 80 %.

Tab. 2 Augenärztliche Untersuchungsergebnisse der Teilnehmenden

Augenärztliche Versorgung der Teilnehmenden

In Tab. 3 ist die Häufigkeit der augenärztlichen Kontakte innerhalb der letzten 5 Jahre und 12 Monate angegeben. Es gaben insgesamt 21,4 % (30/140), 24,1 % (33/137), 26,1 % (24/92), 38,9 % (7/18), 29,2 % (14/48) und 60 % (9/15) der Probanden in den einzelnen Gruppen 1 bis 6 an innerhalb der letzten 12 Monate bei einer augenärztlichen Untersuchung gewesen zu sein. Durchschnittlich berichteten die Probanden von 0,4; 0,4; 0,5; 1,5; 0,4 und 0,8 Augenarztuntersuchungen innerhalb der letzten 12 Monate in den Gruppen 1 bis 6. Insgesamt zeigte sich, dass v. a. extrem Frühgeborene mit ROP häufiger bei einer augenärztlichen Untersuchung innerhalb der letzten 12 Monate gewesen sind (p < 0,001). ROP-behandelte Personen zeigten mit 60 % den höchsten Anteil an augenärztlichen Untersuchungen innerhalb der letzten 12 Monate. Insgesamt waren in der Gruppe der Reifgeborenen 21,4 % (30/140) und in der Gruppe der Frühgeborenen 28,1 % (87/310) innerhalb der letzten 12 Monaten bei einer augenärztlichen Untersuchung.

Tab. 3 Augenärztliche Versorgung der Teilnehmenden der Gutenberg Prematurity Eye Study stratifiziert nach Gruppen

In der Gruppe der Reifgeborenen war keiner der 3 Probanden mit Amblyopie innerhalb der letzten 12 Monate bei einer augenärztlichen Untersuchung. Bei den Frühgeborenen wurden insgesamt 46,9 % (15/32) mit Amblyopie innerhalb der letzten 12 Monate augenärztlich untersucht. Von den Probanden mit Sehhilfe waren von den Reifgeborenen 26,8 % (15/56) und von den Frühgeborenen 38,2 % (58/152) innerhalb der letzten 12 Monate bei einer augenärztlichen Untersuchung (Tab. 3). In Abb. 2 ist der Anteil der Teilnehmenden mit augenärztlicher Untersuchung innerhalb der letzten 12 Monate in den einzelnen Gruppen dargestellt sowie in Abb. 3 für Teilnehmende mit einer der folgenden Augenveränderungen: manifester Strabismus, Amblyopie, Myopie ≥ 6 dpt oder Hyperopie ≥ 3 dpt. In Abb. 4 ist die Anzahl der augenärztlichen Untersuchungen innerhalb der letzten 12 Monate für die Teilnehmenden der jeweiligen Gruppen dargestellt.

Abb. 2
figure 2

Anteil der Teilnehmenden mit augenärztlicher Untersuchung innerhalb der letzten 12 Monate in den einzelnen Gruppen

Abb. 3
figure 3

Augenärztliche Untersuchung innerhalb der letzten 12 Monate bei Bestehen einer der folgenden Augenveränderungen: manifester Strabismus, Amblyopie, Myopie > 6 dpt oder Hyperopie > 3 dpt

Abb. 4
figure 4

Anzahl der augenärztlichen Untersuchungen innerhalb der letzten 12 Monate

Diskussion

Anhand der vorliegenden Arbeit wurden erstmalig die augenärztliche Versorgung sowie die Prävalenz von Augenerkrankungen bei ehemals früh- und reifgeborenen Personen im Erwachsenenalter analysiert. Je unreifer die Probanden geboren waren, desto öfter traten Refraktionsfehler, Amblyopien und Strabismus auf. Die Gruppe der ROP-behandelten Personen zeigte in Kongruenz hierzu den höchsten Anteil an Personen, welche in den letzten 12 Monaten bei einer augenärztlichen Kontrolluntersuchung gewesen sind. Jedes dritte Frühgeborene mit der Anamnese für eine Sehhilfe und nur jedes zweite mit der Anamnese für eine Amblyopie waren innerhalb der letzten 12 Monate bei einer augenärztlichen Untersuchung.

Die vorliegende Studie zeigt, dass v. a. extrem frühgeborene Erwachsene mit postnataler ROP die höchste Auftretenswahrscheinlichkeit an amblyogenen Risikofaktoren haben. Diese Daten sind in Kongruenz zu Daten bei Kindern. In früheren Studien wurde eine Prävalenz von Strabismus von bis zu 42 % berichtet [38, 50, 53, 54]. In der Wiesbaden Prematurity Study [21] untersuchten die Autoren ehemals früh- und reifgeborene Kinder im Alter von 4 bis 10 Jahren. Die Autoren berichteten für reifgeborene Kinder der Kontrollgruppe eine Prävalenz von Strabismus von 2 %, bei Frühgeborenen mit GA 29–32 ohne ROP von 12 %, bei Frühgeborenen mit GA ≤ 28 Wochen ohne ROP von 22 % und bei Kindern mit postnatalem Auftreten einer ROP von 26 %. In der multivariablen Analyse waren ein niedriges Gestationsalter, ein hyperoper Refraktionsfehler sowie ein erhöhter Astigmatismus die Hauptrisikofaktoren für das Bestehen eines Strabismus in der Kindheit. Dies ist von besonderer Bedeutung, da Strabismus ein erhöhtes Risiko für eine Amblyopie beinhaltet und folglich zu einer reduzierten Sehschärfe sowie einer binokularen Dysfunktion führen kann [6, 48, 49]. In Kongruenz zu diesen Daten können wir erstmals die Prävalenz von Strabismus im Erwachsenenalter aufzeigen. In Übereinstimmung zu den Daten der Wiesbaden Prematurity Study zeigt die vorliegende Studie, dass auch noch im Erwachsenenalter die Prävalenz von Strabismus umso höher ist, je unreifer die Person geboren wurde. Darüber hinaus können wir erstmalig die augenärztliche Versorgung dieser schielenden Personen im Erwachsenenalter evaluieren. Es zeigt sich, dass ca. 42 % der frühgeborenen Probanden innerhalb der letzten 12 Monate nicht bei einer augenärztlichen Untersuchung gewesen sind.

Als weiterer amblyogener Risikofaktor konnten in einer früheren Analyse ein erhöhtes Vorliegen an myopen Refraktionsfehlern v. a. in der Gruppe der ROP-behandelten Frühgeborenen beobachtet werden [14]. In verschiedenen Studien bei Kindern konnte gezeigt werden, dass v. a. eine weit fortgeschrittene ROP mit Notwendigkeit zur Behandlung mittels Laser- und Kältetherapie zu einem gehäuften Auftreten an Refraktionsfehlern im Kindesalter führt [8, 11, 41, 42, 51]. Dies ist ebenfalls kongruent zu den Daten dieser Studie anhand derer gezeigt werden konnte, dass v. a. Frühgeborene mit dem postnatalen Auftreten einer fortgeschrittenen ROP auch noch im Erwachsenenalter einen erhöhten myopen Refraktionsfehler aufweisen. Hinsichtlich der Versorgung dieser Brechkraftfehler mittels Sehhilfe zeigt sich, dass von den Teilnehmenden mit Brille insgesamt 38,2 % der frühgeborenen Probanden und 26,8 % der reifgeborenen Probanden innerhalb der letzten 12 Monate bei einer augenärztlichen Untersuchung waren.

Frühgeburtlichkeit und das postnatale Auftreten der ROP sind Hauptrisikofaktoren für eine reduzierte Sehschärfe und Amblyopie im Kindesalter [7, 33, 34, 37, 39, 47]. Im Rahmen der Gutenberg-Gesundheitsstudie berichteten die Autoren von einem Zusammenhang von einem niedrigen Geburtsgewicht (< 2500 g) mit einer reduzierten Sehschärfe bei Teilnehmenden im Alter von 35 bis 74 Jahren [28]. Diese Daten sind allerdings limitiert, da in dieser Studie weder das Gestationsalter noch das postnatale Auftreten der ROP erfasst wurden. In einer Studie aus Neuseeland untersuchten Darlow et al. frühgeborene Probanden im Alter von 27 bis 29 Jahren. Die Autoren berichteten, dass frühgeborene Personen aufgrund einer reduzierten Sehschärfe häufiger Probleme bei Tagesaktivitäten gehabt hätten und seltener Auto gefahren sind [8]. In einer früheren Analyse der Gutenberg Prematurity Eye Study konnten wir erstmalig zeigen, dass v. a. extrem Frühgeborene mit postnataler ROP häufiger eine Amblyopie aufweisen [18]. Darüber hinaus können wir zeigen, dass 57 % der frühgeborenen Probanden mit einer Amblyopie innerhalb der letzten 12 Monate bei einer augenärztlichen Untersuchung gewesen sind im Vergleich zu 25,9 % bei Personen ohne Amblyopie.

Insgesamt zeigen die Daten der ROP-behandelten Teilnehmenden in Übereinstimmung zur Literatur, dass in den letzten Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts v. a. eine Behandlung der ROP mittels Kryo- und Lasertherapie durchgeführt wurde [1, 2]. Die Kryotherapie und später die Lasertherapie waren lange der Goldstandard für die Behandlung der ROP. Die Art der Behandlung hat sich im letzten Jahrzehnt allerdings grundlegend geändert, da die Kryotherapie mittlerweile mit wenigen Ausnahmen fast obsolet geworden ist und in den letzten Jahren bei einer Vielzahl der Kinder mit ROP eine Anti-VEGF-Injektion in den Glaskörper durchgeführt wird [46, 52].

In den 2020 aktualisierten Leitlinien werden nach dem 6. Lebensjahr nur noch Kontrolltermine in Abhängigkeit von der Pathologie empfohlen [45]. In einer neueren Untersuchung im Rahmen der Wiesbaden Prematurity Study gab jeder zweite ehemalige früh- und reifgeborene Teilnehmende an, im Alter von 7 bis 10 Jahren an einer jährlichen Augenuntersuchung teilzunehmen [20]. Anhand unserer Daten zeigt sich, dass die ROP-behandelte Gruppe die häufigsten amblyogenen Risikofaktoren aufweist und gleichzeitig auch die meisten Probanden dieser Gruppe angaben, an einer jährlichen augenärztlichen Untersuchung teilgenommen zu haben. Die Ursache hierfür könnte das gehäufte Auftreten von Komplikationen wie Strabismus und Refraktionsfehler sein, welche häufigere Augenkontrollen notwendig machen.

Bislang ist unklar, ob und welche augenärztlichen Screeninguntersuchungen bei Kindern und Jugendlichen die Auftretensrate von Amblyopien verringern können. Das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen konnte anhand seiner Betrachtungen keinen zusätzlichen Nutzen eines augenärztlichen bevölkerungsbezogenen Screenings zur Vermeidung von Amblyopien bei Kindern und Jugendlichen nachweisen [35, 36]. Für frühgeborene Kinder werden augenärztliche Kontrolluntersuchungen lediglich bis zum sechsten Lebensjahr empfohlen. Nach dem sechsten Lebensjahr wird ein augenärztliches Screening nur noch in Abhängigkeit von einer möglicherweise vorliegenden Pathologie empfohlen. Bei Reifgeborenen wird aktuell nur eine Früherkennungsuntersuchung beim Kinderarzt im Alter von 3 Jahren empfohlen, jedoch keine generelle routinemäßige augenärztliche Untersuchung. Bislang ist jedoch unklar, ob Personen mit einem hohen Risiko für amblyogene Faktoren auch noch nach dem sechsten Lebensjahr eine regelmäßige augenärztliche Kontrolluntersuchung erhalten sollten. Anhand von Daten in Schweden [44] und Großbritannien [56] wurde eine niedrigere Amblyopieprävalenz als Folge eines Amblyopiescreenings berichtet. Aufgrund der hohen Prävalenz von Amblyopien v. a. bei Personen mit dem postnatalen Auftreten einer ROP könnte die Möglichkeit bestehen, dass v. a. diese von weiteren augenärztlichen Kontrolluntersuchungen auch noch nach dem 6. Lebensjahr profitieren könnten. Andererseits ist die Rate von Amblyopien bei den verschiedenen Frühgeborenengruppen insbesondere ohne ROP relativ gering, weshalb weitere augenärztliche Kontrolluntersuchungen aller frühgeborenen Personen auch nach dem sechsten Lebensjahr evtl. weniger zielführend sein könnten. Insgesamt haben anders als im Kindesalter engmaschige augenärztliche Kontrollen der von der Studie hauptsächlich untersuchten Erkrankungen Amblyopie und Strabismus im fortgeschrittenen Erwachsenenalter meist kaum noch eine therapeutische Relevanz und sind deshalb möglicherweise nicht empfehlenswert. Mit unserer Studie konnten wir jedoch erstmalig Daten zur augenärztlichen Versorgung und zur jährlichen Inanspruchnahme derselbigen darstellen. Es zeigt sich anhand unserer Daten, dass insbesondere die extrem Frühgeborenen und v. a. diejenigen mit postnataler behandlungsbedürftiger ROP deutlich häufiger eine augenärztliche Untersuchung beanspruchen.

Stärken und Schwächen

Limitationen der vorliegenden Arbeit sind das unizentrisch krankenhausbasierte Studiendesign sowie die Ablehnung der Teilnahme oder fehlende Kontaktdaten für einige potenzielle Probanden. Außerdem ist bei der Betrachtung der Studiendaten zu berücksichtigen, dass die Anzahl an Probanden mit postnataler ROP und ROP-Behandlung eher gering ist. Eine weitere Limitation der vorliegenden Studie ist die retrospektive Datenerhebung zum Vorliegen einer ROP nach der Geburt. Im Gegensatz zu den aktuellen Leitlinien aus dem Jahr 2020 mit klar definierten Zeiträumen, in denen das ROP-Screening durchgeführt werden soll, variierte der Zeitpunkt der Screeninguntersuchung bei unseren Teilnehmenden und kann somit zu einer Untererfassung von postnatalen ROP-Stadien geführt haben. Die dokumentierten ROP-Befunde wurden entsprechend den aktuellen deutschen Leitlinien zur ROP kategorisiert [45].

Eine Stärke der Arbeit ist die Tatsache, dass es sich bei der vorliegenden Studie um die größte und älteste Frühgeborenenkohorte weltweit mit prospektiver augenärztlicher Untersuchung handelt.

Ausblick

Aufgrund der hohen Lebenserwartung und des weiter zunehmenden Anteils an Frühgeborenen in der Gesamtbevölkerung stellt die augenärztliche Versorgung dieser Personen eine Herausforderung dar, die zukünftig weiter an Bedeutung gewinnen wird.

Fazit für die Praxis

  • Die vorliegende Studie beschreibt erstmalig die derzeitige augenärztliche Versorgung bei ehemaligen früh- und reifgeborenen Personen im Alter von 18 bis 52 Jahren.

  • Es zeigt sich, dass je unreifer Personen geboren werden, desto häufiger auch noch im Erwachsenenalter Augenerkrankungen beobachtet werden, wie z. B. Strabismus und höhere Refraktionsfehler.

  • Ehemalige Frühgeborene mit ROP-Behandlung gaben am häufigsten an, innerhalb der letzten 12 Monate bei einer augenärztlichen Untersuchung gewesen zu sein.