Erkrankungen aus dem Autismusspektrum („autism spectrum disorders“, ASD) sind gekennzeichnet durch Störungen des Sozialverhaltens und der interpersonellen Kommunikation sowie durch repetitiv-stereotype Verhaltensweisen. Der frühzeitige Beginn kennzeichnet sie als tief greifende Entwicklungsstörungen. Ihr chronischer Verlauf und die nach wie vor unbefriedigende Therapie machen die ASD für alle in der Psychiatrie Tätigen zu einem praxisrelevanten Problem.

Zu einer kontroversen öffentlichen Debatte beigetragen hat die Vermutung, dass ASD, die ohnehin nicht selten sind (Gesamtprävalenz ca. 1%), in ihrer Inzidenz in einigen Gebieten möglicherweise ansteigen oder zumindest häufiger diagnostiziert werden [1]. An der gesellschaftlichen Relevanz der Erkrankungsgruppe, die mit Kosten pro Betroffenem von über 1 Mio. EUR einhergeht und nur etwa einem Viertel der Betroffenen eine unabhängige Lebensführung erlaubt [2], besteht ohnedies kein Zweifel. Dennoch wurden die ASD noch vor 2 Jahrzehnten außerhalb der Kinder- und Jugendpsychiatrie wissenschaftlich wenig bearbeitet. Inzwischen sind diese Störungen jedoch ins Zentrum des Interesses der neurowissenschaftlich-biologischen Forschung geraten und werden von Grundlagenwissenschaftlern und Klinikern intensiv untersucht. Im Rahmen des Leitthemas in dieser Ausgabe von Der Nervenarzt werden neue Ergebnisse der neurobiologischen, genetischen und klinischen Forschung zusammengefasst und daraufhin befragt, welche Konsequenzen sich daraus für die diagnostische Einordnung der ASD und für therapeutische Maßnahmen ergeben.

Wie bereits von den Erstbeschreibern Kanner und Asperger vermutet, haben die ASD im Wesentlichen genetische Ursachen. In der Tat liegt die Erblichkeit mit 90% an der Spitze aller psychiatrischen Erkrankungen. Wesentliche Aufschlüsse über Ursachen und therapeutische Ansätze bei ASD werden daher von der Genetik erwartet. In dem Beitrag „Genetik und Tiermodelle von Autismusspektrumstörungen – Neue Entwicklungen“ fassen Klauck et al. die aktuellen genetischen Befunde bei ASD zusammen. Dabei werden sowohl Kandidatengenuntersuchungen als auch die neueren, genomweiten Assoziationsstudien besprochen. In der Zusammenschau ergeben sich dabei Anhaltspunkte dafür, dass sich häufige genetische Risikofaktoren im Bereich der Hirnentwicklung auswirken, indem sie die Knüpfung korrekter Verbindungen sich entwickelnder Nervenzellen über den synaptischen Spalt und die synaptische Plastizität behindern. Ähnliche Mechanismen sind auch von seltenen Hochrisikovarianten betroffen, zu denen sog. Genkopievarianten ebenso gehören wie monogene Erkrankungen wie Fragile-X, Rett-Syndrom oder tuberöse Sklerose, die sich häufig klinisch als ASD auswirken.

Während sich diese genetischen Befunde in der nächsten Zukunft nicht unmittelbar diagnostisch umsetzen lassen dürften (häufige genetische Varianten deshalb nicht, weil sie individuell keine relevante Risikoprädiktion ermöglichen, Genkopievarianten aufgrund ihrer Seltenheit), ergeben sich aus dieser Konvergenz biologischer Risikofaktoren auf synaptische Mechanismen der Hirnentwicklung und Plastizität wesentliche Anhaltspunkte für die zugrunde liegende Pathophysiologie. Wie Klauck et al. diskutieren, lassen sich diese Befunde zum einen umsetzen in eine neue Generation biologisch validerer Tiermodelle. Das ist eine wesentliche Voraussetzung für die Entdeckung neuer Therapieansätze, weil eine „direkte“, auf Verhaltensanalogien aufbauende Tiermodellbildung wegen der humanspezifischen Aspekte des Sozialverhaltens und des Interaktionsverhaltens rasch an ihre Grenzen stößt. Auf verifizierten genetischen Risikofaktoren basierende Tiermodelle haben demgegenüber den unschätzbaren Vorteil, tatsächlich Kausalfaktoren, wenn auch notwendigerweise nur in einem Ausschnitt, abzubilden [3]. Zum zweiten eröffnen die genetischen Befunde die Frage, ob sich analoge Funktionsstörungen in Plastizität und Konnektivität bei Betroffenen auch direkt nachweisen lassen.

Die Hirnbildgebung zeigt Störungen in verteilten Netzwerken kortikaler und subkortikaler Regionen

Dies ermöglichen Fortschritte in der Hirnbildgebung von ASD, die Dziobeck und Köhne in ihrem Beitrag „Bildgebung bei Autismusspektrumstörungen“ zusammenfassen. In der Tat zeigt sich mit diesem Forschungsansatz, dass auf der neuronalen Systemebene gestörte Informationsverarbeitungsprozesse in Beziehung zu den Kernsymptomen von ASD, also Störungen des Sozialverhaltens, der Kommunikation und des repetitiven Verhaltens, nachgewiesen werden können. In guter Übereinstimmung mit der von den genetischen Untersuchungen nahegelegten Pathophysiologie zeigen sich hierbei weniger Störungen in der Funktion isolierter Areale, sondern mehr in verteilten Netzwerken kortikaler und subkortikaler Regionen, die in ihrem Zusammenwirken („Konnektivität“) abnorm sind.

Derartige Erkenntnisse haben auch Implikationen für die psychiatrische Nosologie, weil sie Übergänge in den Ursachen aufzeigen, die die mangelnde biologische Validität der gegenwärtig verwendeten Diagnosen verdeutlichen. Hier werden von den momentanen Klassifikationssystemen durch Ausschlusskriterien künstliche Grenzen gezogen, die weder den Ursachen noch den therapeutischen Notwendigkeiten der Erkrankungen gerecht werden. Dies wird von Banaschewski et al. in dem Beitrag „Autismus und ADHS über die Lebensspanne – Differenzialdiagnosen oder Komorbidität?“ am Beispiel der Komorbidität von Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörungen (ADHS) und ASD aufgezeigt. Aus psychopathologischen, neuropsychologischen, bildgebenden und genetischen Befunden argumentieren die Autoren für das Konzept der Komorbidität der Störungen auf dem Boden einer teilweise gemeinsamen Pathophysiologie und entwickeln daraus therapeutische Empfehlungen für eine aktive Behandlung von ADHS-Symptome bei ASD.

Die beiden letzten Beiträge des Leitthemas widmen sich der Therapie. Auf eine kausale Behandlungsmöglichkeit der Kernsymptome der ASD wartet die Psychiatrie noch. Jedoch lassen sich, wie Poustka et al. in ihrem Beitrag „Psychopharmakologie autistischer Störungen“ ausführen, zahlreiche belastende Verhaltensauffälligkeiten wie Aggressionen, Impulsivität und Selbstverletzungen pharmakologisch positiv beeinflussen, ein Ansatz, der insbesondere die soziale Integration der Betroffenen im pflegerischen, familiären und schulischen Umfeld bessern kann. Mit umso größerem Interesse werden experimentelle Ansätze zu Verbesserung der sozialen Interaktion und Kommunikation verfolgt, die am Ende ihres Beitrags beschrieben werden. So ergeben sich beispielweise aus der Klärung der von den prosozialen Neuropeptiden Oxytocin und Vasopressin beeinflussten Hirnsysteme für Emotionserkennung und -regulation [4, 5] therapeutische Ansätze, die mit dem Erkrankungsrisiko für ASD über genetische Risikofaktoren in den für die Hirnrezeptoren der Neuropeptide kodierenden Gene verknüpft werden können [6, 7]. In der Tat zeigen hier erste therapeutische Studien, wenn auch wiederum keine Heilung, eine Besserung von Kernsymptomen der ASD.

Einen komplementär wirksamen Ansatz verfolgen biopsychosoziale Interventionen bei ASD, die Bölte in seinem abschließenden Beitrag „Psychobiosoziale Intervention bei Autismus“ diskutiert. Auch wenn hier keine Heilung zu erzielen ist, so haben viele (wenn auch längst nicht alle breit praktizierten) Verfahren Evidenz für ihre Wirksamkeit. Besonders gilt dies für verhaltenstherapeutische Ansätze. Auch für diese Interventionsklasse lassen sich aus den neueren neurobiologischen Befunden innovative Ansätze entwickeln, wie Bölte anhand von Neurofeedback-Verfahren darstellt.

Das hier vorgelegte Leitthema kann nur eine Momentaufnahme eines sich dynamisch rasant entwickelnden Bereichs der Psychiatrie abbilden. Neueste Befunde legen nahe, dass das Beste erst bevorsteht: In einer Gruppe seltener, aber klinisch schwerwiegender monogener Ursachen von ASD, wie dem Fragile-X-Syndrom, sind aus einem Verständnis der zugrunde liegenden Pathophysiologie Interventionen entwickelt worden, die zumindest im Tiermodell zu einem Verschwinden von Kernsymptomen führten [8] und die bei diesen seltenen Erkrankungen jetzt zum Teil auch beim Menschen klinisch geprüft werden. Diese Ergebnisse zeigen, dass auch eine stark genetische, in der Hirnentwicklung früh angreifende Erkrankungsgruppe wie die ASD für die Betroffenen nicht notwendigerweise eine lebenslange Krankheit bedeuten muss, sondern dass eine Verschiebung des andauernden dynamischen Wechselspiels zwischen gestörter und verbleibender Hirnplastizität zugunsten des gesunden Pols auch später in der Lebensspanne prinzipiell noch dramatische Besserungen bewirken kann. Umfangreiche Forschung von Klinikern und Grundlagenwissenschaftlern und viel Forschungsförderung wird notwendig sein, um diese Hoffnung auch für die übrigen Erkrankungen des Autismusspektrums umzusetzen. Insofern sind Initiativen wie die Innovative Medicine Initiative (IMI) der europäischen Union, die akademische und industrielle Spitzenforschung mit dem Ziel der erfolgreichen Umsetzung in wirksame Therapien zusammenführt, sehr zu begrüßen. Hier wurde in der jetzt anlaufenden Förderperiode ASD als Thema gewählt. Auch entsprechende nationale Förderprogramme sind vonnöten, um kurative Therapien für diese so schwerwiegende, lang dauernde und behindernde Erkrankungsgruppe möglich zu machen.