Für Interessierte an Hintergründen und Grundprinzipien evidenzbasierter Medizin war in den frühen 2000er-Jahren das Centre for Evidence-Based Medicine (CEBM) am Radcliff Hospital in Oxford praktisch eine Pilgerstätte. Deutsche Besucher traten die Reise dorthin häufig mit völlig falschen Vorstellungen an. Erwarteten sie eine Evidenzkathedrale mit strengem Glauben daran, dass ohne wissenschaftliche Daten (im Idealfall aus randomisierten Studien) keine Medizin mehr praktiziert werden könnte, gingen die britischen Kolleginnen und Kollegen seit jeher deutlich nüchterner mit der Verknüpfung ärztlicher Fähigkeiten und Kenntnissen des wissenschaftlichen Status quo um. Bei einem gemeinsamen Grillabend prägte der damalige Direktor des CEBM, Dr. Martin Dawes, mit Augenzwinkern den Kunstbegriff „Evidence is Shlevidence“. Die Botschaft an die Teilnehmer vom Kontinent war simpel – macht aus der EbM-Philosophie bitte kein starres Dogma, lasst ihr Luft zum Atmen und erkennt ihre Dynamik.

In der Rückschau bedurfte es wohl dem besten aus beiden Welten, um das Gesundheitswesen wissensbasierter und transparenter zu machen: der deutschen Tendenz zu formalisieren und zu zertifizieren und dem angloamerikanischen Pragmatismus. Frei nach Jürgen Windeler sollte EbM ein Instrument sein, um zwischen Therapiefreiheit und Beliebigkeit in der Medizin zu unterscheiden (und letztere zu eliminieren).

Dies gilt für alle Fachgebiete und Versorgungsebenen. In Unfallchirurgie und Orthopädie stand die methodische Qualität publizierter klinischer Studien in den vergangenen Jahren auf dem Prüfstand und der Trend ist ermutigend [16]. Dies liegt u. a. daran, dass sich praktisch alle bedeutsamen Publikationsorgane den vom International Committee of Medical Journal Editors (ICMJE) empfohlenen Standards wie prospektive Studienregistrierung, Protokollveröffentlichung, Reporting im Einklang mit CONSORT, STARD, STROBE, PRISMA etc. im Einklang mit ICH-GCP verpflichtet haben (s. u. a. http://www.equator-network.org). Auch besteht eine Chance für eine Forschungsförderung mit öffentlichen Mitteln nur dann, wenn ein exzellentes methodisches Gerüst konstruiert wurde. Methodische Standards sind längst in Orthopädie und Unfallchirurgie angekommen.

Dieses Heft legt den Fokus auf die distale Radiusfraktur und spannt den Bogen von der Biomechanik über die Ergebnisse vergleichender Interventionsstudien hin zu Komplikationen wie dem CRPS.

Es existieren einige methodisch exzellente klinische Studien zur Therapie dieser häufigen Verletzung. An dieser Stelle soll noch einmal, BREXIT hin oder her, der Blick auf Großbritannien gerichtet werden, dessen Gesundheitssystem an verschiedenen Stellen bemängelt wird und sicher auch nicht mit dem bundesdeutschen vergleichbar ist. Bei der Generierung valider Daten für die klinische Versorgung haben die dortigen Kolleginnen und Kollegen jedoch ein Manko abgestellt, welches bei uns noch vielfach zu beobachten ist – die Zurückhaltung in der Beteiligung an multizentrischen, klinisch-experimentellen Prüfungen (obwohl diese z. B. TraumaRegister DGU® seit Jahren vorbildlich funktioniert).

Abb. 1 illustriert die Rekrutierungsraten der britischen DRAFFT-Studie (Distal Radius Acute Fracture Fixation Trial) [7], welche durch das Health Technology Assessment Scheme des National Institute of Health Research [HTA08/116/97] finanziert und durch ein umfangreiches methodisches, administratives und klinisch-logistisches Netzwerk unterstützt wurde. DRAFFT verglich die volare winkelstabile Plattenosteosynthese mit einer perkutanen K‑Draht-Fixation in einer gemischten Patientenstichprobe. Bemerkenswert war eine höher als erwartete Rekrutierungsdichte an den beteiligten 18 Zentren. Die Steuerungsgruppe entschloss sich aufgrund der einmaligen Chance, die Rekrutierung nicht bei den geplanten 390 Patienten zu stoppen, sondern den vollen Förderzeitraum auszuschöpfen und somit 461 Patienten einzuschließen.

Abb. 1
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Rekrutierungsraten des DRAFFT-Trial [7]. Beachten Sie die höher als erwartete Rekrutierungsdichte an den 18 britischen Zentren, welche dazu führte, dass in 18 Monaten statt der geplanten 390 Patienten 461 rekrutiert wurden

Eine engere Zusammenarbeit zwischen universitären und nichtuniversitären unfallchirurgisch-orthopädischen Zentren ist essenziell, wenn es (neben der Registerforschung) um prospektive Studien, ob randomisiert oder nicht randomisiert, ob konfirmatorischer oder explorativer Natur, geht. In der Zukunft erwarten uns spannende Förderprogramme und Entwicklungen in der klinischen Studienmethodik, in die wir uns gemeinsam einbringen und von denen wir alle profitieren können. Evidenzbasierte Unfallchirurgie und Orthopädie ist real und facettenreich. In diesem Sinne bedanken wir uns als Gastherausgeber für die Beiträge unserer Kolleginnen und Kollegen und wünschen Ihnen viel Vergnügen und Erkenntnisgewinn bei der Lektüre.

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Prof. Dr. Dirk Stengel, MSc (Epi)

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Priv.-Doz. Dr. Christoph Bartl