Impfungen sind heutzutage in der Regel gut verträglich. Dennoch mehren sich weltweit impfkritische Stimmen, sodass die WHO 2019 „vaccine hesitancy“ (Unschlüssigkeit zum Impfen) neu in die Liste der weltweit zehn größten Gesundheitsgefahren aufgenommen hat [1]. Viele Impfungen werden im ersten Lebensjahr durchgeführt, also dem Alter, in dem sich – unabhängig von einer vorausgegangenen Impfung – bereits viele neurologische Erkrankungen des Kindes- und Jugendalters manifestieren. Die Ätiopathogenese vieler dieser Erkrankungen ist auch heute noch nicht verstanden. Epilepsien zeigen im ersten Lebensjahr die höchste Inzidenz des Kindes- und Jugendalters [2]. Prä- oder peripartal erworbene infantile Zerebralparesen werden oft erst ab dem 2. Lebenshalbjahr, also in einem Alter nach Durchführungen der ersten Impfungen, erkannt [3]. Daher besteht häufig ein zeitlicher Zusammenhang zwischen einer Impfung und dem Auftreten neurologischer Symptome. Ein kausaler Zusammenhang zwischen Impfung und einer daraus resultierenden neurologischen Erkrankung ist jedoch äußerst unwahrscheinlich. Eine exakte, zeitnahe und ausführliche Dokumentation ist für eine bestmögliche Versorgung des Kindes sowie eine Abklärung und spätere Bewertung jedoch von großer Bedeutung [4].

Die vorliegende Aktualisierung unserer Stellungnahmen aus den Jahren 2005 und 2015 geht zunächst auf bekannte neurologische Symptome nach Impfungen und die plausiblen zeitlichen Zusammenhänge ein. Im zweiten Teil werden mögliche Zusammenhänge zwischen neurologischen Symptomen und Impfungen beschrieben. Der dritte Teil führt exemplarisch einige behauptete, aber eindeutig widerlegte Zusammenhänge auf. Der abschließende vierte Teil gibt konkrete Handlungsempfehlungen zum praktischen Vorgehen bei Auftreten ungewöhnlicher neurologischer Symptome in zeitlichem Zusammenhang mit Impfungen und macht Vorschläge zur weiteren differentialdiagnostischen Abklärung.

1. Bekannte neurologische Symptome nach Impfungen

Neurologische Symptome nach einer Impfung sind sehr viel seltener als im Rahmen der entsprechenden Infektion [5].

Fieberkrämpfe.

Voraussetzung für einen kausalen Zusammenhang zwischen der Impfung und dem Auftreten der neurologischen Symptomatik ist ein plausibler zeitlicher Zusammenhang. Fieber tritt nach Impfung mit Totimpfstoffen üblicherweise in den ersten 48 h bzw. nach der Impfung mit Lebendimpfstoffen (z. B. Masern-Mumps-Röteln, Varizellen) aufgrund der erforderlichen Vermehrung der Impfviren nach 5 bis 12 Tagen auf [6]. Impfungen verursachen keine Epilepsie [7], jedoch können im Rahmen von mit Impfungen assoziiertem Fieber bei entsprechender genetischer Disposition Fieberkrämpfe auftreten. Eine retrospektive Analyse von Berkovic et al. [8] konnte bei 11 von 14 Patienten mit der Diagnose einer vermeintlichen „chronischen postvakzinalen epileptischen Enzephalopathie“ nachweisen, dass die Symptomatik nicht auf die Impfung, sondern auf ein Dravet-Syndrom zurückzuführen ist, dessen Ursache Mutationen im Natriumkanalgen SCN1A sind. Bei 77 Patienten mit Dravet-Syndrom trat der erste zerebrale Anfall entweder nichtimpfassoziiert (79 %) oder impfassoziiert (21 %) auf, ohne dass sich der weitere Erkrankungsverlauf zwischen beiden Gruppen unterschied [9]. Damiano et al. [10] empfehlen bei allen Kindern mit prolongierten Fieberkrämpfen, die in zeitlichem Zusammenhang mit einer Impfung auftreten, eine routinemäßige SCN1A-Diagnostik.

Hypoton-hyporesponsive Episoden.

Hypoton-hyporesponsive Episoden (HHE) sind kollapsähnliche Reaktionen bei Säuglingen und Kleinkindern, die durch plötzliches Auftreten einer erniedrigten Muskelspannung (hypoton), reduzierte Ansprechbarkeit und Reaktion auf Reize (hyporesponsiv) und bläuliche Hautfärbung oder Blässe charakterisiert sind. Die mittlere Zeit zwischen Impfung und Auftreten der Symptomatik liegt bei 3–4 h (Zeitspanne: wenige Minuten bis 48 h), die Dauer beträgt zwischen 6 und 30 min (bis zu einigen Tagen) [11]. HHE wurden nach Verabreichung zahlreicher Impfstoffe, am häufigsten nach den früher verwendeten Pertussisganzkeim-Kombinationsimpfstoffen beschrieben. Gesundheitliche Langzeitfolgen bei den betroffenen Patienten wurden nicht beobachtet [12]. Die Ätiologie der HHE ist bisher nicht geklärt.

Das vereinzelte Auftreten Vakzine-assoziierter paralytischer Poliomyelitis (VAPP) nach oraler Polio-Lebendimpfung führte zum Wechsel hin zum intramuskulär zu verabreichenden Polio-Totimpfstoff und damit zur Eliminierung dieser Impfnebenwirkung [13].

2. Mögliche Zusammenhänge zwischen Impfungen und neurologischen Symptomen

Hinweise auf einen kausalen Zusammenhang zwischen einer Impfung und dem nachfolgenden Auftreten einer neurologischen Erkrankung finden sich nur vereinzelt. In Finnland wurde 2010 ein Anstieg der Inzidenz der Narkolepsie bei Kindern und Jugendlichen unter 17 Jahren im Vergleich zu den Vorjahren um das 17-Fache beobachtet und dem pandemischen Influenza H1N1-Impfstoff Pandemrix® (GlaxoSmithKline, Brentford, England) zugeschrieben [14]. Ähnliche Beobachtungen wurden in Norwegen [15], Schweden [16, 17], England [18] und Frankreich [19] gemacht. Die Zusammenhänge sind bisher nicht vollständig verstanden [20,21,22] und eine Kausalität nicht gesichert [23]. Hinweise auf eine Assoziation zwischen der saisonalen Influenza-Impfung und dem Auftreten einer Narkolepsie finden sich nicht [24].

Nicht eindeutig sind die Daten für das Auftreten eines Guillain-Barré-Syndroms (GBS) nach Influenza-Impfung. Eine US-amerikanische Metaanalyse beschrieb eine signifikante Zunahme der GBS-Inzidenz (relatives Risiko 2,35, 95 %-KI 1,42–4,01) nach monovalenter Influenza A(H1N1)-Impfung [25]. Im Gegensatz hierzu wurde in einer multinationalen europäischen Studie für die Saison 2009 [26] und in einer US-amerikanischen Studie für die Saison 2012–2013 [27] jeweils keine Assoziation zwischen Influenza-Impfung und Auftreten eines GBS gefunden. Bei englischen Kindern und Jugendlichen bis 16 Jahre fand sich ebenso kein signifikant erhöhtes Risiko für das Auftreten eines GBS im Rahmen der pandemischen Influenza-Impfung 2009 [28]. Die US-amerikanischen Centers for Disease Control and Prevention beurteilen die Daten über eine mögliche Assoziation zwischen GBS and saisonaler Influenza-Impfung als inkonsistent [29].

Zusammenfassend gibt es entsprechend zurzeit keinen gesicherten Anhalt für das Auftreten chronischer neurologischer Erkrankungen infolge von in Deutschland allgemein empfohlenen Impfungen.

3. Eindeutig widerlegte Zusammenhänge zwischen Impfungen und neurologischen Erkrankungen

Der immer wieder diskutierte Verdacht, Impfungen könnten neurologische Erkrankungen wie z. B. Autismus verursachen (MMR-Impfung) oder Optikusneuritis bzw. multiple Sklerose auslösen (Hepatitis-B-Impfung), wurde durch klinische Studien zweifelsfrei widerlegt [30,31,32,33,34].

4. Praktisches Vorgehen

Wenn in einem zeitlichen Zusammenhang mit Impfungen ungewöhnliche, unter Punkt 1 und Punkt 2 nichtgenannte neurologische Symptome auftreten, ist eine umfangreiche Abklärung notwendig. Dies dient dem Zweck, eine zugrunde liegende, eventuell behandelbare Krankheit nachzuweisen und damit einen kausalen Zusammenhang zur Impfung auszuschließen. Dazu sind eine ausführliche Anamnese und Diagnostik sowie eine exakte und zeitnahe Dokumentation der Impfung und des klinischen Verlaufes sowie die Sicherung von Patientenproben notwendig.

Die Brighton Collaboration (www.brightoncollaboration.org) hat für zahlreiche im Zusammenhang mit Impfungen auftretende neurologische Symptome Falldefinitionen sowie Empfehlungen zu Datenerhebung und Auswertung erarbeitet, so z. B. für zerebrale Anfälle [35], HHE [36] und Narkolepsie [37].

Treten bei einem Kind oder Jugendlichen nach einer Impfung neurologische Symptome auf, erfolgt die Erstdiagnostik in der Regel durch den impfenden Arzt oder die nächstgelegene Klinik für Kinder und Jugendliche. Essenziell sind eine sehr sorgfältige Anamnese und gründliche Untersuchung des Patienten zum Zeitpunkt des Auftretens der neurologischen Symptomatik und im weiteren Verlauf. Eine ausführliche und detailreiche Dokumentation von Anamnese und Befunden hilft dabei, einen möglichen Zusammenhang zu einer Impfung auch zu späterer Zeit ggfs. erneut zu prüfen.

Das folgende Vorgehen wird vorgeschlagen (Abb. 1):

Abb. 1
figure 1

Vorgehensweise zur differentialdiagnostischen Abklärung von in zeitlichem Zusammenhang mit Impfungen auftretenden neurologischen Symptome im Kindes- und Jugendalter. (aus [39])

a. Anamnese

Von besonderer Bedeutung ist eine exakte und ausführliche Dokumentation der Abläufe und des klinischen Zustandes in einem präzisen Zeitraster. Die Durchführung der Impfung ist, einschließlich Chargen-Nummer des/der verabreichten Impfstoffs/Impfstoffe, anhand des Impfausweises zu dokumentieren. Die Anamnese ist insbesondere bezüglich Hinweisen auf neurologische Erkrankungen (z. B. zerebrale Anfälle), Stoffwechselkrankheiten und Hinweise auf gehäufte bzw. ungewöhnliche Infektionskrankheiten beim Patienten und der Familie zu erheben. Hier ist ein Stammbaum über 3 Generationen unter Einschluss totgeborener und verstorbener Familienmitglieder zu erstellen.

b. Untersuchung

Es ist eine ausführliche körperliche Untersuchung mit besonderer Berücksichtigung des neurologischen Status durchzuführen. Lassen sich bei der Untersuchung neurologische Symptome nachweisen, die in zeitlichem Zusammenhang mit der Impfung auftraten, sollte der Untersucher eine weiterführende Untersuchung durch einen Neuropädiater veranlassen.

c. Labordiagnostik (siehe auch Tab. 1)

Tab. 1 Auswahl sich in zeitlichem Zusammenhang mit Impfungen möglicherweise manifestierender neurologischer Erkrankungen und der durchzuführenden Diagnostik

Für weiterführende Laboruntersuchungen sollten Blut, Urin, Stuhl und respiratorische Sekrete z. B. für virologische und metabolische Diagnostik asserviert und untersucht werden. Die Indikation zur Liquoruntersuchung zum Nachweis entzündlicher und metabolischer Erkrankungen sollten großzügig gestellt werden. Die Liquordiagnostik sollte umfassen: Untersuchung von Zellzahl mit Differenzierung, Gesamteiweiß, Liquorzucker-Blutzucker-Quotient, Laktat, intrathekale Immunglobulinsynthese mit gleichzeitiger Serumbestimmung und Bezug auf die Blut-Liquor-Schrankenfunktion (Reiber-Schema), oligoklonales IgG, bakteriologische Kulturen und bakteriologisch-virale Multiplex-PCR-Diagnostik, ggf. Autoantikörper (z. B. N‑Methyl-D-Aspartat(NMDA)-Rezeptor-Antikörper).

Bei febrilen zerebralen Anfällen, auch im Säuglings- und Kleinkindalter, muss an das Vorliegen von Virusenzephalitiden gedacht werden. Zum Beispiel können Infektionen mit Parechoviren keine oder nur eine geringgradige Liquor-Pleozytose aufweisen und sind nur durch eine PCR-Diagnostik im Liquor und/oder im Stuhl/in respiratorischen Sekreten zu diagnostizieren [38].

Nach Impfungen mit Lebendimpfstoffen sollte zusätzlich ein direkter Erregernachweis im Liquor zur Unterscheidung zwischen Impf- und Wildtyp-Virus in Absprache mit dem jeweiligen nationalen Referenzzentrum des Robert Koch-Instituts (www.rki.de) veranlasst werden.

Bei klinischem Verdacht auf das Vorliegen einer Stoffwechselerkrankung sollten bereits bei der Erstuntersuchung des Patienten Serum, EDTA-Plasma, Trockenblutkarte, Urin und ggf. Liquor zur Stoffwechseldiagnostik gewonnen werden, da z. B. Organoacidurien und Fettsäureoxidationsstörungen am besten zum Zeitpunkt der klinischen Symptomatik nachweisbar sind. Untersuchungen im symptomfreien Intervall können unauffällig sein.

Bei einer in zeitlichem Zusammenhang mit Impfungen auftretenden neurologischen Symptomatik sind zusätzlich Serum‑, EDTA-Plasma‑, Liquor- und Urinproben für eventuelle spätere Untersuchungen bei -20°C zu asservieren. Prinzipiell sollte auch bedacht werden, EDTA-Blut ggf. für spätere genetische Diagnostik zu asservieren.

d. Apparative Diagnostik

Insbesondere bei allen Patienten mit Bewusstseinsstörung ist die Ableitung eines EEG mit der Frage nach Hinweisen auf Enzephalitis, einen bioelektrischen Status oder postkonvulsive Veränderungen indiziert. In Abhängigkeit der klinischen Symptomatik ist eine zerebrale Bildgebung (Sonographie, MRT mit Kontrastmittel, Diffusionswichtungen und Angiosequenz) durchzuführen. Bei Verdacht auf eine Neuritis oder eine neuromuskuläre Erkrankung ist die Nervenleitgeschwindigkeit zu bestimmen.

e. Weiterführende Diagnostik

Bei persistierenden neurologischen Symptomen sollte eine erweiterte neuropädiatrische Abklärung durchgeführt werden. Bei Verdacht auf Störungen des auditiven, visuellen oder zentralen somatosensiblen Systems sollten evozierte Potenziale abgeleitet werden. Weiterführende molekulargenetische Untersuchungen (Panel- und Exomdiagnostik im Blut) haben die Durchführung von Gewebsbiospien (z. B. Haut, Muskel, Leber) weitestgehend abgelöst. Tab. 1 fasst mögliche Differenzialdiagnosen zugrunde liegender neurologischer Erkrankungen und die zur Abklärung durchzuführende Diagnostik zusammen. Eine exakte Diagnose ist die Voraussetzung für eine gezielte Behandlung und Prognosestellung.

f. Meldepflicht

Unabhängig vom Verdacht eines „Impfschadens“ müssen unerwünschte Arzneimittelwirkungen (einschließlich Impfstoffen) in Deutschland der Zulassungsbehörde (Paul-Ehrlich-Institut) direkt und an das örtliche Gesundheitsamt und der Arzneimittelkommission der Ärzteschaft gemeldet werden. Die Rechtsgrundlagen für dieses Meldewesen finden sich im Infektionsschutzgesetz, § 6: „der Verdacht einer über das übliche Ausmaß einer Impfreaktion hinausgehenden gesundheitlichen Schädigung“ ist namentlich zu melden.

Meldebogen sind im Internet abrufbar und können dort auch direkt online ausgefüllt werden: https://www.pei.de/SharedDocs/Downloads/DE/arzneimittelsicherheit/pharmakovigilanz/ifsg-meldebogen-verdacht-impfkomplikation.pdf, bzw. www.akdae.de/Arzneimittelsicherheit/UAW-Meldung/index.html.