Betrachtet man die Verhältnisse in der Bundesrepublik Deutschland, fragt man sich, ob das Thema Tuberkulose überhaupt eine besondere Beachtung verdient: die Zahlen der Erkrankten haben sich in den letzten Jahren weiter vermindert und der abnehmende Trend ist nach wie vor erkennbar. 7723 Neuerkrankungen im Jahr 2002 deuten allerdings darauf hin, dass die Erwartung, die Tuberkulose in endlicher Zeit zu "besiegen", auch in unserem Land ein Wunschtraum bleiben wird. Betrachtet man darüber hinaus die sehr problematische internationale Entwicklung der Tuberkulosesituation, versteht man, dass die Beschäftigung mit dieser Infektionskrankheit nach wie vor einen hohen Stellenwert hat.

Der Artikel von H. Morr in diesem Heft belegt die zunehmend schwierige internationale Epidemiologie: jährlich kommen weltweit 8–9 Mio. Tuberkuloseneuerkrankungen hinzu, insgesamt sind 1,7 Mrd. Menschen infiziert, wobei die HIV-Verbreitung insbesondere in den Entwicklungsländern hierzu nicht unerheblich beiträgt—durch den Reiseverkehr sind diese Länder aber nicht mehr wie früher separiert, sondern "direkt vor unserer Haustür". Die Infektionsserie mit dem Corona-Virus hat dies im Frühjahr gezeigt, und man darf mit Sicherheit annehmen, dass die Verhältnisse für TBC ähnlich sind. Dieser Umstand fällt allerdings nicht auf, weil die "Grundlast" der Tuberkuloseinfektion auch in der Bundesrepublik viel größer ist als für das erwähnte Corona-Virus.

TBC ist also nach wie vor (und zunehmend) ein klinisches Problem, was auch in dem Artikel von P. Zabel und U. Greinert deutlich wird. Man muss bedenken, dass durch den Wegfall der spezifisch auf die Tuberkulose gerichteten Betreuungssysteme heute jeder Arzt in der Lage sein muss, diese klinischen Probleme zu erfassen und zu lösen. Aus diesem Grund sind auch die chirurgischen Verfahren, die zwar zeitweise in den Hintergrund getreten sind, mit einem Beitrag von H. Branscheid in diese Ausgabe aufgenommen worden. Die operativen Möglichkeiten wurden in den letzten Jahren verbessert, was in Zukunft zweifellos zu einer stärkeren Berücksichtigung dieser Verfahren führen wird.

TBC ist auch 121 Jahre nach Entdeckung des Erregers wissenschaftlich hochaktuell

Die Beschäftigung mit dem Thema TBC ist aber auch aus anderen Gründen wichtig und interessant. Infektionskrankheiten sind heute im medizinischen Bewusstsein eines europäischen Landes nicht in vorderster Linie angesiedelt, obwohl sie auch heute—insbesondere bei der weltweiten Betrachtung—immer noch Nummer 1 in der Bedeutung für die Gesundheitsentwicklung der Bevölkerung sind; man denke nur an Malaria, AIDS und die häufigen gastrointestinalen Infektionen. Bei der Tuberkulose, die auch quantitativ in diesen Kreis hineingehört, kann man in besonders eindrucksvoller Weise die Vorgänge von Infektion und Abwehr studieren und verstehen lernen, wie die Beziehungen zwischen Wirt und Erreger gestaltet sind. Diese Mechanismen werden in 2 Artikeln in diesem Heft behandelt: S.H.E. Kaufmann stellt die Vorgänge dar, die auf immunologischem Gebiet bei der Tuberkuloseinfektion ablaufen und deren Aufklärung auch darüber hinaus unsere Kenntnisse über immunologische Vorgänge sehr befruchtet haben. R.D. Horstmann wendet sich der Tuberkuloseempfänglichkeit zu, die uns Wesentliches über genetische Voraussetzungen einer Infektion lehrt und ein immer wieder klinisch beobachtetes Paradoxon aufklärt.

Schließlich ist die Tuberkuloseinfektion auch in besonderer Weise geeignet, die formale Pathogenese der Gewebsveränderungen inklusive ihrer molekularen Steuerung zu untersuchen, und zu verstehen, welche Prozesse im Organismus nach einer Infektion ablaufen. Der Beitrag von S. Ehlers zeigt, wie eng die Vorgänge von Gewebszerstörung und Heilung miteinander verwoben sind.

Neben der unmittelbaren klinischen Bedeutung spielt die Beschäftigung mit TBC auch eine große Rolle für wissenschaftliche Fragestellungen, aus denen sich neue Ansätze für diagnostische und therapeutische Ziele ergeben; dieses zeigen die Beiträge im Heft ebenfalls. So gesehen ist die Tuberkulose ein "klassisches" Krankheitsbild und auch 121 Jahre nach der Entdeckung des Erregers durch R. Koch wissenschaftlich hochaktuell. Es ist notwendig, dass die klinischen Kenntnisse über diese Erkrankung nicht verloren gehen, damit die Tuberkulose nie wieder die Bedeutung erlangt, die sie vor 120 Jahren hatte, und die sie seinerzeit zu der gefürchtetsten Seuche des Industriezeitalters werden ließ.

Peter v. Wichert, Hamburg