„Die Zukunft der Kinderanästhesie ist die TIVA“ lautete 2002 der provokante Titel einer Übersichtsarbeit von Franz-Josef Kretz in Current Opinion of Anaesthesiology [1]. „Inhalationsanästhetika bleiben der Eckpfeiler der Anästhesie bei Kindern“, antwortete Jerrold Lerman fünf Jahre später in der gleichen Zeitschrift [2]. Jahrelang war die Diskussion darüber, ob eine inhalativ-balancierte oder eine totalintravenöse Anästhesie (TIVA) das überlegene Verfahren für die Anästhesie bei Kindern sei, ein beinahe unausweichliches Reizthema anästhesiologischer Kongresse. Zeitweise wurde diese Diskussion sehr emotional und von manchen geradezu apodiktisch geführt. Bei vielen bestand offenbar der große Wunsch, Kinderanästhesisten einem der beiden Lager – entweder balanciert oder TIVA – fest zuzuordnen. Wir kennen dieses Phänomen aus anderen erregenden Themenfeldern unseres Fachgebiets, wie beispielsweise Larynxmaske vs. Trachealtubus oder Kristalloide vs. Kolloide.

Doch die vermeintliche Kontroverse ist inzwischen in die Jahre gekommen und die Gemüter scheinen sich ein wenig beruhigt zu haben. Denn es gibt, rational betrachtet, handfeste Gründe, beide Anästhesieverfahren mit jeweils guter Indikation und Begründung einzusetzen. Somit wäre es aus Sicht des Autors töricht, ohne Not auf eine der beiden bewährten Techniken zu verzichten. Warum also sollte man freiwillig entweder Straßenbahn oder Bus verschmähen, wenn man, von Fall zu Fall, einfach nur zügig und sicher von A nach B gelangen möchte?

Gute Kinderanästhesien sind individuell, auf Eingriff, Ort und Gesamtkonstellation zugeschnitten

(Das ist übrigens kein Widerspruch zu einer sorgfältigen und maßvollen Definition nationaler oder institutioneller Leitplanken, also Leitlinien oder SOP.) In der modernen Kinderanästhesie ist daher kein Platz für ein One-fits- all-Verfahren. Weder inhalativ-balancierte noch totalintravenöse Techniken sind für jedes Kind jedes Alters und bei jedem Eingriff optimal geeignet. Der Ermessensspielraum guter anästhesiologischer Praxis ist hier hoch, wobei nur in jeweils wenigen Fällen entweder volatile Anästhetika (z. B. Sevofluran) oder Propofol kontraindiziert sind.

Pros und Contras

Die Argumente für und wider die jeweilige Technik berücksichtigen klinische, pharmakologische, technisch-organisatorische und ökonomische Aspekte. Dabei lassen sich die jeweiligen Vor- und Nachteile von Sevofluran und Propofol kurz zusammenfassen [3]: Für die balancierte Anästhesie mit Sevofluran sprechen die insbesondere bei Kindern sehr nützliche Option der inhalativen Einleitung, die einfache Applikation, die zuverlässige Messung der effektiven (endtidalen) Anästhetikakonzentration und die pharmakokinetische Sicherheit auch bei Früh- und Neugeborenen sowie kleinen Säuglingen. Potentielle Limitationen von Sevofluran (oder Desfluran) sind eine erhöhte Delirinzidenz bei disponierendem Alter und Eingriff sowie die Kontraindikation bei bekannter oder vermuteter Disposition für eine maligne Hyperthermie (MH) oder potenziell rhabdomyolysegefährdete Erkrankungen.

Für eine totalintravenöse Anästhesie mit Propofol sprechen die gute Dämpfung von Atemwegsreflexen, das ruhige Aufwachen, das antiemetische Potenzial sowie die zuverlässige Applikation bei Atemwegsendoskopien und außerhalb von Operationsbereichen. Von Nachteil können sein die, trotz Target-controlled-infusion-Technik, letztlich unbekannte Anästhetikakonzentration im zentralen Kompartiment, die unklare Pharmakokinetik bei Früh-, Neugeborenen und Säuglingen sowie das potenzielle Risiko eines Propofolinfusionssyndroms (PRIS) bei längerer Applikationsdauer und höherer Kumulativdosis. Bezüglich guter Steuerbarkeit und ökonomischer Aspekte unterscheiden sich beide Verfahren nicht wesentlich.

Es gibt jeweils gute Argumente für oder gegen inhalativ-balancierte oder intravenöse Anästhesieverfahren. Nur in der Minderzahl der Fälle erscheint die Verwendung des einen oder des anderen Verfahrens zwingend. Lokale Strukturen, individuelle Präferenzen und persönliche Glaubensbekenntnisse spielen offenbar die entscheidende Rolle.

Eine fundierte anästhesiologische Weiterbildung muss beide Techniken abbilden

Die Applikation von Medikamenten über die Atemwege erscheint zeitlos elegant und ist somit auch in der neuzeitlichen Anästhesie seit den 1840er-Jahren bei Patienten aller Altersgruppen fest etabliert. Die intravenöse Infusion von Anästhetika ist inzwischen ebenfalls seit Jahrzehnten weitverbreitete, bewährte klinische Praxis, sodass wir uns glücklich schätzen können, zwei gleichermaßen wertvolle Anästhesietechniken in unserem Repertoire zu haben. Gleichzeitig sollten wir offen sein für neue Verfahren und Medikamente. Im Kontext der inhalativen Anästhesie gilt beispielsweise Xenon seit Jahren als „unentdecktes Multitalent“, das seines klinischen Durchbruchs harrt [4]. Und auch bei den intravenösen Anästhetika könnte z. B. mit Remimazolam eine neue, interessante Substanz in Sicht sein [5].

Martin Jöhr beschreibt in seiner aktuellen Übersichtsarbeit die Stärken und Schwächen beider Techniken für die Kinderanästhesie [6]. Dank seiner großen klinischen und wissenschaftlichen Expertise sowie dank seines sicheren Augenmaßes und seines geschulten Urteilsvermögens ist ihm eine wohltuend sachliche, unaufgeregte Darstellung der inhalativen und intravenösen Anästhesie bei Kindern gelungen. Sein Fazit ist präzise und prägnant. Zur latenten Frage, ob entweder die inhalative (balancierte) oder die TIVA bei Kindern das Verfahren der Wahl ist, lautet seine präemptive Antwort: Nicht Entweder-oder, sondern Sowohl-als-auch!

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C. Eich