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Kunst der Intimität Zur Produktion von Nähe und Ferne in mittelalterlicher Literatur

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Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte Aims and scope Submit manuscript

»Im philologischen Vergleichen ist ein stetiges Naherücken des Fernen wie ein stetiges Fernerücken des Nahen inbegriffen — eine romantische Liebe zum Fern-Nahen.« (Leo Spitzer)

Zusammenfassung

Der Beitrag untersucht Formen paradoxer Kommunikation, die Nähe durch Projektion von Distanz verstärken. Drei Beispiele mittelalterlicher Literatur demonstrieren, wie diese Raumpraktiken höfische (Rudolf von Fenis), monastische (Walahfrid) und urbane Intimitätsentwürfe (Dante) verbinden. Jenseits einer Motivgeschichte der Fernliebe lassen solche Fälle eine paradoxe Kunst sozialer Verräumlichung erkennen, welche die Kommunikation von Intimität bis zur Gegenwart aktualisiert.

Abstract

The essay explores forms of paradoxical communication that intensify proximity by projecting distance. Three examples from medieval literature demonstrate how these spatial practices equally shape models of courtly (Rudolf von Fenis), monastic (Walahfrid) and urban intimacy (Dante). Beyond the motif of ‚love from afar‘, they display a paradoxical art of social spacing which proves influential on communiction of intimacy up to the present.

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Literature

  1. Leo Spitzer, »Das Eigene und das Fremde. Über Philologie und Nationalismus«, Die Wandlung 1 (1945/1946), 576–594, hier: 576.

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  2. Ulrich Beck, Elisabeth Beck-Gernsheim, Fernliebe. Lebensformen im globalen Zeitalter, Berlin 2011. Die folgenden Überlegungen gehen auf meinen Konstanzer Bewerbungsvortrag aus dem Jahr 2012 zurück. Ihrem essayistischen Ausgangspunkt antwortend, wollen sie nicht mehr als einen Versuch skizzieren; Forschungshinweise beschränken sich daher auf wenige einschlägige Arbeiten.

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  3. Zum weitergehenden Untersuchungsvorhaben, das die folgenden Lektüreansätze variieren, vgl. Bent Gebert, »The Greater the Distance, the Closer You Get: On Teleiopoetry«, in: Markus Stock, Nicola Vöhringer (Hrsg.), Spatial Practices. Medieval/Modern, Göttingen 2014, 63–88.

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  5. Erich Köhler, »Amor de Lonh, oder: Der ‚Prinz‘ ohne Burg«, in: Georges Güntert, Marc-René Jung, Kurt Ringger (Hrsg.), Orbis Mediaevalis. Mélanges de langue et de littérature médiévales offerts à Raduolf Bezzola à l’occasion de son quatrevingtième anniversaire, Bern 1978, 219–234. Vgl. in jüngerer Zeit besonders die vielschichtige Analyse von Jan Söffner, »Liebe als Distanz. Die ‚Fernliebe‘ bei Jaufre Rudel«, in: Martin Baisch (Hrsg.), Der Tod der Nachtigall. Liebe als Selbstreflexivität von Kunst, Göttingen 2009, 55–81 (mit ausführlichen Literaturhinweisen); vgl. auch Angelica Rieger, »Amour de loin. Über die Geschicke eines schicksalhaften Motivs: Amin Maalouf und Jaufre Rudel«, in: Laetitia Rimpau, Peter Ihring (Hrsg.), Raumerfahrung — Raumerfindung. Erzählte Welten des Mittelalters zwischen Orient und Okzident, Berlin 2005, 291–312, und Ulrich Wyss, »Amour de loin«, in: Sonja Glauch, Susanne Köbele, Uta Störmer-Caysa (Hrsg.), Projektion — ReflexionFerne. Räumliche Vorstellungen und Denkfiguren im Mittelalter, Berlin, New York 2011, 161—171.

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  7. Wie Helen Stadler aufgewiesen hat, übernehmen Rudolfs Strophen I, II und V Liedpassagen des Trobadors Folquet de Marseille, Strophe III übernimmt Motive des Trouvères Guiot de Provins; die metrische Form hat Vorbilder in über 30 romanischen Liedern. Daher wertet Stadler Rudolfs Verdienst vor allem als Kombinationsleistung — allerdings mit besonderer Vorliebe zur Paradoxie: vgl. Helen Stadler, »Rudolf von Fenis and his sources«, Oxford German Studies 8 (1973/1974), 5–19, insbes. 8.

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  8. Zur interdiskursiven Verbreitung des Motivs vgl. Xenja von Ertzdorff, »Die Dame im Herzen und Das Herz bei der Dame. Zur Verwendung des Begriffs ‚Herz‘ in der höfischen Liebeslyrik«, Zeitschrift für deutsche Philologie 84 (1965), 6–46, und Nigel Palmer, »‚Herzeliebe‘, weltlich und geistlich. Zur Metaphorik vom ‚Einwohnen im Herzen‘ bei

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  9. Wolfram von Eschenbach, Juliana von Cornillon, Hugo von Langenstein und Gertrud von Helfta«, in: Burkhard Hasebrink, Hans-Jochen Schiewer, Almut Suerbaum, Annette Volfing (Hrsg.), Innenräume in der Literatur des deutschen Mittelalters. XIX. Anglo-German Colloquium Oxford 2005, Tübingen 2008, 197–224.

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  11. Intensiviert »räumliche Distanz« einerseits das Begehren von Nähe, so droht andererseits mit der »Annäherung an den Anderen […] dessen Zerstörung« — diese paradoxe Raumdynamik gestaltet besonders eindrücklich etwa das Narzisslied Heinrichs von Morungen: vgl. Franziska Wenzel, »Die alte ‚niuwe‘ Klage. Reflexionen über die Folgen narzißtischer Begierde in der Minneklage Heinrichs von Morungen«, in: Stephan Müller, Gary S. Schaal, Claudia Tiersch (Hrsg.), Dauer durch Wandel. Institutionelle Ordnungen zwischen Verstetigung und Transformation, Köln 2002, 211–222, insbes. 213–216 (Zitate 216 bzw. 215).

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  12. Vgl. Karina Kellermann, »Ulrichs von Liechtenstein ‚Frauendienst‘ als mediales Labor«, in: Sandra Linden, Christopher Young (Hrsg.), Ulrich von Liechtenstein. Leben — Zeit — Werk — Forschung, Berlin, New York 2010, 207–260. Das autobiografische Modell oszilliert damit in einem »Spannungsfeld […] medialer Vermittlungsmodi« (242): Die von Ulrich verwendeten Schriftstücke und Boten fungieren bald als Partizipationsmedien »körperlicher Präsenz« (225), bald als Transporteure von »Fernkommunikation« (259). Auch die Liedeinlagen des Frauendienstes selbst entwerfen Fern-Nahen (z.B. Lied 57).

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  15. Diese gegenläufigen Aspekte lassen sich in ihrer Gegenläufigkeit nicht graphematisch zusammenfassen; und wie im Falle anderer prominenter Begriffs(um)prägungen spielt Derrida darauf mit minimaler graphemischer Variation (‚-i-‘) an. Entsprechend verwendet Derrida neben ‚téléiopoièse‘ auch ‚télépoièse‘ und zugehörige Ableitungsformen. Die vorliegenden Überlegungen folgen diesem (strategischen) Begriffsspiel nicht, sondern beschränken sich auf die umfassendere Schreibung (Teleiopoiesis). Deutsche und englische Übersetzungen sowie Aufnahmen in der Forschung reduzieren in ihrem Bemühen um terminologische Konsistenz diese Ambiguität zumeist auf ‚Teleopoiesis‘, ‚teleopoiesis‘; vgl. zu Terminologisierungs-und Übersetzungsproblemen zusammenfassend Corinne Scheiner, »Teleiopoiesis, Telepoesis, and the Practice of Comparative Literature«, Comparative Literature 57 (2005), 239–245, insbes. 242–244

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  16. und Eric Hayot, »I/O. A Comparative Literature in a Digital Age«, Comparative Literature 57 (2005), 219–226, insbes. 221.

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  17. vgl. Julius Pokorny (Hrsg.), Indogermanisches etymologisches Wörterbuch, 2 Bde., Bern, Tübingen 1959–1969, hier: Bd. 1, 639L, und Hjalmar Frisk (Hrsg.), Griechisches etymologisches Wörterbuch, 2. Aufl., 3 Bde., Heidelberg 1973–1979, hier: Bd. 2, s.v. ‚telos‘. Insgesamt zeigt sich also die Paradoxic von ‚Erreichen‘ und ‚Abstand‘ eines ‚Ziels‘ umso schwächer, je weiter Derridas etymologische Geste zurückgreift.

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  18. Vgl. Burkhard Hasebrink, »‚Ich kann nicht ruhen, ich brennen Überlegungen zur Ästhetik der Klage im Fließenden Licht der Gottheit«, in: Manuel Braun, Christopher Young (Hrsg.), Das fremde Schöne. Dimensionen des Ästhetischen in der Literatur des Mittelalters, Berlin, New York 2007, 91–107.

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  19. Teleiopoiesis konkretisiert damit auf der Ebene von Praktiken mediale Bedingungen, die im Mittelalter besonders für religiöse Differenz charakteristisch sind: vgl. Christian Kiening, »Medialität in mediävistischer Perspektive«, Poetica 39 (2007), 285–352, insbes. 332f. (Zitat). Zu fragen wäre allerdings am Einzelfall, ob Fern-Nahen deshalb notwendigerweise religiöser Kommunikation einbeschrieben bleiben — oder ob sie deren Differenztechnik (auch jenseits von Religion) kopieren und variieren.

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  21. Textwiedergabe nach Walahfrid Strabo, Metrum sapbicum, Poetae Latini aevi Carolini, hrsg. Ernst Dümmler, Berlin 1884, 412–413

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  22. Übersetzung: Walter Berschin, »Über Walahfrid Strabo und sein Metrum saphicum«, in: Bruno Epple, Walahfrid Strabos Lob der Reichenau, Friedrichshafen 2000, 23–51, hier: 33–38.

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  24. Vgl. zu Walahfrids eigentümlichen Variationen der Versstruktur die Analyse von Ludwig Bernays, »Formale Aspekte karolingischer Lyrik des Klosters Reichenau«, Mittellateinisches Jahrbuch 32 (1997), 11–27.

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  27. Vgl. dazu Paul Michel, »‚Ignorantia exsilium hominis‘. Zu einem enzyklopädischen Traktat des Honorius Augustodunensis«, in: Martin Hannes Graf, Christian Moser (Hrsg.), Strenarum lanx. Beiträge zur Philologie und Geschichte des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Festgabe für Peter Stotz zum 40-jährigen Jubiläum des Mittellateinischen Seminars der Universität Zürich, Zug 2003, 117–143.

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  28. Unter diesen Prämissen hat Peter Strohschneider das Textwissen der Legende beschrieben: »hagiographische Narration« sei als »Figur der Nähe des Fernen, als Ort der imitierbaren Anwesenheit des Abgeschiedenen« lesbar; Peter Strohschneider, »Weltabschied, Christusnachfolge und die Kraft der Legende«, Germanisch-romanische Monatsschrift 60 (2010), 143–163, hier: 156, vgl. auch 160. Ausführlich beschreibt auch Weitbrecht (Anm. 36) die Prozessdynamiken von Distanzierung und Annäherung, die legendarische Texte zum Zweck sozialer Heiligung‘ als Reisebewegungen auserzählen.

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  29. Vgl. grundlegend Charles Singleton, An essay on the ‚Vita Nuova‘, Cambridge, MA 1949

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  31. Vgl. Angelus Silesius [Johannes Scheffler], Cherubinischer Wandersmann. Kritische Ausgabe, hrsg. Louise Gnädinger, Stuttgart 1984, Buch IV, Epigramm 97.

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  32. Vgl. Albrecht Koschorke, Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts, 2. Aufl., München 2003, hier: insbes. 206–209.

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  33. Diese Gefährdung — und ihre verstärkte teleiopoietische Bearbeitung — spiegeln im Mittelalter gerade Kommunikationserwartungen sozialer Kopräsenz, die sich auf Fernmedien von Boten einlassen: vgl. dazu jetzt Markus Stock, »Letter, Word, and Good Messengers: Towards an Archaeology of Remote Communication«, Interdisciplinary Science Reviews 37 (2012), 299–313.

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  34. Medienpsychologisch hat diese Klage etwa Sherry Turkle, Verloren unter 100 Freunden. Wie wir in der digitalen Welt seelisch verkümmern, übers, von Joannis Stefanidis, München 2012, vorgetragen: »Einmal wird mir beim Schreiben einer SMS auf schmerzliche Weise meine eigene Sterblichkeit bewusst.

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Gebert, B. Kunst der Intimität Zur Produktion von Nähe und Ferne in mittelalterlicher Literatur. Dtsch Vierteljahrsschr Literaturwiss Geistesgesch 88, 417–438 (2014). https://doi.org/10.1007/BF03375721

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