4.1 Kunst und Zeit: Entromantisierung in Gutzkows Imagina Unruh

Ein Paradebeispiel für selbstreflexives Erzählen in der Zwischenphase ist Karl Gutzkows erstmals 1847 publizierte Novelle Imagina Unruh. Der Text führt einige der wesentlichen Merkmale zusammen, die für unsere Überlegungen von Bedeutung sind – den Lebenslauf eines Künstlersubjekts, Kunstreflexion, Regressivität, Metatextualität – und entfaltet dadurch ein zeitreflexives Potenzial, das auf eine dritte Säule hindeutet, die wir im Hinblick auf die literarische Diskursivierung des Zeitproblems zu eröffnen haben: Zeitreflexion auf Basis metatextuell-selbstreflexiven Erzählens.

Einzigartig zu nennen ist Imagina Unruh bereits im Vergleich mit anderen Texten Gutzkows, die Eingang in unser Textkorpus gefunden haben. Zwar greifen auch jene modifizierend das Modell der Initiationsgeschichte auf (Die Selbsttaufe) oder beziehen Stellung zur Romantik, die sie gleichzeitig aufrufen und unterlaufen (Die Wellenbraut). Aber Imagina Unruh weist insbesondere dadurch darüber hinaus, dass Gutzkow hier ein Künstlersubjekt in den Mittelpunkt des Erzählten stellt, dessen Personen-Konzeption und dessen produzierte Artefakte entscheidende Schaltstellen des Geschehens konfigurieren. Die zeitreflexive Gestaltung erweist sich als Teil eines übergeordneten, metatextuell-selbstreflexiven Zusammenhangs und ist an Strukturen der Entromantisierung gekoppelt. Entromantisierung – das ist das Spiel mit Strukturen der Romantik, bei dem diese als markierte Strukturen inszeniert werden. Das klang schon an, soll nun aber als Startpunkt der weiteren Argumentation dienen. Die Ausgangsidee dieses Kapitels lautet: Metatextuelle Selbstreflexion wird in der Dominantsetzung von ›Kunst‹ und in Entromantisierungsstrukturen codiert, die wiederum beide zeitreflexiv semantisiert sind.

Zum Text: Imagina von Unruh ist alleiniger Spross eines zu Handlungsbeginn bereits verwitweten Landrats. Dieser – zwar liebevoll, aber mit der Kindeserziehung überfordert – übergibt sie zunächst einem Kloster, dann einem Mädcheninternat, bevor er sie schließlich mit dem jungen Adligen August von Wartenberg verheiratet. Die Ehe scheitert, da Imagina als introvertierte Künstlerin nicht mit gesellschaftlichen Konventionen harmoniert, auf die jedoch August seinerseits größten Wert legt. Um einen triftigen Scheidungsgrund zu finden, durchblättern der Landrat und August Imaginas Tagebuch, das eine für beide Männer unverständliche Realität beschreibt. Sie mutmaßen schließlich den Ehebruch mit Otto von Sudberg – einem Breslauer Studenten –; Imagina flieht und beginnt ein neues Leben als Künstlerin. Zuvor rettet sie von Sudberg durch ein Schuldeingeständnis vor einer arrangierten Heirat mit der intriganten Feodore Zaluska und gibt dadurch den Weg frei für eine Verbindung zwischen Zaluska und August.

Der Text hat in den vorherigen Kapiteln mitunter Erwähnung gefunden. Gesprochen wurde über die ambige Temporalsemantik der Figuren und über die Funktionalisierung der narrativen Retrospektive. Für die nun folgende Auseinandersetzung sind vorderhand drei miteinander in Beziehung stehende Punkte zu nennen, die als Zahnräder fungieren, mittels derer Imagina Unruh selbstreflexiv operiert:

  1. (1)

    Im Zentrum steht eine Künstlerin und mit ihr die Fragen nach der ›Personen‹-Konzeption, nach Voraussetzungen, Bedingungen und Möglichkeiten zur Produktion und Rezeption von Kunst.

  2. (2)

    Kunst steht auf unterschiedlichen Ebenen in Relation zur Gesellschaft sowie zu den Systemen der Romantik/Goethezeit und der Zwischenphase.

  3. (3)

    ›Entromantisierung‹ auf den Ebenen des Erzählten und des Erzählens fungiert als Strukturkomplex, in dem die metatextuelle Selbstreflexion des Textes konkret umgesetzt wird.

Konzipiert wird ein Künstlersubjekt, das auf der Schwelle zwischen der Goethezeit und einem nachfolgenden System steht und das dadurch ein ambiger Status kennzeichnet. Auf der einen Seite wird mit Imagina eine Künstlerin mit romantischem und regressivem Impetus aufgebaut: Dafür spricht das Kindheitserlebnis in der Bergwerkgrube, das prägend für ihr gesamtes Leben ist, ebenso wie die Tatsache, dass sie in der fokussierten Gegenwart – genaugenommen in der ›Gegenwart der Vergangenheit‹ – stets rückblickend agiert: Durchweg orientiert sie sich am Kindheitserlebnis oder an der unmittelbaren Vergangenheit, die sie schriftlich zu fassen versucht. Auf der anderen Seite handelt es sich um eine Künstlerin, die die Gegenwartsliteratur – gar die Literatur extratextuell real existenter Autorinnen der Lebenswirklichkeit Gutzkows – rezipiert und sich selbstbewusst und ohne nennenswerten Schaden von sozialen Restriktionen, die der Frau im Denk- und Verhaltenssystem der dargestellten Welt auferlegt sind, emanzipiert. Ein Funktionszusammenhang dieses Künstlersubjekts besteht demnach – im Gegensatz zur Romantik – verstärkt in sozialen, wie auch in politischen Belangen, die der Text in den Paarbildungskonflikt und die Verarbeitung von ›Realität‹ durch die Heldin integriert. Eine einprägsame Einsichtnahme in die Fremdwahrnehmung Imaginas durch ihre Umwelt gewährt ihre Erzieherin Madame Milde in einem umfangreichen Brief an den Landrat:

Wenn ich Ew. Hochwohlgeboren dringend bitte, in Imaginen den Sinn für das wirkliche Leben zu befördern, so muß ich hier noch einen Schritt weiter gehen. Wenn sie Geschichten und Erfindungen so durchleben kann, daß sie Tage, ja Wochen lang in ihnen heimisch bleibt und aus ihnen heraus handelt, spricht und schreibt, so ist das eine für ihre Umgebungen allerdings sehr unterhaltende Gabe, aber eine für sie selbst sehr gefährliche. Geehrter Herr Landrath, wir leben in einer eignen Zeit! Sie mögen in Ihrer Stellung mit den groben Auswüchsen jenes die überlieferte Ordnung der Dinge störenden Dranges zu thun haben, aber viel gewaltiger ist das geheime Rütteln an dieser Ordnung, das geheime Anzweifeln, das versteckte Untergraben. Ach, es gibt unzählige unsichtbare Verbrechen gegen das Ueberlieferte, und von den zartesten Händen werden sie verübt. Ich gedenke meines frühern Bildungsganges, meiner eignen jungen Tage. Wie waren sie anders als die jetzigen! Die frühere Literatur gefiel sich darin, einen oft vielleicht zu weit gehenden überschwänglichen Glauben an das Bestehende zu predigen. Eine Menge frommer Jugend- und Bildungsschriften lagen überall der Erzieherin zur Auswahl vor. Jetzt würde man sich vergebens nach neuen Werken dieser Art umsehen. Wir selbst lesen diese neuen Romane, die aus der Feder sogar unserer weiblichen Schriftstellerinnen fließen, mit getheilten Empfindungen. Unser Urtheil ist gereift. Wir wissen, was wir von diesen Gemälden einer wirklichen oder erträumten Welt zu halten haben; aber wie anders, wenn wir uns einmal denken, daß nun nach uns eine Generation kommt, die in den Anschauungen der Gräfin Hahn-Hahn [id est Ida Gräfin Hahn-Hahn], der Ida von Düringsfeld, unserer schlesischen Landsmännin, der Fanny Lewald und vieler anderer hochromantischer Naturen aufwachsen und erzogen werden! Wol hüt‹ ich mich, daß ein Buchstabe von dieser Literatur in mein Institut oder wenigstens in die Nähe meiner Zöglinge dringt. Kann ich aber vermeiden, daß Imagina, ins Leben tretend, diese Schriften zur Hand nimmt und aus ihnen in langen Zügen Berauschungen ihrer Phantasie trinkt! Ist denn da noch irgend eine Form des Lebens fest und sicher, ist denn da noch irgend ein Wahn und alter Glaube heilig? Nicht, daß ich diese hochpoetischen Frauen anklage, wenn sie das ohnehin ausgebeutete Feld der Erfindung mit neuen Wirr- und Irrgärten bepflanzen, in denen sie und gereifte Gemüther sich wol zurechtfinden; aber ängstigend ist doch dieser Drang nach Idealität, wo die Wirklichkeit thront, nach Poesie des Lebens, wo die Prosa von uns Pflichten verlangt, nach Schönheit, wo so Vieles seiner irdischen Natur nach häßlich sein muß. Ich denke mir, wie das Alles einst auf einen Geist, wie Imaginens, wirken muß, und wie ich für Ihre Tochter, fürchten jetzt zahllose Eltern für ihre Kinder. (Gutzkow 1999 ff. [1847]: 18; Hervorhebung im Original)Footnote 1

Hier läuft mehreres zusammen. Madame Milde schätzt nicht allein Imagina als nicht gesellschaftsfähig ein und attestiert ihr ein Defizit in ihrer Einfindung in die Rolle als Frau. Auch stellt sie in ihren Äußerungen Bezüge zu kunst- und literaturgeschichtlichen Auffassungen wie auch zum hauptsächlichen Ideologiekonflikt her und wertet eine »Poesie des Lebens« gegenüber einem prosaischen Leben ab. Es offenbart sich ein zentraler Baustein einer textlogischen Ebene, der in der Korrelation des Künstlersubjekts mit der mentalen, sozialen und politischen Situation der dargestellten Welt besteht – wobei letztere explizit als Umbruchssituation semantisiert ist, insofern Milde von einer »eignen Zeit« schreibt, die mutmaßlich von einer angenommenen Vergangenheit abweicht. Zu konstatieren wäre hier, dass Voraussetzungen, Bedingungen und Möglichkeiten von ›Kunst‹ immer auch entscheidend determiniert sind durch das Umfeld, in dem sich der Künstler befindet, seine historische Situation und die soziokulturellen Handlungsbedingungen. Das mag als Allgemeinplatz der Künstlernovelle insgesamt gelten, es führt aber in seiner Prägnanz und Virulenz im vorliegenden Text dazu, dass Imagina als Fremdkörper wahrgenommen wird und ihre Werke zunächst unverstanden bleiben. Vor allem ist der Zusammenhang hier zeitreflexiv angereichert und entsprechend literaturgeschichtlich bedeutsam, da Gutzkows Text Aussagen bezüglich seiner eigenen Stellung im Kontext postgoethezeitlicher Problemverhandlungen generiert. Neben vielen anderen Aspekten, auf die noch einzugehen sein wird, spricht dafür insbesondere der Entwurf einer Künstlerin, die sich auf dem ›Absprung‹ von der Romantik befindet.

Unberücksichtigt bleiben darf dabei auch nicht, dass Imagina Künstlerin von Kindesbeinen an, ihre künstlerische Veranlagung ihr gewissermaßen angeboren ist.

Was das Kind Wildes und von der Ordnung des Herkömmlichen Abweichendes trieb, war ihm [dem Landrat von Unruh] in dem Falle, daß es nur mit seinen Gendarmen, den berittenen und unberittenen, in keine criminelle Berührung führte, immer willkommen; nur verstand er selten den Sinn und die Absicht des wunderlichen Wesens, dessen Natur ausschließlich zum Träumerischen und Schwärmenden hinneigte. Der Landrath fühlte die Ironie nicht, daß er bei seinen Conduiten-, Moralitäts- und Mortalitätslisten, bei seinen Viehseuchen- und Markttagevorschriften, bei seinen Paßreglements und Schubtransporten ein Kind erzog, das durch seine ganze polizeiliche Ordnung wie ein Comet fuhr und die Poesie selbst war. (Ebd.: 4)

Auch an anderer Stelle heißt es: »Schon als Kind wußte sie in einem kleinen Stubenwinkel sich ein Paar Stühle hinzustellen und sich daraus im Geist einen Feenpalast zu zaubern.« (Ebd.: 28) Imagina ist bereits als Kind ›die Poesie selbst‹ und wird attribuiert mit dem ›Wunderlichen‹, ›Träumerischen‹, ›Schwärmenden‹, ›Zauberhaften‹ – Semantiken, die der Text deutlich abhebt von den Kontrastfolien preußischer Ordnungsstatik und gesellschaftlicher Dekadenz. Rahmenbedingungen für die Produktion von Kunst sind also nicht allein gesteuert durch den Kulturraum – der Kunst möglichst unterdrückt oder ausgrenzt –, sondern sind zugleich auch als ingeniöser Charakterzug des Subjekts angelegt, als Drang, die eigene Weltwahrnehmung nach außen zu tragen, zu gestalten und zu kommunizieren. Darin unterscheidet sich Imagina auch von einer anderen Figur, Udolpho, dem Virtuosen, der ›Kunst‹ nur zwecks gesellschaftlicher Akzeptanz und fremder Lobhudelei hervorbringt.

›Kunst‹ bildet dabei einen abstrakt-semantischen Raum, der vom Gesellschaftsraum abgegrenzt wird; Imagina – die Heldin – ist Grenzgängerin zwischen beiden Bereichen. Der Text bleibt indessen nicht auf dieses Konfliktfeld beschränkt, sondern gestaltet es metatextuell aus und verfährt entromantisierend. Offenkundig intentional appliziert und modifiziert werden Strukturelemente und Semantiken der Goethezeit, insbesondere der Romantik, indem sie einerseits isoliert und von anderen Semantiken abgegrenzt, sie andererseits derart zentral geltend gemacht und relevant gesetzt werden, dass ihre Bedeutsamkeit im Rahmen der Novelle nicht übergangen werden kann. Zum einen spricht dafür die angedeutete Figurensemantik. Zum anderen die Modifikation des Modells der Initiationsgeschichte: Imagina wird verheiratet, die Ehe geschieden; sie führt schließlich ein Leben ohne Partner. Bemerkenswert ist der Umgang mit den Teilphasen des Modells: T2 wird belegt durch eine fremdbestimmte Paarbildung, nicht aber durch eine freie Experimentalphase in der Entwicklung des Subjekts – oder aber T2 wird gänzlich ausgelassen, das Subjekt übergangslos in T3 versetzt. Ist dies noch mit Blick auf die Setzung eines weiblichen Subjekts als schwierige, wenngleich akzeptable Variante des Modells vertretbar (vgl. Titzmann 2012a [2002]: 228), so ist denn doch bezeichnend, dass dieser vermeintliche Endzustand nicht gehalten werden kann, sondern sich als ein konfliktreiches Interim entpuppt. Der tatsächliche Endzustand ist daher die logische Konsequenz einer Reibung, der das Subjekt ausgesetzt wird: ein ambiger Zustand der sozialen Isolation bei gleichzeitigem Ansehen als Künstlerin. Des Weiteren sind – mit den anderen Punkten verbunden – die rekurrent auftretenden und miteinander in Relation stehenden Motivkomplexe der Romantik ausschlaggebend: allen voran der Pakt zwischen König Kobalt und dem Teufel in einer magischen Grotte voller funkelnder Kristalle und Prinz Wismuth, der in Gestalt Otto von Sudbergs auf die Erdoberfläche tritt; dann Imaginas Erzeugnisse, die – ganz im Gestus der Romantik, jedoch nur für sich genommen – die Grenze zwischen Wirklichkeit und Imagination aufheben und damit einen wesentlichen Charakterzug romantischen Schreibens perpetuieren. Schließlich zeigt die Novelle auch ihrer Erzählstruktur zufolge an, dass sie regressiv funktioniert: Die narrative Retrospektive indiziert auch die Rückwärtsgewandtheit des Textes selbst, der am Vorgängersystem orientiert ist.

Diese Überlegungen lassen den Schluss zu, dass Gutzkows Erzählung die widersprüchliche Aussage verarbeitet, angewiesen zu sein auf Modelle des Vorgängersystems, die der Text als unumgehbar erachtet, und sich zugleich zu distanzieren, indem er diese als nur bedingt tragfähig und unvereinbar mit dem kulturellen Kontext kennzeichnet, mit dem sie in Verbindung stehen. Ebendieses Problem ist Erzählgegenstand: nicht etwa die Substitution des Künstler- und Kunstkonzepts durch ein gänzlich neues, tragfähiges und wünschenswertes, sondern darüber hinaus die Verhandlung von Problemstellungen des eigenen literarischen Schaffens am Ende der Goethezeit – und zwar angesichts des Erscheinungsjahres des Textes sogar noch am Ende der 1840er-Jahre. Damit funktioniert die Novelle selbstreflexiv und metatextuell. Selbstreflexiv, weil sie den eigenen Status als ästhetisches Artefakt reflektiert, das wiederum die Wirklichkeit des Entstehungskontextes einbezieht ebenso wie dies die Heldin tut; metatextuell, da die Erzählung sich (eben über ihre Heldin) dezidiert als postromantischer Text selbst thematisiert – mit Bezug auf die eigene literaturgeschichtliche Stellung und im Angesicht des offensichtlich schwerwiegenden Problems, sich an der Goethezeit zu orientieren, im Bewusstsein aber, diesem Literatursystem selbst nicht mehr anzugehören.

Wenn wir im Folgenden das asymmetrische Verhältnis zwischen Selbstreflexivität und Zeitreflexion besprechen, dann unter Berücksichtigung einiger Prämissen, wie sie teils schon im Aufriss der Grundachsencharakteristik im Einleitungsteil erläutert worden sind: Grundsätzlich besteht unser Vorhaben darin, dem spezifischen Profil von Selbstreflexivität, verstanden als Eigenschaft literarischer Erzähltexte der Zwischenphase, auf den Grund zu gehen, und nicht darin, eine Metatheorie des selbstreflexiven Erzählens überhaupt zu formulieren (wie beispielsweise bei Wolf 2007) – zumal die Forschung aktuell vermehrt auf einen wesentlichen Wesenszug literarischer Selbstreflexivität hinweist, der eben darin besteht, dass sie historisch variabel ist, sie epochal in unterschiedlichen Realisationen vorliegt und funktional verschieden eingebunden sein kann (vgl. Rauen 2016: 222 u. 228). Die einzige Entscheidung hinsichtlich der Begriffsverwendung betrifft eine wesentliche terminologische Differenzierung: Selbstreflexivität hatten wir als besondere Eigenschaft von Texten deklariert (›Ein Text ist selbstreflexiv‹ wie: ›Ein Text ist narrativ‹ oder: ›Ein Text ist fragmentarisch‹); wobei diese Eigenschaft bezüglich ihrer oberflächenstrukturellen Erscheinung und semantischen Verankerung im vorliegenden Kontext der Zwischenphase im Folgenden noch zu spezifizieren wäre. Selbstreflexion wiederum bezeichnet die strukturellen Zusammenhänge von Texten und zielt auf ebenjene Spezifizierung ab: Wenn Selbstreflexivität eine Texteigenschaft benennt, dann benennt Selbstreflexion den idealgenetischen Vorgang selbstreflexiver Vertextung oder dessen strukturellen Output, der mit der Spezifik von Selbstreflexivität einhergeht. Konstitutives Charakteristikum von Texten mit dieser Eigenschaft jedenfalls ist, dass sie selbstreferenziell sind: Sie verweisen auf sich selbst oder auf einen Zusammenhang, dem sie selbst zugehörig sind. Selbstreflexivität geht insofern über Selbstreferenzialität und deren Verweis-Funktion hinaus, als bei ihr eine Bedeuten-Funktion impliziert ist (vgl. Wolf 2007: 32 f.): Die Reflexion ist stets von Relevanz im Bedeutungsgefüge. Auch Texte, die im Rahmen dieser Studie in den Blick genommen werden, sind in diesen Hinsichten als selbstreflexive Texte zu bezeichnen. In Auseinandersetzung mit ihnen wird ihre Selbstreferenzialität vorausgesetzt und Selbstreflexion im Zusammenspiel mit Zeitreflexion eingehender zu betrachten sein.

Das Kapitel baut freilich auf Vorarbeiten der Forschung auf und setzt einige dort getroffene Annahmen voraus (vgl. Abschn. 1.2). Erstens haben wir es – mit Wünsch gesprochen – mit einem metatextuellen Moment zu tun, das ganz offensichtlich zeitreflexiv fundiert ist: Das übergeordnete System – das Literatursystem – wird in Texten synchron abgebildet, indem ein Temporalsegment innerhalb der dargestellten Welt als Entsprechung dieses Systems thematisiert wird – als ›Zwischenphase‹ –; und es wird zusätzlich diachron geltend gemacht, indem es im Rahmen eines Geschichtsprozesses von einem Vorgängersystem und einem Nachfolgersystem abgegrenzt wird. Die Segmente ›Vergangenheit‹, ›Gegenwart‹ und ›Zukunft‹ sind mit separaten Semantiken versehen: Die Vergangenheit erscheint entweder einphasig konstant oder mehrphasig ausdifferenziert, weist aber in jedem Fall eine Semantik der Dominanz gegenüber der Gegenwart auf und befindet sich doch zugleich im Niedergang. Die fokussierte Gegenwart ist ihrerseits ein Zustand der Ausdifferenzierung und eine Phase des Übergangs. Die Zukunft wird dadurch zu einem offenen Möglichkeitsraum, der zwar von den Handlungsträgern potenziell gestaltbar ist, jedoch gleichermaßen erhofft und gefürchtet wird. Als Problem verhält sich die Zukunft homolog mit der Relation zwischen Gegenwart und Vergangenheit: Die Präsenz der Vergangenheit in der Gegenwart ist hauptsächlicher Konfliktpunkt dargestellter Welten; so lange die einhergehende Virulenz dieser Zeitstörung vorhanden ist, ist auch die Zukunft primär ein negativ konnotierter Möglichkeitsraum. Daher war auch – mit Decker – zweitens das Stichwort des ›literarischen Traumas‹ ins Spiel gebracht worden, das aus der paradoxen Anlage des Literatursystems resultiert, eine temporalsemantische Kontrastfolie einzubinden, von der man sich abzugrenzen versucht, sie zugleich aber mitdenkt. Zu beobachten sind daher Koppelungsstrukturen von Integration und Überwindung, von Perpetuierung und Verfremdung, von Applikation und Erosion goethezeitlicher Modelle. Auch die Studien von Sottong und Göttsche schwingen mit, wobei weder historisches Erzählen noch der Zeitroman allein die Menge an zeitreflexiven Texten umfassen, sondern allenfalls zentrale und besonders prägnante Kulminationspunkte bilden. Die Idee hier ist vielmehr, dass Merkmale und Regularitäten sehr viel weiterverbreitet sind als in der Forschung bislang angenommen.

Die Aufgabe dieses Kapitels wird nun sein, herauszustellen, inwiefern Zeitreflexion und Selbstreflexion korrelieren, genauer: Es soll darum gehen, die spezifische Form selbstreflexiven Erzählens der Zwischenphase zu konkretisieren und den asymmetrischen Komplex bestehend aus Zeitreflexion und metatextueller Selbstreflexion zu klären. Denn reflexive Zeitstrukturen – im gegebenen Kontext – können zwar als Teilmenge selbstreflexiven Erzählens angesehen werden, nicht aber sind umgekehrt alle selbstreflexiven Formen ihrerseits zwangsläufig auch zeitreflexiv semantisiert. Um diesem Vorhaben nachzukommen, wird zunächst der Personen-Konzeption von Künstlern (4.2) und dem Spektrum künstlerischer Artefakte (4.3) nachgegangen, sodann Spielarten narrativer Selbstreferenzialität (4.4) in den Blick genommen und schließlich eine Profilierung des Gesamtkomplexes (4.5) vorgenommen.

4.2 Künstlerfiguren: Figuren und Figurenkonstellationen als zeitreflexive Größen

4.2.1 Zum Ansatz: Selbstreflexion, Kunstreflexion, Erzählen

Unsere Überlegungen zu Gutzkows Imagina Unruh legen zweierlei nahe: Der Ansatzpunkt, von dem aus auf Selbstreflexion im Zusammenhang mit Zeitreflexion geschlossen wird, resultiert zum einen aus der Thematisierung von ›Kunst‹. Sofern Literatur als Kunst aufgefasst wird – und dies kann nach dem tiefgreifenden Autonomisierungsschub in der Goethezeit im kulturellen Wissen unseres literarhistorischen Segments als gesetzt gelten –,Footnote 2 ist Kunstreflexion struktureller Träger für Selbstreferenzialität und damit ein Kernelement selbstreflexiven literarischen Erzählens. Eine Reflexion von ›Kunst‹ ist generell dann gegeben, wenn sie in einem bedeutungskonstitutiven Umfang thematisiert wird und von Figuren explizit diskutiert, kommentiert, problematisiert, evaluiert oder für das erzählte Geschehen von richtungsweisender Bedeutung ist oder aber in einem Text implizit-strukturell (etwa durch Spiegelungsstrukturen) realisiert wird – in jedem Fall jedoch dann, wenn sie eine paradigmatische Größe in einem Text repräsentiert. Relevant gesetzt wird ›Kunst‹ durch Exponiertheit, Rekurrenz, Fokussierung oder explizite Thematisierung und vornehmlich durch die semiotische Verschränkung von Text und thematisierter Kunst. Wir werden dies in den folgenden Teilkapiteln darzulegen versuchen.

Wenn nun also – vorderhand theoretisch gesprochen – ein gegebener Text ›Kunst‹ (in welcher Form auch immer) relevant setzt, so erzeugt er damit eine »spezifische Kommunikationsstruktur, bei der Strukturen auf sich selbst abgebildet werden« (Krah 2005: 4) – seien es solche desselben Zeichensystems (schriftsprachlich) oder solche anderer Zeichensysteme (der bildenden Kunst, der Musik und so weiter). Im Rahmen dessen setzt diese Kommunikationsstruktur eine Homologiebeziehung der Literatur mit anderen Künsten voraus: So, wie sich eine thematisierte Kunstform x zu einem Sachverhalt y verhält, verhält sich auch der literarische Text selbst, der die Kunstform thematisiert – und damit Literatur zu y. Dass y dabei eine temporalsemantisch bedeutsame Dimension aufweist, ist der entscheidende Aspekt für unsere Auseinandersetzung. Auch dies konnte am Eingangsbeispiel bereits nachvollzogen werden: Imagina ist nicht nur Künstlerin; auch stellt für sie Zeit eine entscheidende Größe dar, zu der sie sich im Rahmen der Gegebenheiten der dargestellten Welt auf besondere Weise verhält und verhalten muss.

Ein weiterer Ansatzpunkt bildet das Erzählen. Da wir es bei Texten unseres Korpus mit narrativen Texten zu tun haben, ist neben dem Aspekt der reflexiven Thematisierung von ›Kunst‹ zum anderen davon auszugehen, dass Formen der Potenzierung des Erzählens – die mise-en-abyme, aber auch schon der Einschub einer Binnenstruktur mit narrativem Charakter – auf eine selbstreflexive Anlage eines gegebenen Textes hindeuten können.Footnote 3 Wenn also ein Text die ihm eingeschriebene Eigenschaft des Erzählens als solche (ganz allgemein gesprochen) explizit oder implizit hervorhebt und relevant setzt, so liegt damit auch eine selbstreflexive Struktur vor.Footnote 4 Anzunehmen ist hier, dass diese Form der Strukturgebung ebenfalls mit der Reflexion von ›Zeit‹ korreliert ist: Literarisch-narrative Texte der Zwischenphase weisen dem Erzählen mehrheitlich die Funktion zu, reflexive Zeitstrukturen zu koppeln, und entfalten auf diese Weise entsprechendes Potenzial.

4.2.2 Künstlerfiguren: Ein analytisches Orientierungsraster

Die Zwischenphase weist mannigfaltige Formen des Einbezugs von ›Kunst‹ auf und folgt einer gegenüber der Klassik und der Romantik modifizierten Kunstauffassung, die goethezeitliche Vorgaben gleichermaßen affirmieren und erodieren (vgl. Begemann 2002: 94 f. u. 96–106). Zwecks Sondierung des Feldes und einer Heuristik, die an den bereits getroffenen Erkenntnissen ausgerichtet ist, sei als Orientierungsraster vorgeschlagen, zwischen Künstlerfiguren und künstlerischen Produkten zu differenzieren. Auf den letzteren Punkt kommen wir später zu sprechen.

Figuren und Figurenkonstellationen als Bezugspunkte einer selbstreflexiven Darstellung gehen in mehreren Varianten auf: Erstens liegen vollständige oder nahezu vollständige Lebensdarstellungen von Künstlern vor (1), von Musikern, Dichtern, Bildhauern, Malern, Schauspielern oder von Multitalenten wie in Gutzkows Imagina Unruh. Die Einbindung und die Reflexion von ›Kunst‹ stehen in Verbindung zur (modifizierten) Initiationsgeschichte. Zu nennen wären neben Imagina Unruh beispielsweise auch Mörikes Maler Nolten und Grillparzers Der arme Spielmann. Zweitens haben wir es mit Texten zu tun, die einen einschneidenden Lebensabschnitt eines Künstlersubjekts fokussieren und dadurch nicht den Entwicklungsprozess insgesamt, aber ein besonderes (und in dieser Hinsicht markiertes) Teilsegment (oder auch mehrere Segmente) eines Figurenlebens ins Zentrum rücken (2) wie in Stifters Der Condor, Mundts Madelon oder Die Romantiker von Paris, Büchners Lenz und Fouqués Joseph und seine Geige. Vereinzelt liegt der Fokus der Erzählung nicht auf der Künstlerfigur selbst, obwohl jene keine unwesentliche Rolle für die Handlung spielt (Die Sängerin; Liebe in alter Zeit). Während beide Varianten verbindet, dass mit ihnen Künstlerfiguren im emphatischen Sinne gestaltet sind, ist außerdem eine dritte Variante auszumachen: die Thematisierung von Dilettanten (3), das heißt von Figuren, für die Kunst eine eminente Rolle für die Verarbeitung von Realität spielt, Kunst wichtig für den interaktiven Austausch mit dem sozialen Umfeld ist oder sie als Kontrollfunktion im Umgang mit dem eigenen Gefühlshaushalt dient, ohne dass aber diese Figuren indes als Künstler im engeren Sinne gelten können – mit der Profession, sich selbst als solche zu bezeichnen und von der Umwelt als solche wahrgenommen zu werden.Footnote 5 Dahingehend ist bemerkenswert, wie häufig uns derartige Gelegenheitskünstler begegnen: Eichendorffs Das Schloß Dürande, Fontanes Geschwisterliebe und Vischers Cordelia sind nur die geläufigen Beispiele.

In dieser typologisierenden Aufzählung sind die genannten Varianten freilich künstlich voneinander separiert. Tatsächlich tendieren Texte auf Ebene der Figurenkonstellation zu Kombinationen: Etwa Cordelia, worin sowohl Künstler als auch Dilettanten auftreten und miteinander interagieren wie auch die Lebensläufe einzelner Figuren rekapituliert werden. ›Kunst‹ und ›Zeit‹ werden hier auf mehreren Ebenen semantisch angereichert und zur Austragung des metatextuell-selbstreflexiven Problemkomplexes gegeneinander aufgestellt.

4.2.3 Künstler und Zeit: Künstlersubjekte in zeitsemiotischer Lesart in Gutzkows Imagina Unruh, Stifters Der Condor und Vischers Cordelia

Allen genannten Varianten der Darstellung und Konzeption von Künstlersubjekten (1–3) ist gemein, dass mit ihnen Zeit als Relatum auftaucht und relevant gesetzt wird: Künstler haben es immer auch mit Zeit zu tun; sie haben sich über ihre Kunsttätigkeit auch mit Zeit auseinanderzusetzen – ihr Dasein oder ihre Erzeugnisse sind stets Ausdruck der Konfrontation mit Zeitstörungen. Im Umgang des Literatursystems mit ›Kunst‹ lässt sich daher ebenfalls die Zeitproblematik ablesen, die, wie wir annehmen, konstituierend für das Literatursystem ist.

Zu einigen Texten und den dortigen Realisierungen: Unser Einstiegsbeispiel Imagina Unruh erzählt die Geschichte einer weiblichen Heldin, einsetzend in der jungen Kindheit und endend im Erwachsenenalter. Wir haben bereits festgestellt: Imagina ist Künstlerin von Kindesbeinen an und die Kindheit wie auch die erlebte Vergangenheit sind für ihr Dasein, ihre Wahrnehmung von ›Welt‹ und ihre künstlerische Tätigkeit prägend. Gutzkows Text appliziert das Erzählmodell der Initiationsgeschichte – und ändert es zugleich ab: Das Leben der Heldin ist durch fremdbestimmte Entscheidungen und Lebensmittelpunktwechsel charakterisiert. Das soziale Umfeld in der Kindheit ist nicht schädigend, aber defizitär: Die Mutter fehlt. Nur am Rande legt der Text nahe, dass Imaginas Wesenszug aus der Überforderung des Vaters rührt – explizit angeführt wird als Grund ihrer Überführung in eine Mädchenpension die »endliche[] Zähmung ihrer Verwilderung« (Gutzkow 1999 ff. [1847]: 5). Ihr Vater entscheidet über die Hochzeit mit August. Jener fällt sein Urteil über die Scheidung der Ehe. Kurz: Über Imaginas unmittelbare Zukunft entscheiden andere, nicht sie selbst. Ihr Lebensweg weicht vom – am männlichen Subjekt orientierten – Modell der Goethezeit ab: Dem sozial integrierten Kind- und Jugendstatus folgt unmittelbar eine fremdforcierte Phase der Ehe, danach ein unabgeschlossener Endzustand, in dem das Subjekt sozial desintegriert bleibt. Allein den Endzustand leitet Imagina selbst ein und hat dadurch ausschlaggebenden Einfluss auf das Zukunftsmodell, das der Text bietet: die Trennung von ›Kunst‹ und ›Gesellschaft‹ bei gleichzeitigem Fortbestand beider Teilräume – ein schwach negativiertes Modell von ›Zukunft‹ also.

Auch hatten wir gesagt: Figur und Text sind regressiv ausgerichtet. So, wie die Figur fortwährend an der eigenen Vergangenheit laboriert, verfährt auch der Text vermittels retrospektiven Erzählens. Zugleich überlagert die Erzählung diese regressive Richtung durch eine progressive, indem er mit seiner Heldin einen in Abgrenzung zur Goethezeit neuen Typus setzt – im Text markiert durch die Anlehnung an zeitgenössische Autorinnen in Kombination mit der Romantisierung der Figur. Imagina Unruh bildet in dieser Hinsicht den Wandel des Literatursystems ab. Mit dem Aufbau der Homologie Figur : dargestellte Welt :: Text : Literatursystem nimmt Gutzkow die wesentliche Maßnahme vor, die das selbstreflexive Potenzial entfaltet und Kunst- und Zeitreflexion fusioniert.

Wenn es um das Verhältnis von Künstlerfigur und Zeitreflexion im engeren Sinne geht, wäre im Hinblick auf die regressive Personen-Konstitution insbesondere zu klären, inwiefern das Kindheitserlebnis eine initiale Funktion bezüglich des exzeptionellen Status Imaginas ausübt. Bezeichnend daran ist auf den ersten Blick allein die räumliche Dimension: Imagina bewegt sich – als einzige Figur, abgesehen von Prinz Wismuth, dessen ontologischer Status fraglich ist – auf einer vertikalen Raumachse in die Tiefe und erhält also bereits durch ihr Verhalten im Raum eine Sonderstellung innerhalb der Figuration: Denn gegenüber den Bewegungen auf einer weitreichenden horizontal eingerichteten Topografie, ist der Ab- und Aufstieg Imaginas als ereignishaft gekennzeichnet, und dies gibt ebenfalls Aufschluss über das zentrale Element des Textes, aufgebaut über eine wahrnehmungsbasierte Infragestellung der Realitätsgrenzen. Die reflexive Zeitstruktur der figürlichen Rückwärtsgewandtheit geht dabei ostensiv mit einer dezidiert romantischen Prägung des Erlebnisses einher.

Imagina versteckt sich in einer Bergwerkgrube und wird Zeugin eines Pakts zwischen König Kobalt und dem Teufel. Aufgerufen wird dabei ein vielfältiges Zeichenarsenal der Romantik:

Imagina glaubte Alles, was die Bergleute von Schauerlichkeiten aus dem unterirdischen Reiche der Gnomen ihr erzählten. Das aber, was sie an diesem wichtigen Tage, der einen Abschnitt ihres Lebens bildete, gesehen hatte, übertraf doch noch die Geschichten selbst des ältesten der Steiger, der so Vieles schon da unten gesehen hatte, so Vieles unten vorauserlebte, was oben wirklich später zutraf. Imagina hatte ja deutlich gesehen, daß sich eine weiche Thonschieferlage vor ihr öffnete. Deutlich wußte sie ja, daß sie sich in der spärlich von ihrem Flämmchen erleuchteten unterirdischen Friedrich-Wilhelms-Kammer von ihrem Sitz, einem großen Basaltsteine, erhoben hatte und in diese Öffnung eingetreten war. Da war sie eine Weile gewandelt, langsam, heimlich. Die Wände zur Rechten und Linken wurden immer weiter und höher, immer blendender die Metalle, immer reicher die Adern, die quer über sie hinwegliefen. Dann ward es heller und immer heller und plötzlich fiel ein bläuliches Licht von oben hernieder, das viel magischer, viel reiner schimmerte, als oben der blaue Glanz des Himmels. Sie war in einer Halle von wunderbarer Schönheit […]. Diese Pracht hatte ihr nur im Träume möglich geschienen. (Ebd.: 6)

Deutlich wird die semantische Anreicherung der subjektiven Innenwelt Imaginas durch das Romantische: Mit den Gnomen, die in den Erzählungen der Bergleute rund um die Bergwerke Erwähnung finden, wird ein potenziell fantastischer Grundzug geltend gemacht, der mit Blick auf die Ontologie der dargestellten Welt zwar äußerst vage bleibt, in Imaginas Vorstellung jedoch an maßgeblicher Kraft gewinnt. Zusätzlich erhält das Setting den Anstrich des Schauerlichen und lehnt sich damit an Konzeptionen der schwarzen Romantik an. Auch der geheime Eingang in eine andere Welt, wie sie hier durch die Schieferplatten manifest wird, ist aus zahlreichen Texten der Romantik bekannt. Der Raum, der sich nach Durchschreiten Imaginas öffnet, ist unterirdisch – fernab also von der ›Realität‹ der Welt ‍–, ist (natur-‍)magisch aufgeladen und wunderbar-schön. Mit Eintritt wird (für Imagina) zugleich die Grenze zwischen Träumen und Wachen aufgehoben: Sie hält den Raum für real und gleichzeitig für unmöglich. Die Tatsache, dass späterhin König Kobalt und Zwerge aus dem Nichts auftauchen, die mit dem Teufel über die unmittelbare Zukunft des Sohnes Kobalts – Prinz Wismuth – verhandeln, komplettiert die Ausgestaltung der Szene als in der paradigmatischen Gesamtanlage des Textes deutlich hervorgehobene Einheit. Die temporalreflexiven Implikationen liegen auf der Hand: Erstens setzt der Text hiermit das entscheidende Moment in der Künstlerwerdung seiner Hauptfigur – unterstrichen durch den Hinweis der besonderen Exponiertheit des Tages, an dem sich das Geschehen ereignet (»an diesem wichtigen Tage«; ebd.) –, das für alle künftigen Geschehnisse aus Sicht Imaginas prägend sein wird. Zweitens schlägt der Text vermittels dieser semantischen Anreicherung einen Bogen zum Literatursystem der Goethezeit, zu der er sich ins Verhältnis setzt, indem er thematisch und semantisch die Romantik aufruft.

Verweilen wir beim ersten der beiden Punkte. Die individuell eingeprägte Orientierung am Kindheitserlebnis sowie die einhergehende Künstlerwerdung Imaginas avancieren im weiteren Handlungsverlauf zum entscheidenden Problemkomplex, den der Text auf anthropologisch-sozialer Ebene aushandelt. Denn Imagina wird von ihrer Umwelt alienisiert, ebenso, wie sie sich selbst von ihr abkapselt. Nach der Hochzeit mit August wird dies an dem Umstand deutlich, dass sie die gemeinsame Reise schriftlich zu rekapitulieren wünscht und daher am Ziel in Baden-Baden noch nicht ›recht angekommen‹ ist. Während sich August umgehend ins internationale gesellschaftliche Leben des Badeortes stürzt, zieht es Imagina vor, zurückgezogen die bereisten Stationen schriftlich zu vergegenwärtigen. Ihr erster Gedanke macht dabei abermals den Rekurs auf das Ende der Goethezeit und die bewusste temporale Situierung des Geschehens am Ausgang der Epoche deutlich: »Was hab’ ich nachzutragen! Seit Goethe’s Grab auch keine Zeile mehr!« (Ebd.: 27) Und weiter:

Sie mußte zur Feder greifen und sich alle die Wonnen niederschreiben, die seit der Abreise von Bischofswalde erfahren hatte. Was nur Dresden, Leipzig, Jena, Weimar Werthvolles und ihre Phantasie Anregendes bot, hatte sie in kurzen Andeutungen, zu künftiger leichterer Erinnerung, sich fixiert, und sie erschrak, daß sie mit ihrem Körper schon in Baden-Baden und mit ihrem Herzen noch im Park von Weimar, unter den classischen Gräbern, war. Sie gab sich auch sogleich das Wort, ihrem Gatten zu erklären, daß sie nicht eher in Baden-Baden ausgehen würde, bis auch ihr Herz, ihre Phantasie, die noch in Thüringen lebten, nachgekommen wären. […] Sie schrieb und schrieb und brach in ihrer Hast dreimal den Bleistift ab, verwünschte zehnmal die gelbe Dinte des Hotels, kam aber bis zu August’s Rückkehr nicht weiter als bis auf die Wartburg nach Eisenach, wo ihr das plötzliche Aufklinken der Thüre durch August einen solchen Schrecken verursachte, daß ihr das Dintenfaß umfiel, gerade bei der Stelle, wo sie von dem Dintenfasse Luther’s und dem Wurf nach dem Teufel reden wollte. (Ebd.)

Die Figur agiert retardierend und regressiv und ist dadurch geistig zeitenthoben und in die Vergangenheit versetzt. An ihr wird die Differenz zwischen Körper und Herz geltend gemacht – die Künstlerin ist dazu fähig, mit Hilfe von Vorstellungskraft und Erinnerungsvermögen, die im Schreibprozess aktiviert werden, geistig noch ›woanders zu sein‹; zumal der Text im Übrigen mit dem Herzen in Verbindung mit Phantasie und Schaffensprozess auf ein signifikantes Konzept des Sturm und Drang hindeutet. Die Niederschrift impliziert die für die Figur regelrecht belebte Reaktivierung des vergangenen Geschehens.

Stundenlang mußte sie sich mit dem Durchleben dieser Abwechslungen beschäftigt haben, denn es war Mittagszeit, als August zurückkehrte und sie lachend fragte: Wo bist du jetzt? Sie blickte auf das Papier und sah, daß sie inzwischen doch Manches niedergeschrieben hatte, und sagte: Vor dem Denkmal des heiligen Bonifacius! Noch in Fulda also? bemerkte er mit gutmüthigem Spott, freute sich aber im Stillen auf die reizende Aussicht einer langen zerstreuenden Selbständigkeit. […] Uebrigens, setzte er kleinlaut hinzu, ist Alles auf den Augenblick gespannt, wo du zum ersten Male auftrittst. Heute Abend werd’ ich sagen, du wärst noch in Fulda, wo wir im Kurfürsten – Er wollte sagen: recht sanft geschlafen haben, und schlief statt dieser Phrase selbst ein, wie es nach Tische seine Gewohnheit war. Imagina ließ aber inzwischen anspannen, bezahlte reichliche Trinkgelder und sprengte – das heißt auf dem Papiere – in sausendem Galop der einförmigern Gegend hinter Schlüchtern zu. […] Schon war sie auf dem Hirschgraben in Frankfurt am Main und faltete sinnend in Goethe’s Geburtshause die weißen Hände, als August aufwachte, neue Toilette machte und sich mit einem Kuß zum erneuten Besuche des Conversationshauses empfahl. (Ebd.: 29 ff.)

Beide Figuren gehen gänzlich unterschiedlich mit Zeit um. August unterliegt seiner festgefahrenen Routine, einem immergleichen Ablauf des Lebens in der Gegenwart, während sich Imagina schreibend in die Vergangenheit versetzt. Nicht nur arbeitet sie sich dabei nur langsam an die Gegenwart heran und bleibt ihrem Umfeld fern, auch erkundet er die Gesellschaftskreise allein und macht dabei Feodores verhängnisvolle Bekanntschaft. Die Folge: Die zunehmende Entfremdung der Eheleute und die spätere Feststellung Augusts nicht passender ›Naturen‹ (vgl. ebd.: 54). Trotzdem handelt es sich nicht um den Prozess einer Entfremdung, wie ihn die Figuren wahrnehmen, als vielmehr um eine im Textsystem von vornherein angelegte Divergenz zwischen Imagina – als Repräsentantin der Kunst – und August – als Vertreter der Gesellschaft –, die von den Figuren sukzessive offengelegt und durchlebt wird. Mit dem Scheitern der Ehe wird daher im übertragenen Sinne auch die Relation von ›Kunst‹ und ›Gesellschaft‹ hervorgehoben – ihr Missverhältnis.

Das problematische Verhältnis zwischen Imagina und dem gesellschaftlichen Leben spitzt sich neben dem Bereich der Ehe auch in der direkten Konfrontation der Hauptfigur mit sozialen Konventionen und Unternehmungen zu. Nach zunächst scheinbar harmonischer Einfindung in den Gesellschaftskreis, treten Kritik an Imaginas Auftreten und Kleidung wie auch ihre eigene Abneigung gegenüber der sozialen Dekadenz und Oberflächlichkeit offen zutage. Ausdrücklich äußert sich Feodore Zaluska in ihrer »ewige[n] Bevormundungs- und Erziehungswuth« (ebd.: 41): »Sie kleiden sich nicht gut« (ebd.: 37). Ihrer Ansicht nach spreche Imagina »das Französische nicht fashionable geläufig genug« (ebd.: 38). Auf der anderen Seite wird immer wieder die Wahrnehmung der Protagonistin prononciert: Für Imagina ist alles »neu und wildfremdartig« (ebd.: 35); die Gesellschaft empfindet sie als »widerwärtig«, eitel und »fade« (ebd.: 45); sie ist sich im Klaren darüber, dass das »nimmermehr ihre Welt werden könne« (ebd.: 36).

In der Darstellung eines Künstlerlebens führt die Novelle folglich die Unvereinbarkeit von ›Kunst‹ und ›Gesellschaft‹ vor Augen. Temporär wird die Heldin in den Gesellschaftsraum versetzt und damit die Opposition beider Felder markant. Der Text nimmt eine restitutive Ereignistilgung vor und behält die Separation der Teilräume über sein Ende hinweg bei. Schlussfolgernd bedeutet das, dass eine Grenztilgung zwar auf die Probe gestellt, nicht aber realisierbar ist. Denk-, Verhaltens- und Redevorgänge der Künstlerin sind inkompatibel mit denen der Gesellschaft ‍– und dies, so eine wesentliche Aussage ‍– primär aufgrund der Semantik der Künstlerin als modifizierte Romantikerin (vgl. den Brief Madame Mildes), denn von anderer Seite aus hat zwar der Virtuose Udolpho teils einen schweren Stand gegenüber Feodore, ist aber ansonsten als gesellschaftliches Mitglied vollkommen akzeptiert. ›Kunst‹ kann als ein partiell akzeptierter Kulturteilbereich gelten ‍– nicht aber im Fall von Imagina. Dabei relativiert der Text die Akutheit des Verhältnisses in seinem Zukunftsmodell: Existenziell gefährdet ist Imagina am Ende nicht, sondern lediglich sozial ausgegrenzt. Ihre Existenz ist gesichert, ihre Kunst realisierbar ‍– und doch beides zuungunsten ihrer persönlich-emotionalen Belange.

Imagina Unruh etabliert also reflexive Zeitstrukturen im Zeitarrangement (narrative Retrospektive) wie auch durch Semantisierungen von Teilwelten in Koppelung mit der Perspektive der Heldin ‍– auf die von ihr hervorgebrachten Artefakte kommen wir noch zu sprechen. Die Lebensdarstellung Imaginas indiziert nicht allein objektive Zeitlichkeit der dargestellten Welt. Mit ihr wird die Initiationsgeschichte als Modell aufgegriffen, gegenüber der Goethezeit abgeändert und weitergedacht ‍– und zwar in zeitreflexiver Hinsicht: Die Darstellung des Lebensverlaufs veranschaulicht die Unmöglichkeit einer Versöhnung von ›Kunst‹ und ›Gesellschaft‹. Die subjektive Zeit der Figur ist retardierend und regressiv-romantisch konstituiert. Dadurch, dass es sich im zeitreflexiven Kern um die Verhandlung von ›Kunst‹ handelt, ist auch ein metatextuell-selbstreflexives Moment erkennbar: Denn das, was Gutzkow mit seinem Text verhandelt, ist auf übergeordneter Ebene ebenfalls ein Problem des Literatursystems, und zwar die überkommene Orientierung an der Goethezeit und die Aufgabe, neue Modelle zu finden.

Sicherlich stellen sich die Übergänge zwischen vollständigen Lebensdarstellungen und Präsentationen von nur einzelnen Lebensausschnitten fließend dar. Bereits Imagina Unruh verhält sich etwa gegenüber Mörikes Maler Nolten durchaus ausschnitthaft ‍– ganz zu schweigen von nahezu kompletten Darstellungen wie in Drostes Die Judenbuche (wenn es auch dort nicht um einen Künstler geht). Und doch ist Gutzkows Text seinerseits in Bezug auf die von ihm präsentierte Aktzeitextension umfassender als Stifters Der Condor oder Gaudys Das Modell und doch wieder weniger umfassend als Mundts Madelon oder Die Romantiker von Paris, obwohl der letztere Text nicht den Lebenslauf von nur einer Figur erzählt, jedoch dabei eine generationsübergreifende, mehrphasige Vergangenheit auffächert. Entscheidend in diesen und anderen Fällen ist mutmaßlich die Koppelung von Künstlerleben und Initiationsgeschichte: Im Fokus des Literatursystems der Zwischenphase stehen – so wird deutlich – an allererster Stelle junge Figuren, deren Selbstwerdung und persönliche Konditionierung im Zeichen des Kunstaspektes stehen. Verbunden wären damit stets Fragen danach, wie das Künstlersubjekt konstituiert ist, wie es handelt (und handeln darf) und welche Kunstauffassung es vertritt und umzusetzen imstande ist. Im Entwicklungsgang dieses Subjekts ist neben dem Lebensweg insgesamt – währenddem sich die Figur mit ihrem sozialen Umfeld auseinanderzusetzt – speziell der Aspekt der Liebe entscheidend – und mit ihr Problemstellungen der Partnerwahl und Paarbildung.

Zu beobachten ist das auch in Stifters Der Condor, der drei Zeiträume als signifikant hervorhebt: Erstens ein nächtliches Setting, in dem der Künstler Gustav von seiner Stube aus eine Ballonfahrt beobachtet (»Nachtstück«) sowie die Ballonfahrt selbst, an der Cornelia, Gustavs große Liebe, teilnimmt (»Tagstück«); zweitens das Aufeinandertreffen der beiden Liebenden im Zuge des Malunterrichts, den Gustav Cornelia erteilt (»Blumenstück«); und drittens der Besuch einer Kunstausstellung durch den Erzähler und die Betrachtung zweier Gemälde Gustavs (»Fruchtstück«).

Reflexive Zeitstrukturen sind ebenso wie im ersten Beispiel vielfältig auf discours- und histoire-Ebene angelegt; auch hier spricht sich der Text für ein modifiziert romantisches Kunstkonzept aus und semantisiert sein Künstlersubjekt im Endzustand als sozial Außenstehenden. ›Kunst‹ entpuppt sich angesichts ihrer reflexiven Verschränkung mit ›Zeit‹ ebenfalls nur unter Verzicht auf den vom Text ebenfalls als hochrangig gesetzten Wert der Liebe möglich. Obwohl gegenseitige Liebe gegeben ist, scheitert sie und endet unglücklich. – Warum ist das so? Die drei genannten Zeiträume (T1, T2, T3) stehen stellvertretend für drei Handlungsabschnitte, in denen jeweils die beiden Hauptfiguren zentriert sind. Konstituierend ist das wechselnde Verhältnis der Figuren zueinander sowie ihre je eigene Entwicklung. Die temporale Extension des Erzählten umfasst einige Jahre – selegiert sind hauptsächlich Zeitpunkte der aus Sicht der Goethezeit entscheidenden Phase des Wechsels von der Entwicklungsstufe des Jünglings/der Jungfrau zur Stufe des Manns/der Frau. Im Unterschied zu Imagina Unruh umfasst Der Condor nur einen kleineren zeitlichen Umfang des Erzählten und wählt lediglich punktuelle Teilsegmente aus dem Gesamtgeschehen aus. Nichtsdestotrotz kommt es auch dort auf die Selbstfindungsphase des Künstlers und dessen Verhältnis zum persönlichen Umfeld an. Entscheidend ist die Umpolung der Künstlerfigur in temporalsemantischer Hinsicht. Denn ›Zeit‹ ist insbesondere diejenige semantische Einheit, die den Unterschied zwischen Transitionsphase und Endzustand der Figur indiziert, und zwar in Form der Opposition romantisch (zu T1) vs. postromantisch (zu T3).

Im genannten Zeitraum T1 ist Gustav im Begriff, den Übergang zum Jünglingsalter zu vollziehen. Dieser Wechsel wird mit deutlichen Anleihen aus der Romantik korreliert: Markiert ist das Geschehen an erster Stelle durch seine Situierung in der Nacht, insofern Gustav erstmals der aufkeimenden Leidenschaft folgend nachts wacht und im Blick in den nächtlichen Himmel seiner Geliebten nachsinnt. Und versehen ist es mit ereignishaftem Charakter: »[D]ie Zeiten haben sich nun einmal sehr geändert«; Stifter 1980c [1840/1844]: 17). Nacht und junge, romantisch attribuierte Liebe – wir hatten den Nexus bereits verhandelt (vgl. Abschn. 3.3) – stehen in engem Zusammenhang und werden in Form der einfühlenden Naturwahrnehmung des Subjekts romantisiert, insbesondere was seine Wahrnehmung des Mondes anbelangt. Hinzu treten unverkennbare Querverweise auf E. T. A. Hoffmann: Der beobachtende Blick aus dem Fenster (Des Vetters Eckfenster [1822]) oder auch der kommunizierende Kater Hinze (Lebensansichten des Katers Murr [1819/21]) fungieren semantisch anreichernd.Footnote 6 Zeitreflexiv attribuiert wird das Ganze zusätzlich über das aktive Zeiterleben Gustavs: »Die Zeit war zäh, wie Blei.« (Ebd.: 18) Die Klassifizierung als ›romantischer‹ Künstler vollzieht der Text schließlich zudem rückwirkend, indem er zu Beginn des Folgekapitels den ersten Abschnitt als Tagebucheintrag klassifiziert – und ihn damit nicht nur auf die sekundäre (oder: intradiegetische) Erzählebene verlagert, sondern zusätzlich als Erzeugnis klar der Figur zuordnet: Die Romantisierungsverfahren, die den Text des Kapitels »Nachtstück« auszeichnen, weisen mithin fiktionsintern auf das Künstlersubjekt zurück. Es handelt sich bei Gustav – zumindest zum Zeitpunkt T1 – um einen ›Romantiker‹.

Der Text verfährt davon ausgehend wie folgt: Primär extrinsisch motiviert durch die Rückstufung Cornelias in eine devote Frauenrolle – der sie vor der Ballonfahrt zu entwachsen schien – sowie abrupt-diskontinuierlich gestaltet, wird Gustav in den Mannstatus versetzt, mit dem in seinem Fall ein anderer Künstlerstatus verbunden ist wie auch die Nicht-Realisierung von Liebe. Die Trennungsszene zwischen beiden nach dieser Versetzung mutet von außen besehen sicher überstürzt an, ist jedoch textlogisch mit der Rollenauffassung von Mann und Frau und zusätzlich mit der Auffassung über Kunst und Künstler gekoppelt. Am Ende heißt es über Gustavs Bilder:

Vor einigen Jahren war ich in Paris, und hörte einmal zufällig beim Restaurateur einem heftigen Streite zu, der sich über den Vorzug zweier Bilder erhob, die eben auf der Ausstellung waren. Wie es zu gehen pflegt, einer pries das erste, der andere das zweite, aber darin waren Alle einig, daß die neue Zeit nichts dem Aehnliches gesehen habe, und was die ganze Welt nur noch mehr reizte, war, daß kein Mensch wußte, von wem die Bilder seien. (Ebd.: 38 f.; Hervorhebung von mir, S. B.)

Die Bilder, die Gustav produziert, werden im Segment T3 allseits als neuartig wahrgenommen und rufen Entzücken hervor: »Immer stand eine gedrängte Gruppe davor und es war merkwürdig, wie selbst dem Munde der untersten Classen ein Ruf des Entzückens entfuhr, wenn sie dieselben erblickten, und von dieser Natur getroffen wurden.« (Ebd.) Doch ist der Umgang mit Kunst nicht unproblematisch. Denn einerseits liegt mit beiden Gemälden zwar ein Novum der ästhetischen Kommunikation vor, gekennzeichnet durch die Vagheit zwischen ›romantischer‹ Überhöhung des Dargestellten (»so dichterisch, so gehaucht, so trunken«; ebd.) und realistisch-wirklichkeitsgetreuer Darstellung (»keine Mondbilder, sondern wirkliche Mondnächte«; ebd.).Footnote 7 Andererseits aber erfolgt die Evaluierung des Erzählers: »Also auf diese Weise, dachte ich, ist dein Herz in Erfüllung gegangen, und hat sich deine Liebe entfaltet! Armer, getäuschter Mann!« (Ebd.: 40)

Für den Künstler stellt die Liebe eine notwendige Voraussetzung zur Kunstproduktion dar, die er als solche erfolgreich nutzt. Der Erzähler klassifiziert Liebe jedoch als höherrangigen Wert und entfaltet damit das Kernproblem des Textes. Denn nicht ›Kunst‹ ist der angestrebte Wert, sondern ›Liebe‹: Das veranschaulichen nicht zuletzt auch die Bilder selbst, die auf die Mondnacht, wie sie im ersten Kapitel von Gustav beschrieben wurde, zurückverweisen und damit – auch nach Jahren noch – die verflossene und unglückliche Liebe zu Cornelia thematisieren. Am Ende glückt zwar die Künstlerwerdung, doch das Paar ist gescheitert.

An der Figur, so lässt sich ersehen, wird der Übergang von der Romantik zur Zwischenphase verhandelt. ›Kunst‹ ist gegeben – aber gegeben in einem nicht wünschenswerten Rahmen. Entscheidend also ist: Das Problem kommt nicht durch die Produktion von Kunst an sich auf, sondern vielmehr sind die Modelle, denen Kunst folgt, fragwürdig – und ebendies wird offensichtlich über ›vollständige‹ Lebensdarstellungen von Künstlern hinaus auch von solchen Texten wie Stifters Der Condor markant vor Augen geführt.

Von anderer Warte aus bestätigen diesen Befund auch Darstellungen dilettantischer Gelegenheitskünstler: Auch an ihnen lässt sich immer wieder eine zeitreflexive Relevanz ablesen, an der die implizite Ästhetik ausgerichtet ist und die in enger Beziehung zur Personen-Konzeption steht. In dieser Hinsicht offenbarten sich schon einige Beobachtungen als wegweisend, die bis hierher angestellt worden sind. In Eichendorffs Das Schloß Dürande dient ›romantische‹ Lyrik der Codierung einer Figur: Daher ist es auch Gabriele, die als ›goethezeitlich‹ konzipierte Figur durchgängig Lieder hervorbringt, während dies ihr Geliebter und ihr Bruder (bis zum Schluss) nicht tun. Auch in Fontanes Geschwisterliebe wird fleißig gesungen und in Liedern geklagt. Wesentlich ist dort die therapeutische Funktion von ›Kunst‹. Die Lyrik in diesem Text folgt keinem dezidiert romantisch-›goethezeitlichen‹ Impetus, markiert aber durchaus ein antiquiertes Kommunikationsverhalten. Ein Bestandteil des negativierten Kommunikats ist dabei – wie in Das Schloß Dürande – auch die Wortkunst selbst: Damit generieren beide Texte ein selbstreferenzielles und selbstreflexives Moment. Indem sie der im Erzählen integrierten Lyrik implizit eine Absage erteilen (durch Versagen der Figuren), bringen sie zugleich die Unzulänglichkeit von aus der Goethezeit applizierten Kommunikationsmodellen zum Ausdruck.

Beides – die temporalsemantische Codierung agierender Gelegenheitskünstler zwecks Epochenreflexion wie auch die zeitreflexive Funktionalisierung von ›Kunst‹ im Rahmen der Literaturanthropologie – ist auch in Vischers Cordelia auszumachen, ein Text, der auf mehreren Ebenen reflexiv verfährt und seine Problemstellungen in der Figurenkonstellation semiotisiert. Auf der einen Seite treten Künstler im emphatischen Sinne auf. Dazu gehören Wilhelm als ›klassischer‹ Künstlertypus und Friederich als ›romantischer‹ Typus sowie Theobald, der eine neuartige Position als Vermittlungsstelle zwischen den Konzepten ›Romantik‹ und ›Klassik‹ verkörpert. Dem an die Seite gestellt sind Gelegenheitsschaffende wie der alte Christoph (›romantisch‹) und die titelgebende Cordelia (wie Theobald auf einer Zwischenposition). Unterschieden werden diese Gruppen nur oberflächlich und aufgrund der Quantität hervorgebrachter Artefakte. Alle Figuren vereint vielmehr die Eigenschaft, dass sie mittels Kunst auf ›Realität‹ reagieren und/oder sie die Relation zwischen ›Kunst‹ und ›Liebe‹ verarbeiten.Footnote 8 Dabei fügen sich beide – Christoph und Cordelia – in jeweils verschiedene Komplexe ein, die der Text auf höherer Abstraktionsebene gleichsam zusammenführt. Christoph erzählt eine romantische Elfen-Erzählung, Cordelia singt ein Lied. Beide Texte geben in ästhetischer Hinsicht keinen Hinweis darauf, inwiefern sie ›nur‹ von Dilettanten stammen. Sie verhalten sich ihrer Verfasstheit nach wie Texte, die von emphatischen Künstlern stammen (mit Ausnahme von Friederichs ausschließlich ikonografischen Werken). Während aber Christoph die epochenreflexive Konstellation ›Klassik‹ vs. ›Romantik‹ vs. ›Zwischenphase‹ anreichert, steht Cordelias Gedicht konträr zu einem Gedicht Wilhelms und verankert einen zeitreflexiven Zug vor dem Hintergrund der von den Figuren unterschiedlich gedeuteten Relation Kunst/Liebe.

Gehen wir näher auf Vischers Text ein: Situiert ist die Geschichte, die Cordelia erzählt, in einer Kultur, in der ›romantische‹ und ›klassische‹ Positionen zwar allseits bekannte und dominante Positionen der Ästhetik formieren, zugleich stehen sie aber in einem offenen Konflikt zueinander und werden am Ende tatsächlich durch den Tod ihrer jeweiligen Repräsentanten aufgelöst. Die Tilgung zieht bei Theobald die Konsequenz nach sich, seine aktive Künstlertätigkeit aufzugeben – eine Art Kollaps auf anthropologischer und ästhetischer Ebene (vgl. Brössel 2016: 259).

Weniger von Relevanz für den Fortgang des Geschehens und die diegetische Rückkopplung mit Hilfe des intertextuellen Rekurses auf Shakespeares King Lear (1605/1608)Footnote 9 – wie im Fall von Friederichs Werken und Wirken ‍–, dafür allerdings immens wichtig für den Aufbau des abstrakt-semantischen Teilraums ›Romantik‹, ist die intradiegetische Elfen-Erzählung, die auf mehreren ihrer Ebenen romantische Muster und Modelle perpetuiert. Dazu zählt der spielerische Umgang mit ›Realität‹, indem Christoph seiner eigenen nichtwunderbaren Welt die Behauptung aufstellt: »A propos, Elfen gibt’s […] Ich hab’ einmal welche gesehen« (Vischer 1892 [1836]: 69). Er durchbricht damit den ontologischen Rahmen und eröffnet die Möglichkeit einer wunderbaren Realität – gleichwohl diese vonseiten der übergeordneten, primären Erzählinstanz an keiner Stelle bestätigt wird. Daneben sind vornehmlich Inhalt und Aufbau der Erzählung bemerkenswert: Bis hin zu einer dritten Erzählebene verschachtelt, gibt sie ein persönliches Erlebnis wieder, das ausgehend von einem Gesellschaftsabend mit Gruselgeschichten über die Betrachtung eines lieblichen Mädchens im Mondschein bis zu einem belauschten Gespräch zwischen Elfen führt. Eine Elfe schildert wiederum ihr Erlebnis mit einem Bauern, der sie fängt und in ein schweres Buch presst. Die Rekurse auf die Schauerromantik, auf zentrale romantische Topoi und selbstreflexive Gestaltungsmechanismen sind unübersehbar. Christoph selbst fungiert zwar als Nebenfigur, ist aber an entscheidenden Geschehensmomenten beteiligt. Dazu zählen der psychische Einbruch Friederichs und seine Rekonvaleszenz in der vorgelagerten Vergangenheit, die Zusammenführung von Theobald und Cordelia und der resignative Rückzug in eine Wohngemeinschaft. Weniger von Belang in der Logik des Textes ist also die Tatsache, dass es sich beim alten Christoph um einen dilettantischen Künstlertypus handelt, ganz im Gegensatz wiederum zu dem Sachverhalt, dass das Produkt seiner Handlung als maßgebliches Element in die Strukturbildung einbezogen wird.

Mehr noch lässt sich an der Figur Cordelia beobachten. Auch sie ist zwar nur gelegentlich kunsttätig, jedoch als Figur – allein der Titel des Textes legt das nahe – natürlich zentral, wie auch ist ihr Lied »Mädchens Abendgedanken« zeitreflexiv aufschlussreich. Wesentlich ist zunächst die Temporalsemantik der Figur: In ihr vereinigen sich eine wünschenswert-positive Zukunftsoption, wie auch das Selbstverständnis von Vischers Novelle als postgoethezeitlicher und in ästhetischer Hinsicht ›haltloser‹ Text. Insbesondere aber kulminiert in der Figur die Rückkopplung der Diegese mit dem Referenztext King Lear, der – wie Cordelia in literaturästhetischer Bedeutungsdimension – ein herrschaftspolitisches Interim durchspielt. Eine fiktionsintern reale Person mit dem Namen ›Cordelia‹ wird demnach also künstlerisch in Werke eingebunden, die zentrale Szenen aus Shakespeares Drama thematisieren, und dadurch die ›Welt‹ bei Shakespeare und die ›Welt‹ bei Vischer in wechselseitigen Bezug gesetzt. Cordelia und die Werke, die Friederich durch sie inspiriert schafft, sind daher als Schlüsselelemente des Bedeutungsaufbaus anzusehen. Wie auch bei Shakespeare stirbt Cordelia einen vermeidbaren und tragischen Tod und wie bei Shakespeare mündet das Geschehen in einen nicht wünschenswerten Endzustand (vgl. zu diesem Komplex im Folgenden auch Abschn. 4.3). Cordelia ist die Tochter einer Römerin (≈ ›klassisch‹) und wird vom Ziehvater Friederich aufgenommen und in Deutschland großgezogen (≈ ›romantisch‹). Ihr Lied ist wie der übergeordnete Text der Erzählung am Kernthema der Paarbildung ausgerichtet und behandelt es gleichfalls zeitreflexiv: Ausgehend von der Frage »Wer der Meine wohl wird werden« (ebd.: 88) entwirft Cordelia die eigene Gegenwart ohne geliebten Partner als Zustand der Unsicherheit und des sehnsuchtsvollen Hoffens auf die Zukunft:

Freudig Bangen! bange Freude!

Ungewisser, finde mich!

Leid in Luft und Luft im Leide!

Künftiger, ich liebe dich! (Ebd.: 90)

Ebenso, wie offenbar die Paarbildung im Selbstwerdungsprozess (der Frau) vorgesehen zu sein scheint und dies von Cordelia – als Mädchen auf der Schwelle zur Frau (»Mädchens Abendgedanken« ≈ ›Abend‹/Ende der Kindheit) gewusst wird, so ist dieses Wissen zeitreflexiv angereichert und bezeugt auch auf individuell-anthropologischer Ebene die Anlage des Textes insgesamt: Was sich im Liedtext wiederfinden lässt, findet sich ebenfalls mit Blick auf die dargestellte Welt und sogar mit Blick auf den Text als Element eines Systems, das den eigenen Zustand als Zwischenphase begreift.

Die Beispiele machen letztlich dreierlei deutlich: Erstens werden Figuren, die künstlerisch tätig werden, auch mit Zeit konfrontiert. Ein solcher Befund ist auf zwei Wegen auszuwerten: Hinsichtlich einer Betrachtung der hervorgebrachten Erzeugnisse und hinsichtlich der Figuren selbst. Ersteres erfolgt im nachfolgenden Kapitel. Im letzteren Fall ist – zweitens – die Koppelung von Künstlerdasein und Initiationsgeschichte von entscheidender Bedeutung, denn diese ist äquivalent zur Verschränkung von subjektiven und sozialen Bedingungen von ›Kunst‹ mit elementaren Fragen der ontogenetischen Selbstwerdung. ›Kunst‹ wird im Rahmen der Literaturanthropologie zeitreflexiv funktionalisiert, insofern Künstlersubjekte im Erlernen künstlerischer Kompetenzen und durch verschiedene Poetiken wie auch in Interaktion mit ihrem Umfeld stets entweder die Relevanz der Größe ›Zeit‹ erfahren oder zumindest Konsequenzen eines durch sie repräsentierten, untragbaren, da veralteten Künstlermodells zu überwinden haben. Als wegweisend erwies sich drittens die temporalsemantische Codierung von Künstlern zwecks Epochenreflexion, die in Form der Gegenüberstellung von ›Goethezeit‹ und ›Zwischenphase‹ allenthalben hervortritt.

Führen wir diese Beobachtungen zusammen, so lassen sich erste fundierte Folgerungen bezüglich des Zusammenhangs von Kunst-, Selbst- und Zeitreflexion ableiten. Gesetzt den Fall, dass ein gegebenes (Text-‍)System dann selbstreferenziell genannt werden kann, wenn es (explizit oder implizit) auf die eigene Beschaffenheit zurückweist – und selbstreflexiv, wenn diese Rückkopplung im Vergleich mit anderen Elementen und Strukturen des Systems für den Bedeutungsaufbau des Textes hochrangigen Wert besitzt, dann kann mit Blick auf die in diesem Teilkapitel besprochene erste Dimension kunstreflexiver Texte Folgendes festgehalten werden:

  1. (1)

    Bedingt durch verschieden gelagerte Autonomisierungsprozesse im Verlauf der Goethezeit, kann das Wissen um Literatur als eigenständige Kunstform als kulturell allgemeingültig angenommen werden.

  2. (2)

    Literarische Selbstreflexion kommt direkt in Form einer Thematisierung von Dichtern und anderen Produzenten verbalkommunikativer Artefakte zustande und – häufiger – indirekt in Form einer Thematisierung von Künstlern anderer Profession.

  3. (3)

    Erprobt werden dadurch Möglichkeiten, Bedingungen und Voraussetzungen von ›Kunst‹, wie sie im Subjekt und im sozialen Kontext angelegt sein können (oder müssen) – und diese Erprobung wird vom Text ins Verhandlungszentrum gerückt. Das Literatursystem der Zwischenphase bringt damit zum Ausdruck, dass erstens grundsätzlich ein Interrelationsverhältnis zwischen ›Kunst‹ und ›Kontext‹ anzunehmen ist, dass zweitens – dies bezeugt die Vielzahl an Texten, die im weitesten Sinne als Künstlernovellen bezeichnet werden können – erhöhter Verhandlungsbedarf im Hinblick auf dieses Verhältnis besteht, dass drittens entsprechende Propositionen über ›Kunst‹ vor allem auch selbstbezügliche Geltung haben, dass viertens vornehmlich ein nüchtern-resignatives (jedenfalls: alles andere als euphorisches) Resümee gezogen wird und dass fünftens – auf metatextueller Ebene – dies ebenfalls auf die Zwischenphase und ihr eigenes Selbstverständnis zurückweist.

  4. (4)

    Ein zusätzliches Merkmal selbstreflexiver Texte der Zwischenphase ist die Korrelation mit Zeitreflexion. Künstler sind mit der aktuell-gegenwärtigen Lage, in der sie sich befinden, konfrontiert – und zwar entweder über die eigene Findungsphase hinaus auch mit dem Konfliktpotenzial ihres gesellschaftlich-politischen Umfeldes (Imagina Unruh) oder aber als Leidtragende eines anthropologischen Modells, das sie erfüllen, ohne die Notwendigkeit aufzugebender Werte klar zu motivieren (Der Condor). Oder aber Künstler werden zur Reflexion von ›Epochen‹ ‍funktionalisiert – indem der figürlichen Temporalsemantik konfligierende Merkmale von Literatursystemen eingeschrieben werden (Cordelia). Innerhalb solcher Konstellationen spielen stets die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und die Gestaltung einer Zukunft eine entscheidende Rolle. Wenn ›Welt‹ scheitert, dann scheitert sie, weil ›Kunst‹ scheitert. Und ›Kunst‹ (im weitesten Sinne in Bezug auf die Darstellungsmöglichkeiten literarischen Erzählens und im engeren Sinne auf Literatur selbst) scheitert, da ihr tragfähige Konzepte fehlen und zugleich diejenigen, die ihr zur Verfügung stehen, unzureichend sind.

Diese erste Dimensionierung des Potenzials kunstreflexiver Texte in zeitsemiotischer Hinsicht bedarf freilich noch mindestens zweier Ergänzungen: Denn zum einen hat man es nicht allein mit figürlichen Konstellationen zu tun, die auf diesen Komplex hindeuten, sondern ebenso mit Kunstprodukten selbst. Zum anderen darf nicht vergessen werden, dass es sich um narrative Texte handelt, die hier zur Debatte stehen. Die Frage wäre demnach also auch, wie literarisches Erzählen als struktureller Träger zeitreflexiver Propositionen gestaltet sein kann.

4.3 Zeitreflexion und ästhetische Artefakte: Semiotisierung und Relevantsetzung von Kunstwerken

Wir haben es im Orientierungsraster, mit dessen Hilfe wir das Feld sondierten, bereits angemerkt: Obwohl etwa Texte wie Gutzkows Imagina Unruh und Stifters Der Condor nicht allein Kunst über Lebenslaufdarstellungen verhandeln, sondern zugleich auch von den fokussierten (und fokalisierten) Künstlern hervorgebrachte Werke thematisieren, ist eine Koppelung von Produkt und Produzent nicht zwangsläufig gegeben. Bei weitem nicht alle Texte legen Wert darauf, den Urheber eines gegebenen, fiktionsinternen Werkes in die Handlung einzubeziehen, geschweige denn, ihn überhaupt auch nur zu erwähnen. Nichtsdestotrotz können auch derartige Texte ›Kunst‹ als relevante Größe einsetzen und kunstreflexiv verfahren – jedoch sind sie dann in erster Linie werk- und nicht personenbezogen aufgebaut. Während die eine Textgruppe Künstler und Werk miteinander verschränkt und darüber zeitreflexiv funktioniert, ist eine andere Gruppe anzunehmen, die ästhetische Artefakte als temporalsemantische Größen (ohne zugehöriges Künstlersubjekt) einbindet.

Entsprechende Beispiele sind schon erörtert worden – etwa Der Hagestolz, worin Portraits von Victors Vater und der jungen Ludmilla als konfliktlösende Elemente dienen. Beide rekurrieren auf die Vergangenheit – sind also als zeitkonservierende Textgrößen aufzufassen – und regulieren indirekt die Zukunft der dargestellten Welt, denn Victor erkennt in Ludmilla seine Ziehschwester und heimliche Geliebte, der er, nach Betrachtung des Bildes, imstande ist, seine Liebe zu gestehen. Und mit der Verbindung der Geliebten findet wiederum ebenfalls die nachträgliche Verbindung der gescheiterten Elterngeneration statt. ›Kunst‹ kommt demnach die Funktion einer Restauration von Vergangenheit in der Zukunft zu – eine kaschiert harmonische Zukunft auf Kosten individueller Belange. Ähnlich auch in Das Bild des Kaisers: Zwar überwinden die Figuren beim Anblick von Napoleons Bildnis ihre ideologischen Konflikte und Extrempositionen nähern sich einander an. Doch muss die Initiation des Helden Albert als gescheitert angesehen werden; die Diskrepanz zwischen Nord- und Süddeutschland bleibt über das Textende hinaus bestehen. Und doch ist das semiotische Gebilde auch hier Träger mehrerer Signifikate und zeitsemantisch aufgeladen.

Wie auch immer im jeweiligen Fall realisiert: Ebenfalls ästhetische Artefakte sind einer genaueren Betrachtung zu unterziehen, wenn es um die literarische Auseinandersetzung mit ›Kunst‹ geht. Auch sie reichern den metatextuell-selbstreflexiven Kern der reflexiven Zeitstruktur III an: Indem die Zwischenphase das eigene Selbstverständnis als Literatursystem in semiotische Textteilsysteme projiziert, wägt sie zugleich die Applikation ›alter‹ ästhetischer Orientierungslinien im Abgleich mit alternativen Substituten ab. Überspitzt gesprochen: Artefakte in Texten rekurrieren auf Probleme mit ›Zeit‹, an denen sich die Literatur von 1820 bis 1850 insgesamt abarbeitet – etwa die trügerische und brüchige Dominanz der Vergangenheit, die Störung der Gegenwart, die unsichere Potenzialität der Zukunft. Und alles in allem geschieht das im Bewusstsein dieser Problemlage.

4.3.1 Formenrepertoire und Funktionspotenzial zeitreflexiver ästhetischer Artefakte

Fächern wir auch diesen Bereich auf und erörtern zunächst, welche Formen das Literatursystem in der Regel nutzt, um ›Kunst‹ zu thematisieren. Von dezidiert künstlerischen Formen zu unterscheiden sind an erster Stelle und grundsätzlich solche Formen, die zwar ebenfalls ›Text im Text‹-Strukturen abbilden, denen jedoch kein künstlerischer Anspruch innewohnt. Darunter fallen Textformen wie diejenigen in Stifters Die Narrenburg oder Die Mappe meines Urgroßvaters. Ihre Gemeinsamkeit mit ästhetischen Artefakten besteht darin, dass auch sie eine metatextuell-selbstreflexive Strukturgebung erzeugen – das Gewicht wird allerdings nicht auf den Status ›Kunst‹, sondern vielmehr auf den Status ›Narrativ‹ gelegt: Handelt es sich bei diesen Texten auch nicht um künstlerische ›Texte‹, so doch um narrative ›Texte‹, über deren Eigenschaft Selbstbezüglichkeit evoziert und eine Selbstaussage generiert wird.

Als Artefakt – und damit sind denn weitläufig alle Formen umfasst, die im gegebenen heuristischen Rahmen von Interesse sind – bezeichnet die Semiotik das »Ergebnis eines absichtlichen Verhaltens ( =  einer Handlung)« (Siefkes 2013: 363). Ein Text wäre vor diesem definitorischen Hintergrund ein spezielles Artefakt, nämlich ein »Artefakt mit mindestens einer Funktion und mindestens einer kodierten Botschaft« (ebd.). Da nun das Literatursystem der Zwischenphase neben Texten unterschiedlichster Machart ebenso Artefakte, die vermeintlich keinen Text-Status vorweisen,Footnote 10 zeitreflexiv einbinden, seien als Zugriffsmöglichkeit die folgenden Prämissen formuliert:

  1. (1)

    Ein gegebener literarischer Text kann unter Rückgriff auf das primäre Zeichensystem der natürlichen Sprache eine endliche Anzahl an ›Artefakten‹ und ›Texten‹ sekundärer Art entwerfen.

  2. (2)

    Bei allen Artefakten und Texten dieser Art handelt es sich ‒ mit Ausnahme von Texten der natürlichen Sprache ‒ um semiotische ›Scheingebilde‹, die auf der lexikalischen Textoberfläche eine ekphrastische Gestalt haben. Derartige Texte (im Text) entwerfen ihrerseits ebenfalls ein Modell von ›Welt‹. Wie gut dieses Modell zu rekonstruieren ist, hängt von den übermittelten Informationen über diese Texte ab.

  3. (3)

    Potenziell kann jedwedes Artefakt, sofern es vom Text als materiell gegeben ausgestellt wird, zeitreflexiv funktionalisiert sein und dadurch zu einem Text umsemantisiert werden (vgl. auch Vedder 2013: 73).

  4. (4)

    Dies betrifft ästhetische und nichtästhetische Artefakte. Nichtästhetische Artefakte sind vom Menschen hergestellte Gegenstände ohne dominant-künstlerischen Duktus. Ästhetische Artefakte weisen einen solchen künstlerischen Anspruch auf ‒ oder er kann ihnen innerhalb der Textlogik zugewiesen werden ‒ und können neben ihrer zeitreflexiven Funktionalisierung auch selbstreflexiv eingebunden sein.

Beispiele für nichtästhetische, zeitreflexiv eingesetzte Artefakte finden sich neben den genannten Texten Stifters in Mundts Madelon oder Die Romantiker von Paris. In Die Mappe meines Urgroßvaters sind dies allerhand Gegenstände im Haus der Familie, die in den Augen des namenlosen Erzählers geradezu mit dem ›Alten‹, ›Vergangenen‹ aufgeladen sind. In Madelon ist es ebenfalls ein Haus, in dessen detailgenauer Rekonstruktion auf gleiche Weise die familiäre Vergangenheit wie auch die ›deutsche Romantik‹ gespeichert ist ‒ und das im Geschehensverlauf bezeichnenderweise verbrennt. Eine wieder andere Form findet sich mit dem Familienschild im gleichnamigen Text von Schücking und Droste. Das Formenrepertoire in dieser Hinsicht ist vielfältig.

Das Spektrum der Textzusammenhänge, in denen demgegenüber ästhetischen Artefakten eine hohe Wertigkeit zugewiesen wird, ist einigermaßen übersichtlich. Uns begegnen literarisch-dichterische Artefakte, Artefakte der Malerei, der Plastik, der Musik und Vokalmusik, des Schauspiels beziehungsweise des Theaters. Um einige Beispiele unseres Textkorpus zu nennen: ›Literarische‹ ›Text im Text‹-Strukturen sind mit Imagina Unruh und Cordelia bereits angesprochen worden. Zu nennen wären in diesem Zusammenhang auch Hauffs Die letzten Ritter von Marienburg, Mundts Madelon oder Die Romantiker von Paris, Tiecks Des Lebens Überfluß und Waldeinsamkeit ‍– interessanterweise nicht Büchners Lenz, der bei seiner Fokussierung auf die Figur gleichzeitig künstlerische Erzeugnisse dieser Figur vorenthält. Erzeugnisse der Malerei finden sich in Imagina Unruh und Cordelia wie auch in Der Condor, in Die Narrenburg, in Der Hagestolz, Das Bild des Kaisers und Die Bettlerin vom Pont des Arts, in Gaudys Das Modell und in Maler Nolten; Artefakte der Plastik in Mundts Madelon oder Die Romantiker von Paris und in Gaudys Frau Venus. Musik und Vokalmusik in Imagina Unruh und Cordelia, in Geschwisterliebe, in Der Hochwald, Das Schloß Dürande, Die Sängerin, Der arme Spielmann und Joseph und seine Geige. Schauspiel und Theater in Das Glück und Die Zerrissenen. Texte dieser Art finden sich grosso modo phasenübergreifend im gesamten literarhistorischen Segment.

Wichtiger jedoch als dieses Gesamtspektrum im Detail aufzufächern, erscheint die Frage, welche Semantik und welche Funktion ›Kunst‹ in diesen Texten zukommt und ob sich daraus Regularitäten ableiten lassen. Dabei gilt grundsätzlich wie auch für die Reflexion von Zeit: Nicht alle der genannten Texte sind zugleich auch kunstreflexive oder auch selbstreflexive Texte. Ihnen kommt dieser Status erst dann zu, wenn ›Kunstwerke‹ eine für das jeweilige Textsystem relevante Größe formieren. Als von geringer Relevanz einzuschätzen, ist in dieser Hinsicht das Lied, das Ronald bei seiner Wiederbegegnung mit Clarissa in Stifters Der Hochwald singt. Zwar bedient er sich einer bestimmten Kunstform, um sowohl seinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen als auch, um Clarissa mit seiner Performanz an die gemeinsame Liebesbeziehung in der Vergangenheit zu erinnern. Auch taucht die lyrische Einlage an exponierter Stelle des Geschehens auf. Allerdings bleibt es bei diesem kurzen Einsprengsel, ohne dass vonseiten der Figuren oder der Erzählinstanz noch einmal Bezug darauf genommen würde oder das Lied anderweitig funktionalisiert wäre. Ähnlich verhält es sich mit Der Hagestolz, der zwar die Bilder der Elterngeneration ebenfalls in einer syntagmatisch signifikanten Stelle einbringt und konfliktlösend einsetzt, sie aber zugleich im Gesamtzusammenhang untergeordnet behandelt. Demgegenüber steht Das Bild des Kaisers. Allein die Tatsache, dass das Gemälde Napoleons titelgebend ist, indiziert seinen relevanten Status im Textsystem. Auch bündelt das Artefakt die wesentlichen Konfliktpunkte und fungiert als ›Weichenstellung‹ in der Findung eines (vermeintlich) wünschenswerten Zukunftsmodells. Obwohl auch dieses Artefakt nicht rekurrent im Text gesetzt ist, erhält es gegenüber den anderen Beispielen eine weitaus wichtigere Rolle. Dahingehend ist Das Bild des Kaisers ähnlich aufgebaut wie Hauffs Die Bettlerin vom Pont des Arts, worin ein weibliches Portrait den Ausgangspunkt bildet (vgl. Stockinger 2005: 59 f.).

Der konkrete Status, den ein gegebenes Artefakt innerhalb eines Textsystems einnehmen kann, hängt also von seiner strukturell-semantischen Einbindung in dieses System ab, deren bedeutsamste Variante im Folgenden als diegetische Rückkopplung gefasst werden soll.

4.3.2 Die diegetische Rückkopplung in Gaudys Das Modell, Vischers Cordelia und Tiecks Waldeinsamkeit

Reflexives Potenzial weist der Umgang mit Zeit hinsichtlich der Semiotisierung und Relevantsetzung ästhetischer Artefakte auf Basis einer bestimmten Textoperation auf, die wir ›diegetische Rückkopplung‹ nennen wollen: Bedeutungsanteile und Strukturen der in einem gegebenen Textsystem semiotisierten Artefakte werden auf das System selbst rückgeführt. Dadurch können im Wesentlichen (a) zeitreflexiv relevante Konfliktauslöser gesetzt, (b) Epochenreflexionen getragen oder aber (c) Zirkulärstrukturen etabliert und eingeebnet werden.

Ein schönes Beispiel liegt uns mit Gaudys ›venezianischer‹ Novelle Das Modell vor: Der junge deutsche Maler Federigo schafft es, die schöne Virginia für sich zu gewinnen und geht mit ihr in die Hochzeitsplanung. In dem Moment, als sie ihm für ein Gemälde Portrait steht, taucht ihr ehemalige Liebhaber Arcangiolo auf und ersticht Virginia. Jenen verschlägt es anschließend unter die Räuber, er kommt bei einer Auseinandersetzung mit der Polizei ums Leben. Federigo legt seinen Namen ab und geht als Mönch ins Kloster.

Im Zusammenhang stehen das angesprochene Gemälde Federigos und die Paarfindungsproblematik. Denn jenes nimmt auf fatale Weise das Schicksal Virginias und indirekt auch das Federigos vorweg. Ferner fällt seine Produktion genau mit der entscheidenden Konfrontation zusammen, bei der Arcangiolo auftritt und Virginia angeht. An erster Stelle aber ist die semiotische Integration der Figur Virginia in das Artefakt ausschlaggebend.

Seit kurzem hatte er ein großes Gemälde aus der altrömischen Geschichte begonnen. Er stellte den Virginius dar, wie er seine Tochter Virginia ersticht, um sie nicht in die Hände des Dezemvir Appius Claudius fallen zu lassen. Das Gesicht der sterbenden Jungfrau war nach dem der Braut gebildet. […] Schon mehrere Male hatte ihm Virginia zum Kopf der altrömischen Jungfrau gesessen. Jetzt gedachte er die in der Todesangst weit ausgebreiteten Arme, den entblößten Busen zu malen und drang, inständig flehend, in das Mädchen, ihm auch hiebei als Modell dienen zu wollen. […] Es war in einer der Frühstunden des folgenden Tages, wo das Mädchen zum erstenmal dem Verlangen des jungen Mannes nachgab. […] Virginia kniete mit erhobenen Armen, den schönen Kopf zurückgebogen, den Mund wie zum Schrei halb geöffnet, auf einem Kissen. Die schwarzglänzenden Locken rollten in üppiger Fülle lose über den entfesselten, ängstlich atmenden Busen und ein hellbuntes Obergewand hing von der blendendweißen Schulter hernieder und schleifte in weichen, künstlich von Federigos Hand geordneten Falten auf der Erde. (Gaudy 1922a [1838]: 30)

Selegiert aus dem im kulturellen Wissen der 1830er-Jahre abrufbaren antiken Stoff der Intrige um die Römerin Virginia, ist gerade die Behebung des Konflikts: ihre Erdolchung durch den Vater (vgl. Damen Conversations Lexikon 1838: 344‍–‍346). Das Weltmodell, das das Gemälde entwirft, und die Diegese des Textes sind dabei, wie ersichtlich, in zweifacher Weise miteinander verkoppelt: Durch die Namensgleichheit ihrer Protagonistinnen und durch die Semiotisierung der ›realen‹ Virginia im Bild. Auszugehen wäre an diesem Punkt also von einer diegetischen Koppelung, die der Text geltend macht: Das produzierte Kunstwerk und der Text selbst erscheinen verschränkt, und zwar dadurch, dass Elemente des einen äquivalent mit Elementen des anderen gesetzt (im Fall der Signifikate der Figuren) oder gar identisch sind (im Fall der Signifikanten der Namen). Gegeben wäre demnach eine strukturelle Relevanz, die der diegetischen Koppelung zukommt: Als sinnstiftender Nexus einer ›Text im Text‹-Struktur. Im gegebenen Fall tritt nun allerdings die Funktionalisierung des Artefaktes und seiner Koppelungselemente hinzu. Denn ebenso wie die Virginia im Bild wird auch die Figur Virginia erstochen und durch ihre Tötung eine Paarbildungsoption unterbunden sowie eine andere Verbindung – die zwischen Virginia und ihrem vormaligen Liebhaber und ehedem versprochenen Ehemann – gleichfalls endgültig aufgelöst. Zugleich ist ihr Tod rückbezogen auf die Produktion des Bildes: »›Hier, Maler, hast du das wahre Modell!‹«, ruft Arcangiolo nach seiner Tat (ebd.: 31). Dies hat eine nochmalige Verschränkung von Bild und Wirklichkeit zur Folge, die in der Umbenennung und Transformation Federigos in Bruder Virginius besteht. Federigo entsagt Kunst und Welt. Zu beobachten ist folglich eine Umkehrung des semiotischen Rekurses vom Bild auf die fiktionsinterne Realität und daher eine diegetische Rückkopplung mit funktionaler Relevanz für unseren Text, die über die strukturgebende Koppelung von ›Text‹ und Text hinausreicht: Das, was das Bild zeigt, wird in die Wirklichkeit übertragen, Virginia getötet und Federigo – wie der Vater in der stofflichen Vorlage – als einsamer Virginius an den Rand gerückt. Codiert wird damit aber letztlich zudem auch ein dezidiert deutsches kunstästhetisches Problem. Denn es handelt sich, anders als es der Name vermuten lassen würde, bei Federigo um einen deutschen Künstler, der in Italien agiert, mehr noch, um einen, der die Warnung der Italiener hinsichtlich der »üblen Vorbedeutung« (ebd.: 30) bewusst ignoriert und damit das für den Text zentrale Artefakt, das dann fatalerweise auf die Realität zurückwirkt, überhaupt erst hervorbringt. Wenn wir es also mit einem deutschen Künstler zu tun haben, der in Italien wirkt und auf einen altrömischen, ergo antiken Stoff zurückgreift, dann kann es sich bei dieser Semantisierung nur um einen Rekurs auf die goethezeitliche Strömung der Weimarer Klassik handeln, die der Text bedeutungskonstitutiv einsetzt. Zugleich macht er aber auch die implizite Aussage geltend, dass der ›klassisch‹ operierende Künstler scheitert, und zwar deshalb, weil er seine Kunst mit negativem Effekt auf seine Lebenswirklichkeit rückkoppelt. Der ›Klassik‹ wird damit zugleich Tribut gezollt als auch eine Absage erteilt. Was folglich mit dem Artefakt und letztlich auch mit dem Modell, das die Schnittstelle zwischen Artefakt und Wirklichkeit darstellt, vorliegt, ist ein zeitreflexiv relevanter Konfliktauslöser, der den Text als postgoethezeitlich markiert. Gaudys Modell lehnt sich an die Goethezeit an und attestiert ihr doch Unhaltbarkeit.

Vergleichbares findet man in Vischers Cordelia – allein, dass dieser Text künstlerische Artefakte nicht als Konfliktauslöser, sondern sie als Kompensationsmittel funktionalisiert, mit deren Hilfe die Figuren ihre Schwierigkeiten, die sich ihnen in ihrer Lebenswirklichkeit auftun, zu verarbeiten suchen. Auch hier findet sich eine diegetische Rückkopplung, und zwar bezeichnenderweise im Zusammenhang mit Produkten derjenigen Figuren, die in dem einen Fall für die ›Klassik‹ und im anderen für die ›Romantik‹ stehen. Cordelia baut also offen eine Reflexion von ›Epochen‹ auf und semiotisiert diese Reflexion in der dargestellten Anthropologie, indem die Figuren zum einen künstlerisch verarbeiten, was sie zwischenmenschlich erleben, und sie zum anderen zum Teil sogar repräsentativ für Epochen stehen, die der Text modelliert: »Das Gespräch lenkte sich auf den Gegensatz der klassischen und romantischen Richtung in der Malerei. Wilhelm kämpfte entschieden für die erstere, Friederich hielt zum romantischen Panier und Theobald suchte zu vermitteln.« (Vischer 1892 [1836]: 69)

Wilhelm auf der einen Seite überträgt etwa das erste Zusammentreffen zwischen Faust und Gretchen aus Goethes Faust und gibt Gretchen Cordelias und Faust sein eigenes Aussehen (vgl. ebd.: 114). Dass ebenfalls Mephisto das Konterfei Wilhelms ziert, zeugt zu gleichen Teilen von dessen offensichtlich narzisstischer Persönlichkeitsstruktur und einer Zerrissenheit zwischen der Hingezogenheit zu Cordelia und einer tiefsitzenden Bindungsangst.Footnote 11 Entscheidend indessen ist, dass er hier wie dort eine Verknüpfung beider Welten – der von Goethes Text und seiner eigenen Lebenswirklichkeit – basierend auf der ersten Begegnung herstellt und dass diese auf das wirkliche Geschehen rückkoppelt: Denn wie auch Faust wird Wilhelm verantwortlich für den Tod der begehrten Frau sein.

Auf der anderen Seite sind die Bilder Friederichs von zentraler Bedeutung. Auch er bringt sein eigenes Angesicht in die Gemälde ein und wird dadurch mit der Figur Lears verbunden. Cordelia (bei Shakespeare) und Cordelia (bei Vischer) werden – genauso, wie dies schon bei Gaudy zu beobachten war – doppelsemiotisch in Beziehung gesetzt. Inwieweit dabei die diegetische Rückkopplung nun tatsächlich von höchster Wertigkeit für Vischers Text ist, zeigt sich in einer wesentlichen Änderung, die Friederich gegenüber der Vorlage vornimmt:

Das Gemälde stellte König Lear vor, die sterbende Cordelia in den Armen haltend. ›Ich zähle mich,‹ bemerkte Friederich, ›nicht zu denen, welche Shakespeare überzuckern, aber hier mußte doch der Künstler statt der Male um den Hals eine Wunde in der Brust wählen.‹ Theobald betrachtete voll Bewunderung das Bild, in welchem er mit dem ersten Blick ein wahres Kunstwerk erkannte. Aber wie erstaunte er, als er nicht nur in Lears Zügen eine große Ähnlichkeit mit Friederich, sondern auch in dem Bilde der Cordelia seine Cordelia erkannte. Bleich, mit dem letzten feuchten Strahle im erlöschenden Auge, lag die zerknickte Lilie im Arme des greisen Vaters. (Ebd.: 115 f.; Hervorhebung im Original)

In der späterhin entscheidenden Wendung der Geschehnisse eilt Theobald zu Friederichs und Cordelias Unterkunft. Er

sprang die Treppen hinan, dann durchs Friederichs Atelier nach Cordeliens Zimmer. In der ungewissen Beleuchtung des Abends kam es dem Eilenden vor, als bewegen sich die Gestalten auf dem großen Gemälde gespenstisch, ein Grauen befiel ihn, er eilte vorwärts, riß die Thür’ auf und sah ‍– Cordelien sterbend in den Armen Friederichs; in der linken Seite ihrer entblößten Brust klaffte eine tiefe Wunde. (Ebd.: 136)

Abermals fungiert das ekphrastisch dargestellte Artefakt im Text als Koppelungsstruktur mit proleptischem Charakter. Und wieder werden im Zusammenhang mit ihm Paarbildungsoptionen vereitelt und dadurch ›Zukunft‹ negativiert. Die Verzahnung reicht in der zitierten Passage gar so weit, dass mit dem Handlungsgeschehen ebenfalls – zumindest aus Sicht der hoch emotionalisierten Figur – der Bildinhalt dynamisiert wird, gewissermaßen ›zum Leben erwacht‹. Ganz offensichtlich ist für den Text entscheidend, dass künstlerisch agiert wird und welche Produkte die künstlerischen Tätigkeiten nach sich ziehen. Denn die Artefakte weisen nicht allein auf ihre Produzenten zurück und legen deren Beweggründe (im Zusammenhang mit Liebe) offen, sondern sie fungieren zudem als Schaltstellen, mit deren Hilfe der Text auf metatextuell-selbstreflexive Weise ›Zeit‹ problematisiert: Erstens, indem er Kunstwerken einen hochwertigen Status für das dargestellte Geschehen zuschreibt und davon ausgehend auf die eigene Verfasstheit zurückweist – denn der Text selbst ist ja mit ›Cordelia‹ überschrieben und rekurriert so seinerseits auf Shakespeare, wobei er die quasiikonografischen Texte Friederichs auf seiner textuellen Oberfläche versprachlicht und redynamisiert, also erneut medial zurückübersetzt und narrativiert. Zweitens tut er dies insofern, als mit der Integration dieser Kunstwerke einerseits die Orientierung in die (denkgeschichtliche und persönliche) Vergangenheit und andererseits die Konzeption und Modellierung von ›Zukunft‹ an akuter Bedeutung gewinnt. Und drittens schließlich spezifiziert er die Orientierungsrichtungen mit den Modellen ›Klassik‹ und ›Romantik‹ und weist sich damit selbst eine Position zu, die nach der Goethezeit liegt. Infolgedessen kann er ›Klassik‹ und ›Romantik‹ als in der Vergangenheit liegende Systeme betrachten und den Umstand ihrer andauernden Virulenz verhandeln.

Als drittes Beispiel soll uns Tiecks Waldeinsamkeit dienen. Wir haben im vorigen Kapitel bereits erörtert, inwiefern dieser Text zirkuläre Strukturen erzeugt und inwiefern jene zur Reflexion von ›Zeit‹ funktionalisiert werden: Zirkularität ruft er durch das Lexem ›Waldeinsamkeit‹ auf, das er als dezidiert romantisches Zeichen im (textinternen) kulturellen Wissen einer betont nachromantischen und nicht wunderbaren Welt als antiquiert klassifiziert. Zusätzlich versetzt er seinen an der Romantik orientierten Helden künstlich in einen quasiromantischen Zustand, der mit dem Rekurs auf Tiecks früheren Text Der blonde Eckbert durch das titelgebende Lexem impliziert ist. Waldeinsamkeit ist in dieser Hinsicht, bezogen auf das Werk Tiecks, selbstreferenziell zu verstehen; Selbstreflexivität basiert auf der Problematisierung und Verhandlung des Werks als romantischem Werk. Der Text löst am Ende Zirkularität (des Rückbezugs in die ›Romantik‹) und Linearität (im Einstellungswechsel der Figur und ihrer Öffnung gegenüber einer ›biedermeierlichen‹ Zukunftsplanung) nicht in ein eindimensionales zeitliches Modell auf, sondern überlagert sie harmonisierend in einem glücklichen Endzustand – eine in puncto Problemverhandlung äußerst triviale und durch den Distanzaufbau der Hauptfigur zugleich ›entromantisierende‹ Lösung, in der allerdings ein poetologisches Substitut, das ohne die ›Romantik‹ als Orientierungspunkt auskommt, nicht erkennbar wird.

Nun werden aber, so lässt sich weiter argumentieren, zirkuläre-regressive Strukturen durch den Einsatz von Artefakten nicht nur aufgerufen, sondern vorderhand problematisiert und in der Folge abgeschwächt und mit linearer Progressivität zusammengeführt: Der Held Ferdinand als Rückwärtsgewandter scheitert ja eben nicht an der gegebenen Problemlage, sondern wird in einen glücklichen Endzustand überführt, in dem er der ›Romantik‹ zwar nach wie vor verbunden ist, diese Verbundenheit aber indes mit seiner frisch vermählten Lebensgefährtin Sidonie teilt – die beiden blicken gemeinsam mit »von Wonne schwimmenden Augen« (Tieck 1986 [1841]: 935) in eine quasiromantische Vergangenheit und die gemeinsame Zukunft.

Das, was der Text also unternimmt, ist (1) ein Rückbezug auf einen früheren Text Tiecks, und dies in expliziter Thematisierung – wenn die Figuren sich über Zusammenkünfte der Romantiker unterhalten und Diskussion über den Neologismus ›Waldeinsamkeit‹ rekapitulieren. In diesem Fall liegt im Gegensatz zu den beiden anderen Texten von Gaudy und Vischer ein Rekurs auf die vergangene Wirklichkeit des Autors selbst vor und damit die thematische Relevanz der durch den Autor repräsentierten und von ihm mitgetragenen Goethezeit als solche, während bei Vischer ›Klassik‹ und ›Romantik‹ lediglich Modelle ohne Realitätsbezug darstellen, die allein intermedial beziehungsweise intertextuell aufgebaut sind durch ihre Bezüge auf Werke unter anderem von Shakespeare und Goethe. Er koppelt zudem (2) Strukturen und Problemkomplexe von diesem Text auf den vorliegenden zurück: Die Versetzung des Protagonisten in einen abgelegenen Naturraum samt Hütte mit alter Hausbewohnerin sowie das Problem der Wahrnehmung von ›Welt‹ ‒ wie modellbildend in Der blonde Eckbert gegeben ‒ korreliert mit der zwischenzeitlichen Unsicherheit über die Beschaffenheit von ›Welt‹ aus Sicht der Figur, die hier eindeutig aufgelöst und verharmlost wird. Wir haben es demnach nicht nur mit einer diegetischen Kopplungsstruktur (1), sondern zusätzlich mit einer diegetischen Rückkopplung (2) zu tun.

Innerhalb dieser globalen Anordnung übernehmen zwei durch den Text thematisierte Artefakte entscheidende Funktionen: einmal hinsichtlich des letztendlichen Triumphs der Figur und zum anderen zwecks Duplikation der Schleifenstruktur wie sie oben benannt worden ist auf der Figurenebene ‒ sie bestärken dadurch den selbstreflexiv-zeitreflexiven Gesamtcharakter. Zum einen überreicht die alte Aufpasserin Ferdinand einen »schwarzen Folianten« (Tieck 1986: 888) mit Olearius’ Reisebeschreibung, die gleichsam Ferdinands Jugend auf den Plan ruft und ihn in einen ›romantischen‹ Schwebezustand versetzt:

Wenige Bücher kannte der Eingefangene so genau, und der alte Foliant gewährte ihm jetzt einen doppelten Genuß, denn indem er den Inhalt mit erwecktem Interesse las, erneuten sich ihm frisch, als wie von gestern, alle Eindrücke und Empfindungen, die sich seiner in jenen jugendlichen Tagen bemächtigten. In dieser Stimmung erschien ihm sein ganzes Leben fast wie märchenhaft, und er grübelte über jeden kleinen Vorfall, der in seinem Gedächtnis glänzend und mit frischen Farben wieder auftauchte. (Ebd.: 889)

Zusätzlich zur Rückwendung in die persönliche Vergangenheit, die mit einer romantischen Überhöhung der eigenen Situation korreliert (»poetische Waldeinsamkeit«, »poetische Dämmerung«; ebd.: 883), wird – wie zuvor bereits die auf einem Gemälde abgebildete Genoveva, »die auch, so wie er, in einer grünen Einsamkeit die Blicke gen Himmel richtete« (ebd.: 887) – die ›Wirklichkeit‹, wie sie Olearius beschreibt, an die eigene Realität rückgebunden: Ferdinand »sah sich hier [in der Küche] um, so verwundernd, wie es sein Olearius nur in Isphahan vor zweihundert Jahren tun konnte« (ebd.: 890). Durch die intensive Bindung von Lektüre und Erleben wird Ferdinands Aufenthalt in der Einsamkeit allegorisch als (innere) Reise codiert, die zunächst in die Jugend und schließlich zur topografischen und auch mentalen Befreiung führt: die Flucht aus der einsamen Waldhütte sowie die Lossagung von der »verdammten Waldeinsamkeit« (ebd.: 893). Der Text formuliert es ganz ausdrücklich: Die buchstäbliche Entromantisierung einer zuvor romantisierten Figur.

Ferner findet sich in der Hütte ebenfalls das Manuskript eines Vorgängers, eine Art Tagebuch mit metaphysischen Überlegungen. Hin- und hergerissen zwischen Abscheu und Belustigung stempelt Ferdinand den Autor der Schrift als Wahnsinnigen ab, bevor er allerdings selbst tätig wird und in die Fensterscheiben eingeritzte, aphoristische Gedichte in das fremde Manuskript überträgt. Auf der einen Seite schlüpft Ferdinand dadurch an dieser Stelle erstmals selbst in die Rolle eines produzierenden Subjekts – mit dem wesentlichen Unterschied gegenüber Leopold, so der Name des Autors des gefundenen Schriftstücks ‍–, dass er lediglich reproduziert, sich parallel zur sukzessiven Befreiung aus der Waldeinsamkeit folglich auch in seinen Status als epigonaler Nachfolger einfügt. Auf der anderen Seite ist aber ebendieser Vorgang gleichermaßen wichtig für den weiteren Handlungskontext, denn der Oheim, der sich auf der Suche befindet, erkennt seinen Neffen an dessen Schrift, nachdem Leopold sich des Textes ermächtigt hatte: Das Artefakt ist hier – im Gegensatz zu Gaudys Modell – das zentrale konfliktlösende Element und mit ihm codiert der Text darüber hinaus seine zirkulär-konstituierte Selbstattestierung: Das aufgeworfene Problem ist das der Rückbezüglichkeit der literarischen Kommunikation; die präsentierte Problemlösung besteht genau darin, das vormalige System der Romantik in einem nur leicht modifizierten und dadurch trivial-inszenatorischen Rahmen zu perpetuieren.

Die diegetische Rückkopplung, die Waldeinsamkeit demzufolge geltend macht, und die darauf aufbauende zeitreflexive Anlage sind doppelt gegliedert. Für Tiecks Text ist grosso modo das Merkmal der Zirkularität entscheidend, das auf Basis einer werkbezogenen und einer figurenbezogenen Rückkopplung zustande kommt. Zeit reflektiert Waldeinsamkeit in doppelter Hinsicht: Zum einen in der Versetzung des Protagonisten in eine aussichtsreiche Zukunft durch die Loslösung von der ›gefährdenden‹ Romantik – und zwar vermittels Übertragung der persönlichen Vergangenheit in die Gegenwart. Zum anderen ruft der Text den kardinalen Strukturkomplex ›Waldeinsamkeit‹ aus Der blonde Eckbert auf und ›entzaubert‹ ihn in der Ereignisstruktur, ›entromantisiert‹ ihn und klassifiziert ihn als Metazeichen, mit dessen Hilfe über das Literatur(sub)system der Romantik aus einer historischen Distanz heraus gesprochen werden kann: ›Waldeinsamkeit‹ ist nicht länger phänomenologisch gegeben (wie im Blonden Eckbert), sondern wird zu einem Zeichen, das für ein ›Phänomen der Romantik‹ steht und als solches kommuniziert werden kann – sie kann daher auch in der Gefangenschaft Ferdinands lediglich inszeniert, nur künstlich hergestellt werden. Die in der Textzukunft entladene Welt ist keine romantische mehr.

Fassen wir zusammen: In den drei erfassten Fällen hängt die kunstreflexive Konstitution ausgehend von thematisierten Artefakten mit ihrer zeitreflexiven Auseinandersetzung zusammen. In Gaudys Modell ist das Gemälde schließlich nicht allein in erster Instanz eingebettet in den direkten und unmittelbaren Handlungskontext, sondern wird zeitreflexiv funktionalisiert: einmal auf Ebene einer allgemeinen kunstästhetischen Richtung, die hier augenscheinlich von Bedeutung ist und mit dem Attribut ›goethezeitlich‹ belegt wird, zum anderen auf Ebene der Ästhetik des Textes selbst, indem das Gemälde diegetisch rückgekoppelt wird und ausschlaggebend ist für die Negativierung des Zukunftsmodells: In der ›Text im Text‹-Anlage kulminiert das Hauptproblem, mit dem sich Das Modell konfrontiert sieht. Diese zeitreflexive Aufladung des vorliegenden Strukturkomplexes bestätigt auch Vischers Cordelia, der neben den thematisch relevanten Kunstprodukten auch die Figurenkonstellation als zeitreflexiv bedeutsam behandelt. Dadurch gerät die Auseinandersetzung mit ›Epochen‹ zu einem wesentlichen Verhandlungsmoment. Vor allem bindet sich der Text in seinem eigenen Selbstverständnis als künstlerisches Artefakt in die Diskussion ein: Die Zwischenphase scheitert aufgrund ihres Rückbezugs auf die Goethezeit, deren Probleme sie zwar kennt und zu benennen weiß, sie zugleich aber nicht zu lösen imstande ist. Scheitern lässt der Text letzten Endes alle Positionen und zeichnet damit selbst ein stark negativiertes Zukunftsbild. Die ›klassische‹ Position wird gänzlich getilgt, nicht ohne den Umstand, dass sie vor ihrer Tilgung noch maßgeblichen Einfluss auf die Konstellation der ›neuen‹ (postgoethezeitlichen, ›biedermeierlichen‹) Position nehmen konnte. Als ideologisch und poetologisch ›näher‹ kennzeichnet der Text die ›Romantik‹, lässt allerdings auch sie scheitern. Damit werden ›Klassik‹ und ›Romantik‹ zwar einerseits separiert und als disjunkte Räume aufgebaut, die im neuartigen Zwischenmodell ›Biedermeier‹/›Zwischenphase‹ harmonisiert werden sollen. Sie werden aber zugleich in ihrer fatalen Vergangenheitsbezüglichkeit und verschärften Konkurrenz als defektiv gekennzeichnet und einander angenähert. Im Zukunftsmodell ist ›Klassik‹ absent und ›Romantik‹ nur als Reliktmenge präsent, die nunmehr von einer künstlerisch untätigen und resignativen Neuposition antiquarisch verwaltet wird. Noch deutlicher verfährt schließlich Tiecks Waldeinsamkeit durch den Werkbezug des romantischen Autors – und präsentiert ein versöhnliches Ende, dem die Lösung vorangeht, vermittels persönlichen Vergangenheitsbezugs die romantische Position zu modifizieren und diese distanziert-romantische Neuposition als ›zukunftsfähig‹ zu deklarieren. Auch hier bleibt der Rückbezug zur Romantik bestehen und wird nicht durch ein gänzlich neues System (oder ein neues Kunstverständnis, das der Text als Kunstform präsentieren würde) abgelöst.

4.3.3 Das Abwägen diegetischer Rückkopplungen in Imagina Unruh: Zur Differenz zwischen Wirklichkeitspotenzierung und Wirklichkeitskonsolidierung

Die diegetische Rückkopplung als strukturell-funktionale Anordnung, wie sie bis hierhin beschrieben worden ist, ist allerdings in der Zwischenphase zugleich auch instabil. Kehren wir noch einmal zu unserem Eingangsbeispiel zurück. Die Verschränkungsmechanismen in Imagina Unruh fügen sich zwar einerseits in das abgesteckte Feld ein. Andererseits findet sich ein Abwägen ihres Funktionspotenzials zusammenhängend mit der Frage, wie ästhetische Kommunikation unter den gegebenen Vorzeichen der Zwischenphase überhaupt in der Lage ist, aufgeworfene Probleme zu lösen. Diese Schwankung deutete sich schon an: Auch Vischers Cordelia oder Stifters Der Condor zeigen, dass die von ihnen thematisierte Kunst zwar mit dem Dargestellten in funktionalem Zusammenhang steht – ebenso führen sie aber vor, dass ihre kompensatorische Verarbeitungsfunktion nicht trägt und daher kein Fundament für die entworfenen Zukunftsmodelle bietet. Auch Tiecks Waldeinsamkeit legt ja die Hinwendung zu einem nostalgisch-distanzierten Umgang mit der Romantik offen, die gerade in dieser Form für das Zukunftsmodell integrationsfähig ist ‒ nicht aber andauernde Künstlertätigkeit oder ein regressiv ausgerichtetes, mentales ›Verweilen‹ in ihr. In Cordelia verwalten die Figuren am Ende lediglich ein Erbe der Romantik und fristen ein resigniertes Dasein – Kunst hat für sie an Bedeutung verloren, bestenfalls nur noch nostalgischen Wert. In Der Condor besteht die Koppelung von ›Kunst‹ und ›Wirklichkeit‹ über das Ende hinaus – um den Preis jedoch persönlichen Glücks, oder: unter Setzung eines reduzierten Endzustands – in verschieden schwerwiegenden Umständen. Und genau hier ergibt sich das Vergleichsmoment mit Imagina Unruh: Der Text lässt die Protagonistin zwar nicht scheitern; noch nicht einmal persönliches Glück versagt er ihr. Jedoch lebt sie am Ende ausschließlich für die Kunst und entsagt ihrer ›Phantasieliebe‹ – obwohl ja gegenseitige Liebe gegeben ist und sich die Gelegenheit zu einer Verbindung ergibt. Analog bestätigt der Text eine Weltordnung, die brüchig erscheint.

Zwei Artefakte in Gutzkows Text sind in diesen Zusammenhang einzubeziehen: Das von Imagina verfasste Tagebuch und ihre Bleistiftskizzen, die ›fantastischen Blätter‹ (vgl. Gutzkow 1999 ff. [1847]: 88). Beide weisen die maßgebliche Eigenschaft auf, dass sie dem persönlichen Leben ihrer Produzentin angenähert sind und in ihrer Verfasstheit und Thematik den Umstand verarbeiten, wie jene ihre Lebenswirklichkeit wahrnimmt. Auch hierin ist Gutzkows Text vergleichbar mit Der Condor und mit Cordelia, die ganz ähnliche Künstler-Werk-Konstellationen präsentieren: Produzent und hervorgebrachtes Produkt stehen in einem engen Verhältnis, einem konsekutiven Bezugsverhältnis von Ursache und Wirkung: Die Situierung einer Figur in ihrem sozialen Umfeld, die Konzeption der ›Person‹ und die Konditionierung von ›Natur‹ und ›Kultur‹ haben zur Folge, dass diese Figur künstlerisch tätig wird und andersherum die Produkte dieser Tätigkeit semiotisch auf ihre Belange zurückweisen. Beide Texte Imaginas sind vor diesem Hintergrund durch zwei weitere Charakteristika bestimmt:

  1. (1)

    die Orientierung am Kindheitserlebnis der Künstlerin;

  2. (2)

    die Anreicherung mit Strukturen und Semantiken des Wunderbar-Fantastischen.

Und sie übernehmen daneben eine entscheidende Funktion:

  1. (3)

    die (indirekte) Regulation von ›Zukunft‹.

Zu (1) haben wir bereits ausführlicher Stellung bezogen: Imaginas Kindheitserlebnis im Bergwerkstollen ist derart prägend, dass es ihre Wahrnehmung von ›Welt‹ nachhaltig beeinflusst und in der künstlerischen Reproduktion des Geschehens nachwirkt. Wenn das Erlebnis als Initialisierung der Künstlerwerdung zu lesen ist, dann als eine, die die Figur zugleich in einen romantischen, das heißt wunderbar-fantastischen Wahrnehmungsmodus versetzt. In den Tagebüchern lesen der Landrath und August: »›[I]n Allem, was ich todt und leblos vor mir sehe, scheint sich mir’s lebendig zu regen, und die Bäume nehmen Gestalt an und die Berge schütteln ihre Häupter wie schweigende ernste Riesen der Vorzeit, die nicht begreifen können, was sich hier in diesem grünen Tag begibt.‹« (Ebd.: 61) Und weiter: ›Wer bürgt mir denn […], daß dieser unförmliche Weidenstamm drüben an dem rauschenden Bache nicht in der That eine Verzauberung ist?‹ (Ebd.: 62)

›Bei diesem prosaischen Pikenick auf der poetischen Schloßruine mußt’ ich dich wiedersehen, Otto von Sudberg (so nennt dich das Fremdenblatt, aber ein Gedicht dir weihend würd’ ich dich Elpenor nennen, oder Prinz Wismuth, um doch die volle Wahrheit zu sagen) – […] Mußt’ ich dich wiedersehen, nach fünfjähriger Trennung, du blasser Elfensohn, ganz so geisterhaft schmerzlich, wie damals, als ich dich zum ersten Male in den Bergen und dann in Breslau erblickte!‹ (Ebd.: 63)

›Wer kann mich verdammen, […] wenn ich an eine tiefe, heilige, über das Irdische hinausgehende Beziehung zu diesem Einzigen glaube […]! Und doch, täusch’ ich mich, wenn bei dem Wiedersehen auf der Schloßruine ich auch in seinem Auge etwas liegen fand, das da sagte: Du kennst das Geheimniß meines Lebens, du weißt, was mich hierher führt und warum ich diese Erde noch nicht lassen darf?‹ (Ebd.: 65)

›Da sagte er: Imagina komm! Du bist’s, die mich erlösen und von meinem finstern Schicksale retten kann. […] Da mich an sich ziehend, deutet er hinunter in die neblichten Gründe und zeigt mir einen geisterhaften Reigen weiß verhüllter Frauengestalten, sieben an der Zahl, und schaudernd stöhnt es ihm aus der beklommenen Brust: Da sind sie! … Ich hielt es für Blendwerk. Aber der Jüngling nannte jede bei Namen und ich erbebte; denn es waren wirkliche Frauengestalten, die ernst und kalt in den Gründen vorüberschlüpften. Ich, Imagina, ergriff meinen Rosenkranz und betete; denn die Töchter der Hölle nannte mir der Jüngling bei Namen. […] Alle haben sie schon den Sieg über mich davongetragen und nur die siebenten da, der Acedia, der trägen Feigheit des Herzens, trotz’ ich noch […]. Diese Acedia war die Baronin Feodore Zaluska.‹ (Ebd.: 66 f.)

Die ›Welt‹, die Imagina in ihren Texten zeichnet, gleicht der Wirklichkeit in verschiedener Hinsicht und ist doch gänzlich anders aufgebaut: Das landschaftliche Umfeld ist naturmagisch aufgeladen, der Fokus liegt auf »poetischen« Elementen (gegenüber »prosaischen«), es treten Gespenster und Höllengestalten auf, Otto gerät zur griechisch-mythologischen, dann zu einer wunderbar-märchenhaften Figur und Feodore zur personifizierten Todsünde. Die Kopplungsstruktur zwischen Tagebuch-Text und Diegese des Textes von Gutzkow wird getragen von Imaginas Initialerlebnis und realisiert durch die Übertragung realer ›Personen‹ (Otto von Sudberg, Feodore Zaluska und sie selbst) in einen fiktionalen, aber quasifaktualen Redekontext. Doch mehr noch: Auch diese Koppelung wird, wie ersichtlich, auf das Geschehen zurückprojiziert. Daneben finden sich das Kindheitserlebnis wie auch die Thematisierung einer träumerisch-ergebenen Liebe zu Prinz Wismuth und dessen Bedrohung durch den Teufel und speziell durch Acedia ebenfalls in den ›fantastischen Blättern‹, die Otto von Sudberg am Ende in die Hände fallen. Und auch dort entsprechen das »Mädchen« (ebd.: 88) Imagina selbst wie auch Prinz Wismuth Otto von Sudberg und Acedia Feodore Zaluska.

Die daraus hervorgehende strukturell-semantische Übersättigung des Zusammenhangs von eingebetteten Werken, die die Figur schafft, und darstellendem Text kulminiert in der finalen Entscheidungsfindung der Protagonistin, die den vorliegenden Zukunftsentwurf entscheidend beeinflusst. Sind an erster Stelle August und der Landrat von Unruh außerstande, Imaginas Text adäquat zu rezipieren und den Bedeutungszusammenhang zu decodieren, gelingt dies Otto von Sudberg – wohl auch aufgrund seiner eigenen Involviertheit – durchaus: Die »Macht seines Schicksals« (ebd.: 89) besteht ja darin, dass er durch einen Eid an Feodore gebunden ist, zugleich aber infolge einer gemeinsamen Vergangenheit und schlechter Erfahrungen mit ihr, fest von ihrer Beziehungsunfähigkeit überzeugt ist, von ihrer oberflächlichen Geltungssucht, ihrer substanzlosen Mondänität und auch von der eigenen künftigen Misere, sollte er eine eheliche Verbindung mit ihr eingehen müssen. Imagina rettet ihn, indem sie sich – gleichwohl faktisch schuldlos – schuldig erklärt und damit den Weg für eine Verbindung zwischen Feodore und August ebnet. Es stellt sich allein die Frage, warum nicht auch Imagina und Otto eine Verbindung eingehen – die zwar gesellschaftlich nicht goutiert, aber doch außerhalb der deutschen Gesellschaft, in Italien etwa, realisierbar wäre und als solche auch verhandelt wird.

Nein, ich bin gerettet, aber ich erhebe mich nicht früher, fuhr Otto leidenschaftlich fort, bis ich weiß, ob die reinste, edelste Flamme der Liebe die Schlacken meines vergangenen Lebens vollends verzehren und ich in dem heiligen Namen Imagina neu geboren werden darf!

Sie sind frei, Otto von Sudberg, sagte die Gräfin ohne Leidenschaft, Sie haben das Gelübde an Ihren sterbenden Freund gelöst. Feodore wird die reiche Gräfin von Wartenberg werden. Ziehen Sie in Ihre Berge, werfen Sie sich an das Herz der guten Mutter Erde, werden Sie in Ihrem Beruf wieder jung, werden Sie hoffnungsvoll, werden Sie ein Mann!

Otto erhob sich und konnte in seinem Auge die Thränen nicht verbergen. Das Gedicht dieser Blätter wollen Sie nicht völlig wahr machen? fragte er; Ihr Herz soll Dem nicht gehören, von dem es träumte?

Mit verklärtem Lächeln antwortete Imagina: Es muß nicht Alles irdisch enden! […] Nein, ich glaube an eine Geisterwelt, an der wir selbst einst einen Theil nehmen werden. […] Dort dereinst treten diese verborgenen Freuden und Leiden, diese ungestandenen Neigungen ebenso in eine ungeahnte neue Wirklichkeit […] … Für diese Welt … leben Sie wohl. (Ebd.: 90 f.)

Beide Figuren werden nicht, wie im Ausnahmefall von Fontanes Geschwisterliebe, in ein Jenseits versetzt, sondern verweilen in der diesseitigen Welt – jedoch dabei mit unterschiedlicher Auslegung ihrer Trennung. Otto: »Imagina, ich hoffe auf die Zukunft!« (Ebd.: 91). Imagina wiederum in einem ihrer Briefe an ihre Erzieherin und den Vater:

›Die Grenze, die dem Ideal das Dasein zieht, erscheint uns nur dann nicht mehr grausam, wenn sie sich zu einer schönen Form in der Kunst verkörpern kann. Wer diese Grenze mit dem Pinsel oder der Feder, mit einem Instrument oder dem schönen Ton der eignen Stimme, wer sie auch nur mit dem gesprochenen Wort und dem sich selbst beschränkenden schmucklosen und darum eben schönen Erguß des Herzens beschreiben kann, der ist wahrhaft ein Dichter und, was noch mehr ist, ein glücklicher Mensch.‹ (Ebd.: 91 f.; Hervorhebungen im Original)

Verlagert Otto also die Problemlösung in die Zukunft, so ist sie diejenige, die erkennt, dass sie innerhalb der sozialen Wirklichkeit keinen Platz haben kann. Ebenso, wie das Ideal in der Realität gekappt wird, wird es gleichsam in den Bereich der Kunst verlagert – und mit dieser Maßnahme zieht sich Imagina aus der Welt zurück: »In der Kunst durfte sie mit Recht die wahre Bedeutung und Verklärung ihres Wesens finden.« (Ebd.: 91)

All dies lässt nun zwei Schlüsse zu: Erstens verfährt der Text ordnungsaffirmativ; und dies, obwohl er die Ordnung letztlich doch auch als fragwürdig ausstellt. Die Opposition zwischen (sozialer) Wirklichkeit und Kunst, die er aufbaut und problematisiert, wird am Ende aufrechterhalten: ›Kunst‹ und ›Gesellschaft‹ bleiben unvereinbar. Während sich die Kunst in Person Imaginas räumlich (nach Italien) verlagert und (man muss annehmen: in der vorgeführten Beschaffenheit) weiterhin Bestand hat, befindet sich die gesellschaftliche Wirklichkeit – Madame Milde spricht es offen an – im Umbruch: Obwohl in der präsentierten Zeitspanne eine feudal-aristokratische Hegemonie anzunehmen ist, wird diese doch von ordnungsskeptischen, deutschnational-liberalen Kräften (repräsentiert durch die Breslauer Studenten) zunehmend in Frage gestellt und steht vor dem Zusammenbruch. Bestätigt wird damit ein morbid-fragiles Ordnungsgefüge, in dem ›Kunst‹ als Fremdkörper semantisiert ist. Insofern kann sich Imagina infolge ihrer Entscheidung und ihrer Emanzipation vom restriktiven Verhaltenssystem glücklich schätzen; ihre Person aber ist ein herber Verlust für ein soziales Umfeld, in dem sie durch ihre Verbindung zu eben beiden konfligierenden Gesellschaftskreisen – wenn auch sicher nur im übertragenen Sinne – als vermittelndes und harmoniestiftendes Bindeglied hätte fungieren können. Zweitens nimmt der Text eine wesentliche Differenz vor, die sich auch in anderen Texten, wie oben genannt, wiederfinden lässt und die am Umgang mit diegetischen Rückkopplungen allzu deutlich hervortritt – die also als übergreifendes Merkmal verstanden werden kann ‍–, die Differenz nämlich zwischen dem, was der Text unter ›Romantik‹ (oder im weiteren Sinne: ›Goethezeit‹) auffasst, und demjenigen System, das er und andere Texte selbst konstituieren und auf Basis ihrer selbstreflexiven Beschaffenheit metatextuell mitdenken:

Wirklichkeitspotenzierung durch die ›Romantik‹/›Goethezeit‹

vs.

Wirklichkeitskonsolidierung durch die Zwischenphase

Diese Differenz wird getragen und ausgehandelt über die Thematisierung von ästhetischen Artefakten im Erzählen und im Erzählten. Mit ihrer Hilfe machen Texte klar, dass sich die Zwischenphase einerseits literaturästhetischer und -anthropologischer Probleme bewusst ist und diese aufruft, sie sie andererseits aber nicht oder nur unzureichend lösen kann. Im vorliegenden Beispiel zeigen Imaginas Artefakte auf, inwiefern erlebte und wahrgenommene ›Wirklichkeit‹ mehr sein kann, als sie zu sein scheint – das versteht angesichts seines eigenen Schicksals speziell Otto von Sudberg, von anderer Warte aus aber durchaus auch die Erzieherin Madame Milde. Imaginas Werke zeigen, dass (literarische) Kunst in dieser Hinsicht ein eminent wichtiges Kommunikationsmittel darstellt, in der diese Auffassung von ›Realität‹ fixiert und zusätzlich auf die Diegese in Gutzkows Text rückbezogen wird. Gleiches gilt für die anderen genannten Beispiele: Stets wird die dargestellte Wirklichkeit durch die Rückkopplung mit artifiziellen Diegesen potenziert – das heißt: intertextuell gedoppelt (Cordelia, Waldeinsamkeit) beziehungsweise mit ›Wirklichkeiten‹ fusioniert, die in thematisierten Artefakten entworfen sind (Das Modell). Oder sie sind zusätzlich gar wunderbar ausgehöhlt beziehungsweise durch die Möglichkeit des Wunderbaren erweitert (Imagina Unruh). Die Textlogiken jedoch, wie sie in unser Korpus kennzeichnen, bestehen hauptsächlich darin, Wirklichkeit zu konsolidieren, die genannten Potenzierungsmöglichkeiten zurückzunehmen und in einer gefestigten Ontologie von ›Welt‹ einzuebnen. Man möchte sagen: Auf Kunstformen jeglicher Art wird zwar auf mannigfaltige Weise zurückgegriffen und diese Rückgriffe selbst werden gar im Erzählen ostentativ funktionalisiert; jedoch dient das Potenzial, das diese Kunstformen mitbringen, lediglich dazu, Möglichkeiten aufzuzeigen, diese aber zugleich zu unterminieren. In den vorliegenden Zukunftsentwürfen werden ›Kunst‹ und ›Wirklichkeit‹ voneinander separiert und (mehr oder weniger deutlich) als inkompatibel semantisiert.

Es wird deutlich, dass Texte der Zwischenphase die diegetische Rückkopplung abwägen, sie zwar als Problemverhandlungsstrategie nutzen und als metatextuelles Moment geltend machen, zugleich aber von diesen Mechanismen der Weltenmodellierung, die sie der Goethezeit zuschreiben, Abstand nehmen und ihnen bestimmte Neumodellierungen entgegenstellen.

4.3.4 Zeitkristallisierende Archivierung und die wirklichkeitsregulierende Funktion von Artefakten

Kommen wir zu einem Zwischenresümee. Thematisierte ästhetische Artefakte sind auf textsemantischer Ebene in vielfältiger Form anzutreffen, obwohl sie in der Regel ekphrastisch in die natürliche Sprache übertragen sind. Sie fungieren als Träger selbstreflexiven Erzählens, und das im Sinne einer Problematisierung und Verhandlung von ›Kunst‹ im Rahmen von Handlungs- und Sozialkontexten. Literarische Erzähltexte bauen infolgedessen ein metatextuelles Moment auf: Die Literatur der Zwischenphase ist durch die Selbstdiagnose einer im Umbruch befindlichen Kunstform gekennzeichnet.

Zwei Eigenschaften von Artefakten, wie sie dominierend in der Zwischenphase auftreten, sind eminent: die zeitkristallisierende Archivierung und eine wirklichkeitsregulierende Funktion, die im Literatursystem tendenziell aufgehoben wird.

Zeitkristallin sind Artefakte in folgender Hinsicht: Sie machen Zeit sichtbar, zentrieren sie und weisen prismatisch auf zeitliche Vorgänge der dargestellten Welt zurück. Damit verbunden ist auch eine Archivierungsfunktion, die ihnen eingeschrieben ist. Mit Artefakten wird ›Zeit‹ über die Darstellung von Zeitlichkeit (des Geschehens) hinaus thematisch aufgerufen und handlungslogisch determinierend eingesetzt. Wenn darüber hinaus Artefakte ihrer Verfasstheit nach auf entscheidende Ereignisse oder Figuren in der Vergangenheit rekurrieren, sie auf die Topik, auf Verfahren und die Anthropologie vergangener Kunst- und Literaturepochen verweisen und sie gleichzeitig für die dargestellte Gegenwart und die Figuren, die ihre Gegenwart als Gegenwart wahrnehmen, wichtig werden und sie ferner die Zukunft des Handlungsgeschehens entscheidend beeinflussen – dann wird nur allzu deutlich, inwiefern sie ›Zeiten‹ (›Gegenwart‹, ›Vergangenheit‹, ›Zukunft‹, die Temporalsemantik einer Künstlerfigur, den Bezug des Textes auf andere Systeme et cetera) bündeln. Und deutlich wird zudem auch, inwiefern sie doch auch diese ›Zeiten‹ ›zerlegen‹, indem sie verschiedene Artefakte als divergente temporalsemantische Archive gegeneinanderstellen oder auch ›Vergangenheit‹ und ›Zukunft‹ nach ›außen‹ in die dargestellte Welt der Texte strahlen und dabei durchspielen, wie die Vergangenheit die Gegenwart buchstäblich einholt oder diese jene nicht überwinden kann und dadurch die Zukunft fraglich bleibt.

Hand in Hand geht damit auch die augenscheinlich als wichtig erachtete wirklichkeitsregulierende Funktion von thematisierten Artefakten. Diese Funktion gewinnt auf Basis des strukturellen Phänomens diegetischer Rückkopplungen an Bedeutung. Auf der einen Seite lässt sich die Form der Einbindung künstlerischer Texte flächendeckend und phasenübergreifend beobachten – sie kann daher zur Rekonstruktion des literarischen Systems nicht hoch genug eingeschätzt werden. Auf der anderen Seite aber wird sie auf der syntagmatischen Ebene der Ereignisstruktur in der Regel immer erst gesetzt und dann zurückgenommen. Ihr Status ist daher ambig: Einerseits wird die diegetische Rückkopplung zu dem Zweck geltend gemacht, (literarische) Selbstaussagen überhaupt erst treffen zu können; andererseits sind ihre Relata (ästhetisches Objekt und literarischer Text) stets selbst semantisch aufgeladen und funktional determiniert: Wenn Artefakte an die Wirklichkeit eines Textsystems rückgekoppelt werden, dann handelt es sich immer auch um solche Artefakte, die irgendwie die Vergangenheit repräsentieren, die wiederum das Textsystem hinter sich zu lassen anstrebt. Und auch dies deutet freilich auf die metatextuelle Anlage der Zwischenphase hin, tendiert sie doch dazu, den eigenen Problemstatus gerade darüber zu definieren, dass sie funktional von der Vergangenheit abhängig ist, nach Loslösungsstrategien sucht und diese aber nur in Ansätzen findet.

Die beiden genannten Eigenschaften bilden einen Kern jener dritten, metatextuell-selbstreflexiven Zeitstruktur ausgehend von ästhetischen Artefakten. Ein weiterer Träger der Zeitstruktur lässt sich finden, wenn man prüft, welche narrativen Texte funktional eingebunden werden.

4.4 Narrative Selbstreflexion: Zur Bildung und Differenz erzählerischer Klassen in selbstreflexiver Funktion

Wenn die Protagonistin in Gutzkows Novelle ihre Version der Geschehnisse um Otto von Sudberg und die eigene Situation als ›Andersartige‹ in einer sozial oberflächlichen Welt niederschreibt, so entwirft sie eine alternative Wirklichkeit, die sie im Rahmen einer auf primärer Erzählebene nur stückweise wiedergegebenen Binnenerzählung präsentiert. Aber: Sie tut dies in einem narrativen Modus. Auch über ihre Zeichnungen, die entfernt an die Bilderfolgen William Hogarths erinnern, ließe sich eine Tendenz zur Narration nachweisen.Footnote 12

Worauf es an dieser Stelle unserer Ausführungen ankommen soll, ist, solche erzählerischen Klassen – auf der primären und auf der sekundären TextebeneFootnote 13 – auf ihre Bildung und ihre Differenz hin zu prüfen. Ihre Bildung korreliert mit der Erzählmotivation: warum, aus welchem Beweggrund heraus eine Figur erzählt. Die Differenz beider Klassen kann – wie im Fall von Imaginas Binnenerzählung – auf die Verfasstheit von ›Kunst‹ und ihre Verschränkung und Abgrenzung zur Wirklichkeit des Textes hindeuten. Sie kann aber auch losgelöst von einem Kunstanspruch, der der sekundären Binnenerzählung zukommen könnte, Selbstreflexivität fundieren, die dann auch ebenfalls metatextuell und zeitreflexiv ausgerichtet ist.

›Klassen‹ sollen narrative Zusammenhänge auf unterschiedlichen Erzählebenen in Texten in unserem Kontext deshalb genannt werden,Footnote 14 da sie über Merkmale verfügen, die sie jeweils von anderen unterscheidet, – und zwar bezeichnenderweise hinsichtlich ihrer Funktionalisierung bei der Reflexion von Zeit. Beide Zusammenhänge sind Teilklassen des Narrativen. Sie verbindet, dass sie zum einen erzählerisch strukturiert und zum anderen gegebenenfalls durch weitere Elemente gekennzeichnet sind – wie etwa stoffliche Einheiten, wenn sie sich, wie in Imagina Unruh, auf dasselbe Geschehen beziehen. Ihr unterscheidendes Merkmal aber wird im Text dominant gesetzt – wobei die Merkmalsdistinktion unterschiedlich ausfallen kann: ›wunderbar‹/›nicht wunderbar‹, ›ereignishaft‹/›ereignisarm‹, ›+ künstlerisch‹/› −  künstlerisch‹, ›goethezeitlich‹/›biedermeierlich‹ und so weiter.

Wir bewegen uns also noch immer im Feld selbstreflexiver literarischer Präsentationen, mit dem nun allerdings verschobenen Fokus auf das Narrativ, auf Narrativität und Sujethaftigkeit sowie auf Aspekte der narrativen Mediatisierung. Der Zugriff auf den Phänomenbereich soll dabei annähernd derselbe bleiben wie in den Teilkapiteln zuvor, verbunden allerdings mit der Frage, wie das Literatursystem der Zwischenphase das Selbstverständnis als ›Zwischenphase‹ narrativ aufbaut und aushandelt und wie dies in reflexiven Zeitstrukturen aufgeht.

4.4.1 Die ›Entzauberung‹ der Welt als narrative Problemlösungsstrategie: Zschokkes Der tote Gast

Wenn literarische Texte ihre Eigenschaft als narrative Texte textintern duplizieren, vervielfachen, dann ist potenziell auch narrative Selbstreflexivität gegeben und mit ihr die Aufgabe unserer Studie berührt, zu entschlüsseln, wie die Zwischenphase textstrukturell Selbstaussagen codiert und sich selbst als ›Zwischenphase‹ modelliert. Unabhängig also vom eingelösten oder auch uneingelösten Autonomiepostulat literarischen Handelns, das die Auffassung von Literatur als eigenständige Kunstform im Denk- und Wissenssystem der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts rechtfertigt und daher die Äquivalenz von Kunst- und Selbstreflexion nahelegt, kann ein Zugang zum komplexen Verhältnis zwischen Selbst- und Zeitreflexion, so die Annahme, ebenfalls über eine Untersuchung des Erzählens freigelegt werden.

Wie schon festgehalten: In Imagina Unruh fallen Kunstreflexion und narrative Selbstreflexion zusammen. Die Artefakte, die Imagina hervorbringt, werden partikular und in unterschiedlicher Weise auf die Textoberfläche überführt und darüber wird implizit der eigene Status des Textes in seiner literarhistorischen Position konstatiert. Die Korrelation ist aber nicht zwangsläufig gegeben. Im nun gewählten Beispiel – Zschokkes Der tote Gast – ist es kein ästhetisches Artefakt, das das reflexive Zentrum des Textes bildet, sondern schlicht eine mündlich überlieferte Sage um eine fantastische Entität, die in regelmäßigen Zeitabständen und unter bestimmten Bedingungen eine soziale Teilgruppe des fokussierten Kulturraums existenziell bedroht. Mit Hilfe einer (unbeabsichtigten) Instrumentalisierung der Sage vonseiten einer der Figuren, unternimmt Zschokkes Text auf überindividueller Ebene der dargestellten Welt die ›Entzauberung‹ ihrer ontologischen Beschaffenheit: Die Überlieferung wird als bloße Sage, als überkommen-fiktionales Wissenselement enttarnt, das bis zum Zeitpunkt des Erzählbeginns durch den vorherrschenden Aberglauben einer vor allen Dingen alten Kulturgemeinschaft getragen wurde. Der Clou dieses Vorgangs besteht darin, dass der Text zunächst unter Vorbehalt entscheidenden Figurenwissens die Illusion aufbaut, es handele sich nicht nur um eine Mär, sondern um eine faktuale Erzählung mit existenzsichernder Funktion. Die Figur des toten Gastes tritt im selegierten Zeitsegment, der Handlungsgegenwart, vermeintlich realiter in Erscheinung ‒ die Sage enthält wichtige Informationen, um richtig zu handeln und nicht in die Fänge des Geistes zu gelangen. Was daran entscheidend ist: Der Text (von Zschokke) und der ›Text‹ im Text (die Sage um den toten Gast) sind beide narrativ und erzählen in unterschiedlicher Art und Weise von derselben Sache. Der reflexive Zusammenhang beider führt vor, inwiefern Zschokkes Text ›Vergangenheit‹, ›Gegenwart‹ und ›Zukunft‹ semantisch separiert, infolgedessen eine Umsemantisierung von ›Welt‹ vornimmt und damit zugleich einen literarischen Wandel abbildet, in dessen Zuge eine romantische Poetik des Fantastischen verabschiedet wird.

Zunächst muss im Hinblick auf die Binnenerzählung zwischen einem ›losen‹ Wissensbestand der dargestellten mentalen Kultur und der Narrativierung des Mythos durch den Figurenerzähler Walderich unterschieden werden. Beide verbindet die Eigenschaft, dass sie zweihundert Jahre zurückgreifen und von einer regressiven Grundauffassung zeugen: einer Orientierung an der Vergangenheit und dem Glauben daran, dass Vergangenes in der Gegenwart noch immer Bestand hat. Während dies für Walderichs Erzählung nur scheinbar gilt – er ja tatsächlich progressiv agiert, etwas mit seiner Erzählung bezweckt und eine Änderung bewirkt ‍–, trifft der Punkt auf den Mythos vollkommen zu: Verankert im stark ausgeprägten Aberglauben des Handlungsraums Herbesheim kursiert ein in seinem Gesamtzusammenhang nur kaum greifbares Narrativ rund um den wandlungsfähigen Wiederkehrer. Die Informationslage dazu, die auf tatsächliche Fakten hindeuten könnte, ist dürftig, dennoch erscheint der Mythos in seinem Grundriss voll ausgeprägt:

Es war nämlich dies Jahr die hundertjährige Jubel- oder Jammerfeier des sogenannten toten Gastes, der besonders allen Bräuten in der Stadt ein böser Gesell zu sein schien. Niemand wußte genau, welch eine Bewandtnis es mit diesem Gaste habe. Aber man erzählte sich, es sei ein Gespenst, das alle hundert Jahre einmal in die die Stadt Herbesheim wiederkomme, vom ersten Advent bis zum letzten Advent darin hause, zwar kein Kind beleidige, aber richtig jeder Braut den Hof mache und damit ende, ihr das Gedicht in den Nacken zu drehen. Des Morgens finde man sie, das Antlitz im Rücken, tot im Bette. Was dies Gespenst aber noch von allen Gespenstern in der Welt auszeichnet, ist, daß es nicht etwa nur in der gesetzlichen Geisterstunde, nachts zwischen elf und zwölf Uhr, sein Wesen treibt, sondern es soll am heitern lichten Tage in wahrer Menschengestalt auftreten, ganz modisch wie andere Erdensöhne gekleidet einhergehen, überall hinkommen und sich einführen. Dieser Gast soll Geld vollauf haben und, was das ärgste ist, wenn er keine Braut eines andern findet, selbst die Gestalt eines Freiers annehmen, die armen Herzen der Mädchen behexen, bloß um diesen nachher […] des Nachts den Kopf umdrehen zu können.

Niemand konnte angeben, woher diese Sage entstanden sei. Im Kirchenbuche der Pfarrei las man noch die Namen von drei Jungfrauen, welche zur Adventszeit im Jahr 1720 plötzlich abgestorben waren. Als Glosse lieset man daneben die Worte: ›Mit dem Angesicht im Nacken wie vor hundert Jahren […].‹ – Wenn nun auch diese Anmerkung auf dem Rande des Kirchenbuches keinem vernünftigen Manne ein Beweis der Tatsache war, so bewies sie doch wenigstens, daß die Sage schon älter als hundert Jahre gewesen sei, ja daß vielleicht vor zweihundert Jahren irgendein Ähnliches begegnet sein müsse, weil sich das Kirchenbuch darauf beruft. Die älteren Kirchenbücher sind leider nicht mehr vorhanden. Sie gingen bei einer Feuersbrunst im Spanischen Erbfolgekrieg verloren. (Zschokke o. J. [1821]: 102 f.)

Der an dieser Stelle von der übergeordneten (ebenfalls diegetischen) Erzählinstanz ausgeführte Zusammenhang ist fester Bestandteil des allgemeinen kulturellen Wissens Herbesheims (»jedem war die Sage bekannt«; ebd.: 103) – und dies wäre als erster wesentlicher Gesichtspunkt der hier erfüllten Grundkonstitution zu werten. Ferner ist der Zusammenhang temporalsemantisch aufgeladen, indem er zyklisch funktioniert und zum Zeitpunkt des erzählten Geschehens akut ist. Und er attestiert der ›Realität‹, auf die er bezogen ist, einen wunderbaren Grundzug: In der dargestellten Welt ist es möglich, als Untoter unter den Lebenden zu wandeln beziehungsweise als Geist die Gestalt eines Lebenden anzunehmen. Offenkundig wird hier eine augenscheinlich als wichtig erachtete Proposition im Zusammenhang mit dem Wert der Paarbildung verbalisiert und verarbeitet: ›Bleibe bei deiner Partnerwahl! Hast du einmal deine Wahl getroffen, lasse dich davon nicht abbringen.‹ Das sprichwörtliche ›Kopfverdrehen‹ im Liebesdusel wird dahingehend als buchstäblich körperliche Tat und Sanktion bei Zuwiderhandeln angesichts dieser proponierten Regel konkretisiert.

Die Figur Walderich nimmt nun freilich mit seiner Narrativierung der Sage eine wichtige Funktion in doppelter Hinsicht ein. Zum einen wird er in seinem Problemzusammenhang aktiv und hilft sich selbst: Er ist verliebt in seine Ziehschwester Friederike und begehrt sie zur Frau. Sie erwidert zwar seine Liebe, wird vom Vater aber einem anderen Mann – Eduard von Hahn – versprochen. Zum anderen ›vertextet‹ Walderich die Sage im Rahmen einer publikumswirksam präsentierten Narration mit motivierter Ereignisstruktur und konkreten Handlungsträgern.

Es sind nun wirklich, fing er an, zweihundert Jahre voll, als der Dreißigjährige Krieg angefangen und der Kurfürst Friedrich von der Pfalz die Krone des Königreichs Böhmen auf sein Haupt gesetzt hatte. Der Kaiser aber und der Kurfürst von Bayern an der Spitze der Katholiken Deutschlands brachen auf, die Krone wieder zu erobern. Die große, entscheidende Schlacht am Weißen Berge bei Prag ward geliefert. Der Kurfürst Friedrich verlor die Schlacht und die Krone. Wetterschnell flog die Botschaft von Mund zu Mund in Deutschland. Alle katholischen Städte jubelten über den Untergang des armen Friedrich, der seinen Thron nur wenige Monate besessen hatte, und den man deswegen schlechthin den Winterkönig zu nennen pflegte. (Ebd.: 124)

Dieser Hintergrund der politischen Ereignisgeschichte setzt Walderich in Verbindung mit Herbesheim und der Verhandlung der genannten Proposition. Denn der Winterkönig steigt dort mit seinem Gefolge ab und gerät indirekt in eine folgenschwere Wette zwischen drei jungen Bräuten. Die drei Frauen wollen sich gegenseitig übertrumpfen, lobpreisen den Mut des jeweiligen Bräutigams und beauftragen schließlich ihre künftigen Gatten, den Winterkönig zu erdolchen. Das Ganze geht triftig daneben: Der Winterkönig entkommt, ermordet wird einer seiner Gefolgsmänner, die Bräutigame verlassen die Frauen. Der Ermordete taucht als Wiederkehrer auf: Als wohlhabender fremder Graf, ganz in schwarz gekleidet und reich ausstaffiert, macht er den drei Frauen den Hof, bevor er sie in einer Nacht schließlich dahinrafft und selbst auf wundersame Weise verschwindet:

Da wehklagte der Wirt, sein Gast sei verschwunden mit all seinen Knechten, und niemand habe sie sehen fortwandern. Alles Gepäck, dessen soviel gewesen, sei davon und habe es doch niemand von hinnen getragen; aus dem wohlverschlossenen Stalle seien die vielen prächtigen Rosse entkommen, und keiner auf den Straßen, kein Wächter an den Toren habe von ihnen gehört.

Da erschrak alle Welt, und jeder schlug ein Kreuz und segnete sich, wer an den Häusern der unglücklichen drei Bräute vorüberging. Drinnen heulte Jammer und Schmerz, und bedenklich mußte jedem vorkommen, daß die reichen Geschenke, die prächtigen Brautkleider, die der Graf schon gegeben, die Perlenschnüre, Steinringe und Diamantkreuze nicht mehr gefunden werden konnten. (Ebd.: 131)

Vor Walderichs Erzählung heißt es noch, dass »die älteren Frauen nach reiflicher Überlegung […] so ziemlich überein[stimmten], daß die Geschichte vom toten Gaste nicht ganz aus der Luft gegriffen sein möge« (ebd.: 123), während die »jungen Herren […] alle ungläubig« (ebd.) waren. Auch zwischendurch wird vom »tollsten Märchen« oder einer »Ammenphantasie« (ebd.: 133) gesprochen, wie auch Vergleiche zur Schauerromantik bei Byron oder Radcliffe bemüht: alles Anzeichen dafür, dass das kulturelle Teilsystem zwischen dem Glauben und der Absage an eine wunderbare Beschaffenheit von ›Welt‹ changiert, eine Welt im ›Kippzustand‹. Allein die Beschaffenheit selbst bleibt dadurch allerdings unklar, auch vonseiten der übergeordneten Erzählinstanz uneindeutig gehalten. Zusätzlich getragen durch den seriellen Charakter seiner Erzählung und die Fortsetzung in einem lautstark geforderten zweiten Teil zeigt sich aber die Publikumswirksamkeit zuletzt darin, dass Walderich schließlich auch die skeptischen Gemüter zu überzeugen weiß. Die Sage vom toten Gast und mit ihr der wunderbare Status von ›Welt‹ werden spätestens nach der Fortsetzung und der Rückkehr des toten Gastes im Umfeld einer adeligen Herbstresidenz im 18. Jahrhundert ernsthaft in Betracht gezogen (vgl. ebd.: 146). Die Narrativierung der Sage in der Binnenerzählung nimmt in dieser Hinsicht einen beglaubigenden Charakter an.

Was hier demzufolge auszumachen ist und anhand der Zuhörer von Walderichs Erzählung durchgespielt wird, ist die (nach TodorovFootnote 15) für fantastische Welten typische hésitation in Bezug auf den ontologischen Status der dargestellten Welt zusammenhängend mit der Frage, welche Gesetzmäßigkeiten, welche Klassen der Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeit greifen und die Gegebenheiten in der Welt regulieren: Denn einerseits komplementieren die geschilderten Vorkommnisse der wunderbaren Sage die lückenhaften Informationen faktischer Vorkommnisse, die absichernd durch die glaubhafte Instanz der Kirche dokumentiert worden sind. Andererseits ist dem kursierenden Aberglauben ein aufklärerisches Vernunftdenken an die Seite gestellt, das die Möglichkeit real-faktischer Wiedergänger vehement für unhaltbar deklariert und für ein Weltmodell plädiert, das wiederum als realistisch ‒ im Sinne ›gemäß realistischen Gesetzmäßigkeiten funktionierend‹ ‒ gefasst werden könnte. Für die Existenz des Gastes spricht die Faktenlage, gegen sie die angenommene Unmöglichkeit überirdischer Entitäten und Ereignisse.

Als folgenreich und als Schaltstelle zwischen Binnen- und Rahmenerzählung des Textes erweist sich letztlich die Konkretisierung der Figur: Walderich füllt die Leerstelle der Sage und gestaltet die Figur des Gastes in ihrem äußeren Erscheinungsbild similar zu der (fiktionsintern) real-existenten ›Person‹ Eduard von Hahn. Nur am Rande von Interesse ist, dass Walderich dies tut, ohne die Tragweite der Folgen, die diese Maßnahme nach sich ziehen, abschätzen zu können. Er handelt zwar intendiert, aber, was den Endeffekt anbelangt, ungeplant: »[Ich] fand […] in der Eile zu meiner Figur kein Original als eben unseren Herrn von Hahn. Der fiel mir ein, weil er mir eben damals doppelt zuwider war.« (Ebd.: 177) Die Entscheidung, beide Figuren miteinander zu amalgamieren, ist eine spontane. Er handelt demzufolge intuitiv im eigenen Interesse richtig und legt damit ferner eine Textlogik offen, die uns bereits bekannt ist ‒ die Regularität endogamer Paarbildung als bevorzugte Variante in Paarbildungskonflikten ‒, zusätzlich aber eine Logik, die in unserem Rahmen neu ist: die Umsemantisierung einer Teilwelt von einer wunderbar konstituierten hin zu einer nicht wunderbar konstituierten, neuen Teilwelt als ein regulatives Kippmodell – die ›Entzauberung‹ der Welt.

Angezielt wird in Anbetracht von alledem ein konfliktfreier Zustand, auf den gewissermaßen hin erzählt wird ‒ denn vom Erzählerstandpunkt aus besehen ist hinsichtlich persönlich-individueller, insbesondere überindividuell-weltontologischer Fragen alles geklärt, entschärft und harmonisiert, ja angesichts des vom Erzähler selegierten Segments das mögliche Ausmaß der existenziellen Bedrohung gar trivialisiert. Das Kippmodell der ontologischen Umsemantisierung sowie Entschärfung, Harmonisierung und Trivialisierung basieren auf der Verschränkung und der diegetischen Rückkopplung zweier narrativer Klassen: auf der einen Seite die Binnenerzählung, die zunächst als Auffassung von ›Realität‹ als wunderbare Realität Geltung besitzt, die zwar aus einer Teilperspektive angezweifelt wird, von einer anderen (der des Außenraums) gar gänzlich unbekannt ist, die aber zugleich auch nicht widerlegt werden kann; auf der anderen Seite die Rahmenerzählung auf übergeordneter Erzählebene, die den Status der Binnenerzählung aufhebt und als triviale Gruselgeschichte entlarvt, allein fungierend als Mittel zum Zweck der Zusammenkunft zweier Figuren. Endogamie und Familialisierung werden hier als positive Werte prononciert und gleichzeitig ›Welt‹ umgedeutet.

In einem Beziehungszusammenhang steht damit auch die Spielart selbstreflexiven Erzählens, mit der wir es hier zu tun haben und die einen weiteren Aspekt der Konstituierung der ›Zwischenphase‹ in Texten – der Diskursivierung des literarischen Selbstverständnisses – ins Spiel bringt, und ferner bestätigt, was vorangehend bereits herausgearbeitet werden konnte. Fundiert wird die Anlage als ›Zwischenphase‹, die die Texte selbst in Anschlag bringen, durch ein komplexes Beziehungsverhältnis zwischen ›Alt‹ und ›Jung‹, zwischen Regression und Progression und die Einbindung und Verhandlung goethezeitlicher, insbesondere romantischer Repräsentationsstrategien, Muster, Motive und Stoffe. Der Zustand dieser Verhandlung wird hier negativ wahrgenommen (»Die Welt liegt wieder im alten und noch ärger als im alten.«; Ebd.: 97). Ein neuer Aspekt hingegen ist, dass Selbstreflexivität nicht allein über ›Kunst‹ aufgebaut, in der Zeit gespeichert und kristallin aufgefächert wird, sondern ‒ gleichwohl auf den ersten Blick sehr viel harmloser und sehr viel weniger offensichtlich als noch in der RomantikFootnote 16 ‒ auch losgelöst vom materiell gegebenen, ästhetischen Artefakt erzählerisch codiert und über Rückkopplungsstrukturen problematisiert wird. Diese Beobachtung öffnet den Blick auf Kommunikate, die nicht zwangsläufig künstlerischen Anspruch haben müssen, mittels derer aber dennoch Zeit und der eigene Status als Literatur der Zwischenphase aufgerufen und ausgehandelt werden.

4.4.2 Schwächere Formen selbstreflexiven Erzählens: Parallelisierung und Kontrastierung bei Stifter

Die Auseinandersetzung mit Zschokkes Text macht auf eine kategoriale Differenz aufmerksam, die zu benennen zweckmäßig für unser Vorhaben ist. Denn nicht alle Formen einer narrativen Binnenstrukturierung sind tatsächlich auch selbstreflexiv ausgerichtet. Der erzählerische Rahmen beispielsweise in Grillparzers Das Kloster bei Sendomir beschränkt sich auf die Ankunft und Abreise zweier Reiter, die erstaunt über das Kloster und seine Beschaffenheit einen Mönch nach den Hintergründen dieser offensichtlichen temporalsemantischen ›Schichtung‹ befragen.Footnote 17 Dieser erzählt daraufhin die Geschichte um den Ehebruch seiner Frau und den Niedergang seiner Familie, die die räumliche Umgestaltung eines gräflichen Gutes zu einem Kloster begründen. Rahmen- und Binnenerzählung stehen in einem konsekutiven Bezugsverhältnis, wobei der Endzustand der gescheiterten Erzählfigur Starschenski aus einer von vornherein als ungünstig angelegten Paarkonstellation und monetären Einbußen hervorgeht. Der Verlust von ›Familie‹ und ›Vermögen‹ als ranghohe Werte führen entsprechend zum Niedergang: »›Ich bin der mindeste von den Dienern dieses Hauses. Die niedrigsten Dienste sind mir zugewiesen.‹« (Grillparzer 1950 [1827]: 335) Der Text ist ein Beispiel für retrospektives, nicht aber für selbstreflexives Erzählen. Was ihn wie auch andere Texte – etwa auch Grillparzers Der arme Spielmann, Mörikes Der Schatz, Waiblingers Don Florida – auszeichnet, ist die übliche Struktur der ›Aufdeckung‹: Zu einem Zeitpunkt y wird ein Umstand zunächst als unerklärlich, geheimnisvoll oder bizarr, oftmals jedoch nur erklärungsbedürftig dargestellt. Die Anlage der Binnenerzählung dient dann dazu, Geschehensmomente eines Zeitraums x narrativ nachzuliefern, um diesen Umstand zu plausibilisieren. Mag dies im jeweiligen Fall auch zeitreflexiv ausgestaltet sein ‒ im Kloster bei Sendomir stellt ja immerhin ein zeitarchivierender Raum den Erzählanlass dar ‒, unterscheiden sich derartige Texte in dieser funktionalen Minimalverschränkung aber wesentlich von den hier behandelten. Sie mögen ebenfalls den Blick auf das Erzählen lenken, sie reflektieren dieses Erzählen aber nicht (wie etwa Der tote Gast). Zschokkes Novelle und andere Texte weisen nämlich neben diesem potenziell vorhandenen Funktionsgefüge zusätzlich die Eigenschaft auf, dass sie die Struktur des Textes selbst – sei es die oberflächenstrukturelle Beschaffenheit, sei es die semantische Tiefenstruktur – potenzieren, das heißt, die textuelle Strukturanlage auf seinen Binnenebenen aufgreifen, duplizieren – und dadurch nicht allein die motivationale Funktion geltend machen, warum etwas erzählt werden muss, sondern zusätzlich selbstreflexive Aussagen treffen ‒ Selbstaussagen also in Bezug auf Aufgaben und Formen literarischen Erzählens. So unternimmt Der tote Gast die Umpolung der dargestellten Welt von einer wunderbaren hin zu einer nicht wunderbar-märchenhaften Welt im Endzustand und extrapoliert dies anhand der angestrebten Paarbildung als wünschenswerten Zustand ‒ zu lesen auch als ein Plädoyer zur Abwendung von der Romantik. So ebenfalls zu beobachten in Der Condor, worin der erzählende Epigone der Romantik zu einem postromantischen Künstlersubjekt transformiert. Und so schließlich auch gestaltet in Imagina Unruh, einem Text, der den modifiziert-romantischen Gestus beibehält und diese Fortschreibung zugleich als zentrales Problem ausstellt.

Nun kommt es uns auf die obige Unterscheidung, die ja in dem einen Fall einen anderen Gegenstandsteilbereich ‒ nämlich das Problem der narrativen Retrospektive ‒ betrifft, nicht weiter an, sondern vielmehr darauf, alternative Formen selbstreflexiven Erzählens zu benennen, die in der Zwischenphase neben der diegetischen Rückkopplung und der ›Entzauberung von Welt‹ anzutreffen sind. Eine erste Form wollen wir mit dem Begriff der ›Kontrastierung‹, eine zweite mit dem der ›Parallelisierung‹ belegen. Beide rufen ebenfalls zwei (oder mehr) Klassen des Erzählens auf und setzen diese in Beziehung, wobei es jeweils um die Projektion einer binnenerzählten Vergangenheit auf eine rahmende Gegenwart geht: Problematisiert wird ein Narrativ, das auf die Vergangenheit rekurriert, an dessen Merkmalen und Regularien sich der jeweilige Text als Narrativ selbstreflexiv misst und darüber Zeitreflexion aufbaut, ohne dass bei der Projektion von der Vergangenheit auf die Gegenwart Wirklichkeitselemente des einen im anderen übertragen sind (wie demgegenüber in Der tote Gast, Das Modell und anderen oben benannten Texten). Dabei liegt der Unterschied allein in Rückkopplungsstrukturen. Tauchen hingegen Artefakte zwecks Kontrastierung oder Parallelisierung auf, so weisen diese auch dort ihre archivierende und kristalline Eigenschaft wie auch ihre wirklichkeitsregulierende Funktion auf. Auch Strategien, die teils als ›Entzauberung‹ und Abkehr von der Romantik ausgelegt werden können, lassen sich beobachten (zum Beispiel Gaudys Liebeszauber).

Einige dieser Aspekte lassen sich gut an zwei Texten Stifters veranschaulichen, Texte, die in ihren Erstfassungen gar inhaltlich ‒ in Bezug auf Abstammungsverhältnisse und Allianzen von Figuren (vgl. Adam 1993: 139; Blasberg 1998: 22, 40 u. Titzmann 2015: 337) ‒ verschränkt sind: Die Mappe meines Urgroßvaters und Die Narrenburg. Beide führen die Auseinandersetzung ihrer Protagonisten mit Überlieferungen ihrer Ahnen vor und fächern dadurch temporale Teilwelten auf, deren Wiedergabe an unterschiedliche Erzählinstanzen delegiert wird und dadurch bedingt auf verschiedenen Erzählebenen angesiedelt ist.

Die Kontrastierung scheint auf den ersten Blick das dominantere Prinzip zu sein: Die Gegenwart gehorcht anderen Regeln als die Vergangenheit, sie muss anderen Regeln gehorchen, und weicht dadurch deutlich von der Vergangenheit ab. Gerade dies ist ein wesentlicher Stützpfeiler des Selbstverständnisses des Literatursystems als ›Zwischenphase‹. Doch konnten die bisherigen Ausführungen auch aufzeigen, dass das Literatursystem in der Modellierung von ›Gegenwarten‹ ganz deutlich an literarischen und literaturanthropologischen Traditionen orientiert ist und diese nicht einfach fallen lassen kann. Die Parallelisierung ‒ im Fall von Die Narrenburg ‒ ist daher zwar weniger offensichtlich und kann ebenfalls als kontrastierendes Prinzip eingesetzt sein. Aber als Form selbstreflexiven Erzählens ist sie grundsätzlich genauso einprägsam wie erstere.

Der Held Heinrich in Stifters Die Narrenburg hat ‒ sofern er sein Erbe antreten möchte ‒ seine Herkunft zu klären, speziell auch die Auflagen zu erfüllen, die jedem Burgherren obliegen: Er wird angewiesen, die Lebensgeschichten der vorherigen Eigentümer zu lesen und seine eigene niederzuschreiben. Bedingt durch diese erbrechtliche Maßgabe erzeugt Stifters Text eine Relation zwischen der Lebensgeschichte eines in der frühen Goethezeit situierten Mannes ‒ Jodokus, der seine Geschichte schriftlich festgehalten hat ‒ und Heinrichs Geschichte, wie sie der Text wiedergibt. Die Regulation einer Erfüllung der Auflagen, wie sie der Teilraum explizit macht, stellt also die Relation zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart überhaupt erst her und sorgt zugleich für eine reflexive (Teil-‍)Zeitstruktur, die im immerwährenden, zirkulären Rekurs auf vergangene Zeiträume im linear-generativen Zeitfluss aufgeht. Doch die beiden Figuren sehen sich ferner ähnlichen Situationen ausgesetzt: Beide haben sich die Aufgabe auferlegt, ihre Liebe zu legitimieren und in Form einer als optimal erachteten Paarbildung zu leben. Im Fokus steht ein bestimmter Lebensabschnitt, die Findungsphase in den Mannstatus und die damit verbundene Einrichtung eines eigenen sozialen Umfeldes. Angesichts einer solchen Konstellation werden also ›Vergangenheit‹ und ›Gegenwart‹ nicht allein aufgerufen und in Beziehung gesetzt, sondern im Grundzug parallelisiert: Das, was für die Vergangenheit relevant gewesen ist, ist ebenfalls relevant für die Gegenwart. Letztere hat dieselben oder zumindest ähnliche Probleme zu bewältigen, die schon in der Vergangenheit zu bewältigen waren und dort ungelöst geblieben sind. Und mehr noch: Die hier vorliegende zeitreflexive Ausrichtung besteht darin, die Problemlösung in eine harmonische Zukunft zu überführen, die in einer minimalen Umsemantisierung von ›Welt‹ mündet, vornehmlich in der Renovierung des Alten im Neuen: Heinrich schafft es mit Hilfe der Auseinandersetzung mit Jodokus’ Erzählung, die eigene Situation zu meistern und einen glücklichen Endzustand zu erreichen, in dem nicht nur er und seine Liebe Anna vereint werden, sondern zugleich auch die zuvor strikte Grenzziehung zwischen der Burg Rothenstein und dem angrenzenden Ort Fichtau aufgehoben wird. Während in der dem Erzähleinsatz vorgelagerten Vergangenheit das Scheitern dominiert, dient die Problemverhandlung im Gegenwartssegment der Aussöhnung mit der Vergangenheit und einer anthropologisch-sozialen Neuausrichtung. Und doch springen zwei weitere Aspekte ins Auge: Trotz offensichtlicher Parallelisierung weicht das Geschehen um Jodokus ebenso offensichtlich vom Geschehen um Hermann ab. Die Partnerwahl verläuft in einem gänzlich anderen Rahmen, die Ehe wird aufgelöst, Figuren durch Tod getilgt. Ferner ist in der Restauration des zeitkonservierenden Raums durch den Helden zugleich auch die Botschaft codiert, dass der Text sich Wandel verweigert oder ihn nur in minimalem Ausmaß zulässt. Die Zukunft besteht im – höchstens modifizierten – Fortleben des Vergangenen und bleibt darüber hinaus offen (vgl. Wünsch 2002: 277).

Daran lassen sich wesentliche Folgerungen anschließen. Die Narrenburg weist erstens die Vergangenheit als Negativfolie aus, vor der sich der Held der erzählten Gegenwart zu behaupten hat. Die Vergangenheit ist ideologisch dominant, eine Auseinandersetzung mit ihr ist unabdinglich. Zweitens nimmt die textlich fixierte Binnenerzählung des früheren Burgherrn in ihrem Status als Negativfolie zugleich auch die Funktion eines katalysatorischen Mittels ein, mit dessen Hilfe der Held seinen richtigen Weg findet. Drittens kennzeichnet der Text das Problem der Selbstfindung in der dargestellten Gegenwart tendenziell als lösbar – abhängig jedoch von einer Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, der Substitution bestimmter Elemente, die dort als gesetzt galten, und ihrer zukunftsträchtigen Restauration: Die Vergangenheit dominiert auch die Zukunft, die dadurch ihrerseits offenbleibt. Das wiederum bedeutet, dass zwar im Kern eine Parallelisierung zweier Zeitsegmente vorliegt, mit ihr aber auch textsemantisch zentrale, zeitreflexive Oppositionen installiert sind. Grundlegend wird das Kontinuum eines zeitlichen Flusses durchbrochen, wenn die dargestellte Welt in der Vergangenheit (und weiteren Vergangenheitsphasen) ganz offensichtlich anders ‍– beziehungsweise überhaupt – organisiert war, als es die Gegenwart ist und diese wiederum anders, als es die offene, harmonisch-konfliktfreie und zugleich restaurative Zukunft sein wird. Im Fokus steht in dieser Hinsicht offenkundig die Konstellation ›Goethezeit‹ vs. ›Zwischenphase‹, denn letztere hat – wortwörtlich – ein Erbe anzutreten, das die erste hinterlassen hat: einen Raum des Todes, der Trümmer, des angehäuften Alten, der unzugänglichen Aristokratie. Und dies gilt es nicht allein anzutreten und zu übernehmen, sondern ›in Ordnung‹ zu bringen, die Trümmer erneut ›mit Leben zu füllen‹. Die selbstreflexive Linie in Stifters Text könnte an dieser Stelle offensichtlicher nicht sein: Handelt es sich doch um einen Text, der den Umgang mit ›textlich‹ manifesten Erbschaftsproblemen zum Thema hat. Daraus folgt schließlich viertens, dass der Parallelisierung ein kontrastives Moment eingeschrieben ist und sie – wie im Fall des gewählten Textes von Stifter – ein polysemes Zukunftsmodell nach sich ziehen kann.

In jedem Fall ist die Parallelisierung von erzählerischen Klassen zeitreflexiv aufgeladen. Über gemeinsame Elemente werden Handlungseinheiten unterschiedlicher Zeiträume miteinander in Beziehung gesetzt, insofern die im Erzählfokus stehende Gegenwart einerseits wie die Vergangenheit aufgebaut und reguliert ist und sich andererseits von ihr abzugrenzen und neu zu finden hat. Das Fundament der Parallelisierung stellen die Gemeinsamkeiten dar, die vom Text deutlich exponiert werden – wie beispielsweise die einzelnen temporalen Teilwelten mit Hilfe des titelgebenden Tieres in Gotthelfs Die schwarze Spinne parallel gesetzt sind.Footnote 18 Ganz offensichtlich ist aber die Parallelisierung ein nur untergeordnetes Verfahren mit dem Zweck, auf die semantische Verschiebung der dargestellten Welt mit zeitlichem Vektor abzuheben. In anderen Worten: Gleichwohl eine Klassenbeziehung über eine semantische Parallelsetzung – wie in Die Narrenburg und Die schwarze Spinne – hergestellt wird, dient diese doch zugleich der Differenzierung zweier (oder mehr) temporaler Teilwelten. Die Parallelisierung, so möchten wir behaupten, ist stets kontrastierend aufgebaut.

Wir gelangen damit zur zweiten Strategie selbstreflexiven Erzählens, die gleichfalls signifikant und mutmaßlich der Parallelisierung übergeordnet ist. Auch bei der Kontrastierung setzen Texte zwei (oder mehr) erzählerische Klassen miteinander in Beziehung. Und hierbei scheint umgekehrt eine Parallelbeziehung a prima vista auf der Hand zu liegen, im Gegensatz dazu aber ist die Gewichtung der Unterschiede zwischen den Klassen entscheidend und daher bedeutungskonstitutiv: Strukturgebend ist die Differenz zwischen Rahmen- und Binnenerzählung (bei einfacher narrativer Verschachtelung), die dabei auf denselben (figürlichen räumlichen) Bezugspunkten von Rahmen- und Binnenerzählung(en) basiert.

Vorzufinden ist dies in Die Mappe meines Urgroßvaters. Selbstreflexivität fußt auf einem komplexen Gefüge der Vertextung zeitlicher Prozesse, der Archivierung von Texten (und anderen Artefakten als Speicher der Vergangenheit) und ihrer rekonstruierenden Wiederentdeckung und Re-Lektüre. Mit der Installation einer Rahmen-/Binnenstruktur umkreist Die Mappe meines Urgroßvaters die Fragen nach einer schriftlich-verbalen Fixierung von Erlebtem und dessen Aufarbeitung zu einem späteren Zeitpunkt. Der Kontrast, den Stifter dabei anlegt, besteht zwischen zwei Zeitsegmenten, die sich auf einen Zeitraum von (schätzungsweise) 1734 bis 1742 – im Fall der Binnengeschichte – und auf 1842 – im Fall der Erzählsituation der Rahmenhandlung – datieren ließen (vgl. Adam 1993: 140). Verbunden sind beide Segmente durch den Bezugspunkt ›Familie‹: Der Urenkel liest und präsentiert als Herausgeber die Schriften seines Urahnen. Ansonsten herrschen vornehmlich Unterschiede vor, die die Gegenwartssituation von der Vergangenheit abheben. Die Binnenerzählung schildert die zwar zunächst problematische, dann aber gelingende Paarfindung von Doktor Augustinus und Margarita, den Bau des Familienhauses und die allmähliche Einfindung in den Berufsalltag als Arzt. Die Initiationsphasen des Rahmenerzählers dagegen werden stark gerafft aufgezählt, die Partnerwahl verläuft unspektakulär, mit dem neuen Eheleben hat der Urenkel das Familienhaus verlassen und ist in die ferne Stadt gezogen. Die Ehe ist offenbar kinderlos, den Familialisierungsprozessen der Binnenhandlung entgegengesetzt finden Entfremdungsprozesse statt (die Mutter des Rahmenerzählers deutet die Schwiegertochter von einer »blühende[n] Tochter« um in eine »fremde[] Tochter« [Stifter 1982c [1847]: 21]); überhaupt ist die Familie merklich unvollständig, denn neben den fehlenden Kindern ist auch der Vater des Erzählers zum Erzählzeitpunkt bereits verstorben. Angezeigt wird dadurch die Auflösung der Herkunftsfamilie, ja sogar der Abbruch ihrer existenziellen Fortführung. Die Separation von der eigenen familiären Vergangenheit in der Gegenwart wird auch vonseiten der Figuren konstatiert, wenn auch anfänglich aufgrund falscher Annahmen: »Ich dachte mir damals oft, wie denn ein so unsägliches Gewimmel in dem Leben eines einzigen Menschen, dieses meines Urgroßvaters, gewesen sein könne, und wie jetzt alles so gewöhnlich und entblößt ist – kein Geist läßt sich mehr sehen oder hören […]« (ebd.: 19). Und: »[W]enn nun das Leben des Doctors darinnen ist, so muß sich ja zeigen, ob es von jenen Geistern und überirdischen Gewalten beherrscht war, wie die Sage geht, oder ob es der gewöhnliche Kranz aus Blumen und Dornen war, die wir Freuden und Leiden nennen.« (Ebd.: 29) Im »Nachwort« dann die Erkenntnis: »So weit habe ich, der Urenkel, aus dem Lederbuche des Doctors ausgezogen, und so weit ist alles an ihm, der uns immer wie ein Wundermann erschienen war, gewöhnlich wie bei allen andern Leuten, und wird auch in dem ganzen Buche fort gewöhnlich sein.« (Ebd.: 232) Die Einebnung des Vergangenen im Gewöhnlichen und seine Annäherung an den Status des Gegenwärtigen trügt allerdings nur oberflächlich über die Kluft und die Brüchigkeit des Gegenwartssegments hinweg. Die Raffung aller weiteren Lebensereignisse des Ahnen, wie der vom Rahmenerzähler selegierte Abschnitt, verdeutlichen vielmehr, dass eine gelingende Partnerschaft, Familiengründung und Familientradierung zwar wertehierarchisch hochrangig sind und eine existenzielle Funktion erfüllen: die Selbstwerdung des Subjekts und seine ›Verzeitlichung‹ im Rahmen der Geschichte der Familie. Der Rahmenerzähler selbst vermag es jedoch nicht, diese Werte anzusteuern. Entsprechend sind die Figuren in der Binnengeschichte mit Namen belegt, während dies in der Rahmenhandlung dezidiert nicht der Fall ist. Ferner ist in der Erzählgegenwart – die ja mit der zeitgenössischen aktuellen Gegenwart zusammenfällt – das Ende der Familie absehbar und wird nicht allein durch die Kinderlosigkeit des namenlosen Ehepaares herbeigeführt, sondern auch prognostiziert im endgültigen Abschied von der Mutter und der Aufgabe des alten Familiensitzes (vgl. ebd.: 30 f.). Die Mappe meines Urgroßvaters erzeugt so ein ambiges Bild: Entscheidender Impetus des Rahmenerzählers ist eine regressiv-konservative Haltung, die an der Familientradition ausgerichtet ist und buchstäblich die Wahrung und Archivierung der Vergangenheit vollzieht – indem er sich für die alten Geschichten interessiert, ihnen nachspürt, sie rezipiert und sogar als »Mappe meines Urgroßvaters« ediert und der Nachwelt zur Verfügung stellt. Dem gegenüber steht der Abbruch des originären Stammplatzes (bezeichnenderweise als »Waldeinsamkeit seiner Heimat« bezeichnet; ebd.: 12; Hervorhebung von mir, S. B.), die Anonymität und Entfremdung des Familienlebens, die mutmaßliche Kinderlosigkeit und der Neubeginn in der fernen Stadt – alles in allem: die Zukunftsoffenheit, bei der der Kontinuitätsbruch zwar nicht narratorial breitgetreten wird, zugleich aber unleugbar stattfindet. Alles dies läuft auch bei diesem Text im proponierten Hauptproblem zusammen: Das Alte steht im ideologischen Zentrum sowohl des Textes selbst als auch der Figuren, es muss archiviert und verinnerlicht werden, um als Orientierungsleitfaden zu dienen;Footnote 19 und doch kann das eigene Leben daran eben nicht ausgerichtet werden. Es steht vor einem Neustart und der Loslösung vom ›Alten‹. Das ›Alte‹ ist stets präsent und muss zugleich aufgegeben werden.Footnote 20

Wie zu ersehen, sind sich Parallelisierung und Kontrastierung nicht unähnlich und treten strukturell gemeinsam auf, wobei allerdings angesichts der Spezifik reflexiver Zeitstrukturen, wie sie der Zwischenphase eigen ist, die Kontrastierung das übergeordnete Prinzip zu sein scheint. Das heißt, auch gesetzt den Fall, dass zwei (oder mehr) Erzählklassen einander über das dargestellte Narrativ, über die Motivik und Erzählmuster strukturell angenähert sind, läuft dies doch stets auf eine kontrastive Semantik hinaus, die für Zukunftsmodellierung entscheidend ist. Selbstreflexiv funktionalisiert sind beide Muster, gleichwohl als Strukturprinzipien wiederum ›schwächer‹ und weniger offensichtlich als die diegetische Rückkoppelung. Doch werden auch sie genutzt, um die Konstellation aus ›Vergangenheit‹, ›Gegenwart‹ und ›Zukunft‹ als Problem zu entwerfen und erzählerisch auszuhandeln.

4.5 Die Zwischenphase als ›Zwischenphase‹: Selbstreflexion als Zeitreflexion

Entromantisierung, die Zentrierung von Künstlerfiguren, die Kunstthematik und schließlich verschiedene narrative Strategien der selbstreflexiven Diskursivierung – alles dies läuft in der Selbstmodellierung der Zwischenphase als ›Zwischenphase‹ zusammen: Literarische Selbstreflexion, so ein wesentliches Ergebnis dieses Kapitels, tritt als zeitreflexive Funktion auf. Wenn man nun den Terminus der ›Zwischenphase‹ ebenfalls als Konzept fasst, das das Literatursystem als eines seiner Merkmale ausweist, so bedarf es abschließend einer Erläuterung, wie dieses Konzept konkret zu greifen wäre. Denn wie bislang gebraucht, handelt es sich bei dem Terminus der ›Zwischenphase‹ um einen literaturhistoriografischen Begriff, das heißt, um eine Bezeichnung für die Literaturproduktion von ungefähr 1820 bis 1850. Im anderen Fall hingegen resultiert der Terminus aus Folgerungen, die aus der Analyse hervorgehen, und bezeichnet ein einzeltextübergreifendes Merkmal der Texte, die der Zwischenphase angehören.

In dieser zweiten Verwendung weist die ›Zwischenphase‹ eine Implikation auf, die für die vorliegende Studie insgesamt von äußerster Wichtigkeit ist: nämlich eine zeitreflexive. Nun bestand die Aufgabe dieses Kapitels gerade darin, aufzuzeigen, dass die Begriffsverwendung auch deshalb plausibel ist, da der Zwischenphase ebenfalls eine selbstreflexive Implikation innewohnt: Das Literatursystem begreift sich selbst als ›System des Übergangs‹ von einem bekannten, aber überkommenen System hin zu einem andersartigen, aber noch unbekannten System. Dieses Selbstverständnis ist strukturell fundiert und lässt sich, dies sollte deutlich geworden sein, mannigfaltig realisiert wiederfinden. Anzunehmen ist daher ein dominant asymmetrisches Bezugsverhältnis zwischen Zeit- und Selbstreflexion: Selbstreflexive Texte sind nicht zwangsläufig auch zeitreflexiv. Man denke an Tiecks Die Vogelscheuche (1835), ein Text, der in hohem Maße reflexiv und selbstreflexiv verfährt, dadurch aber nicht (oder allenfalls nachrangig) Zeit diskutiert. Umgekehrt impliziert jedoch Zeitreflexion stets einen mehr oder minder deutlich ausgeprägten Hang zur selbstreflexiven Darstellung (– siehe die erläuterten ›stärkeren‹ und ›schwächeren‹ Formen selbstreflexiven Erzählens). Nicht nur begreift sich die Zwischenphase als ›Zwischenphase‹, auch entwirft sie sich selbst als solche. Ein Konzept, das auch anderen, nichtliterarischen Texte entnommen werden kann, lässt sich demnach in seiner literarischen Diskursivierung textuell nachweisen und rekonstruieren: Ausgehend vom literaturgeschichtlichen Selbstverständnis, am Ende der (von Heine sogenannten) ›Kunstperiode‹ zu stehen, vertextet das Literatursystem ›Zeit‹ als problematische Größe (insbesondere als Diskontinuum) und damit aber eben als literaturgeschichtlich und mentalitätsgeschichtlich problematische Größe und weist damit auf sich selbst und die eigene Situation zurück. Das komplexe Relationsgefüge bestehend aus Selbstbezüglichkeit und Systembezug verfügt daher ebenfalls über einen uns bereits bekannten metatextuellen Vektor: Singuläre Textsysteme formulieren und verhandeln Probleme, die auch das Literatursystem als Ganzes betreffen.

Im Zuge des eingeführten Basiskonzepts hat in erster Linie eine Leitfrage Berücksichtigung gefunden, die Texte unseres Korpus massiv beschäftigt: Wie lässt sich das problematische Verhältnis von Vergangenheit und Gegenwart auflösen, lässt es sich in der Zukunft harmonisieren? Die Zwischenphase wird determiniert durch die Dominanz des ›Vergangenen‹ und ›Zukünftigen‹. Die Vergangenheit gilt als vergangen und ist doch hegemonial und dominant in Bereichen der dargestellten mentalen, materiellen und sozialen Kultur angelegt; zugleich sind Texte und Figuren auf der Suche nach zukunftsträchtigen Lösungsversuchen, ohne dabei zu verbindlichen Ergebnissen zu gelangen ‒ und teils noch nicht einmal zu befriedigenden. Mit der Vergangenheit sucht das Literatursystem abzuschließen, die Zukunft wird als Optionalbereich unterschiedlicher Lösungen gestaltet und als solcher abgeschritten. Auf diesen letzten Punkt gehen wir im letzten Kapitel näher ein. Die Präsenz der Vergangenheit wiederum zeigte sich im vorliegenden Kapitel in der Ausrichtung von Künstlerfiguren (zum Beispiel in Imagina Unruh oder Cordelia), sie zeigte sich in den diversen Formen von ästhetischen Artefakten und ›Texten‹ mit zeitkristallin-archivierender und wirklichkeitsregulierender Funktion (Cordelia, Der Condor, Das Modell, Imagina Unruh) und sie zeigte sich nicht zuletzt in der temporalsemantischen Differenz unterschiedlicher Klassen des Erzählens (in textuell-materiell oder in verbal-mündlicher Form gegeben), mittels derer das Literatursystem Zeiträume kontrastiert (Die Mappe meines Urgroßvaters) oder parallelisiert (Die Narrenburg) oder die dargestellte Welt ›entzaubert‹ (Der tote Gast) sein kann.

Wir müssen also annehmen, dass es sich um eine spezifische Ausgestaltung einer literarischen Selbstreflexion handelt, die das Literatursystem klassifikatorisch von der Goethezeit und vom Realismus abgrenzt. Diese Spezifik der selbstreflexiven Zeitstrukturierung (gemäß der Formel: ›das Literatursystem der Zwischenphase gestaltet sich selbst als ›Zwischenphase‹‹) speist sich aus der Anlage folgender Strukturmerkmale und -muster: (1) Die Relevantsetzung von ›Kunst‹, (2) Entromantisierung, (3) Metatextualität und (4) Zukunftsreflexion. Da dem Bereich der Zukunftsreflexion ein eigenes Kapitel gewidmet ist, sei an dieser Stelle lediglich auf die drei anderen Teilbereiche eingegangen.

4.5.1 Selbstreflexion als zeitreflexive Funktion 1: Die Relevantsetzung von ›Kunst‹

Der erste Strukturkomplex, durch den die spezifischen Formen der selbstreflexiven Zeitstrukturierung der Zwischenphase gekennzeichnet sind, baut auf der signifikant häufig auftretenden Thematisierung von ›Kunst‹ in vielfältiger Realisierung auf. Doch nicht nur thematisieren Texte ›Kunst‹, etwa indem sie partikular Kunstwerke nennen oder Namen von Künstlern aufrufen oder randständig Künstlerfiguren auftreten lassen, sie setzen sie auch hochrangig an und binden sie maßgeblich in den Bedeutungsaufbau ein. Das leisten sie dann, wenn Künstlersubjekte im Zentrum der Handlung stehen und fokussiert werden und das Narrativ an ihnen ausgerichtet ist (›Künstlernovellen‹). Das leisten sie auch – und stärker noch –, wenn künstlerische Produkte dieser Künstler ekphrastisch eingebunden oder auf der Textoberfläche zitiert werden und Texte dadurch Aussagen darüber treffen, welchen (subjektinternen und -externen) Bedingungen und Möglichkeiten die Produktion von Kunst unterliegt wie auch Aussagen darüber, wie künstlerische Produkte gearbeitet sind, wie sie Wirklichkeit verarbeiten, sie wahrgenommen und bewertet werden und sich mit ihnen das Verhältnis des Künstlers (oder der Künstlerin) zur Öffentlichkeit gestaltet. Neben der figürlich konkretisierten Kunstthematisierung ist ihre Anbindung an ästhetische Artefakte bedeutsam, die genau dann entscheidend für einen gegebenen Text sind, wenn ihnen bestimmte Funktionen zugeschrieben sind: Stets weisen Kunstwerke dieser Art die Eigenschaft auf, dass sie ›Zeit(en)‹ speichern und die Vergangenheit aufrufen. Sie müssen von Figuren entdeckt und decodiert werden und weisen sowohl in konfliktauslösender als auch in konflikttilgender Einbettung zusätzlich die Eigenschaft auf, Handlungsgänge anzustoßen und/oder zu einem Ende zu bringen (und damit Zukunftsoptionen zu eröffnen).

›Kunst‹ ist, so kann man unumwunden sagen, bevorzugtes Thema literarischer Texte der Zwischenphase. Literatur selbst – dies ein Erbe der Goethezeit – versteht sich als Kunst. Die Kunstthematik gerät damit zum selbstreflexiven Moment. Doch stehen thematisierte ästhetische Formen nicht nur in Beziehung zu anthropologischen, sozialen oder gar – im Fall der diegetischen Rückkopplung – weltontologischen Fragen, sondern sind in der Konzeption der Zwischenphase immer auch temporalsemantisch aufgeladen. Das zeigen die Strategien der Relevantsetzung ganz deutlich: ›Kunst‹ und ›Zeit‹ sind miteinander verschränkte Einheiten.

Bestätigung findet dies von anderer Warte aus auch in der Ästhetik. Vischer, dessen Cordelia in unserem Rahmen als einer der entscheidenden Texte gelten kann, schreibt der Kunst in seiner großangelegten Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen (1846–1857) ebenfalls eine zeitliche Signatur ein. Im Kapitel zur »Kunst überhaupt« konstatiert er ganz pauschal, dass die »Gegenwart […] eine Zwischenstufe« (Vischer 1923, Bd. 3 [1848]: 81) darstelle, in deren Zuge ›Kunst‹ – darunter fasst er die bildende Kunst, die Malerei, die Musik, die Baukunst und die Dichtkunst – in ästhetischer und gesellschaftlich-pragmatischer Hinsicht im Umbruch begriffen sei. Dementsprechend ist seine Ästhetik grundsätzlich als eine Art ›Projektmanagement‹ für eine ›Kunst der Zukunft‹ zu lesen – erkennbar bereits im allgemeinen Teil der Schrift, worin Vorschläge zur Vorbereitung der Zukunft unterbreitet werden (vgl. ebd.: 82–84). Das grundsätzliche Problem zeigt Vischer etwa an der »moderne[n] Baukunst« auf:

Nachdem die Revolution des Lebens und der Phantasie diesem Unwesen [Vermischen von klassischen und gotischen Formen] ein Ende gemacht hat, vermag jedoch auch der geläuterte Geist auf dem Gebiete der Baukunst nicht schöpferisch zu werden, sondern nur die dagewesenen Stile in ihrer Reinheit nachzubilden. (Ebd.: 381)

Vischer diagnostiziert, dass die Bildung eines »modernen Ideals« und »neuen Stils« (ebd.) noch aussteht. Der momentane Stand der Dinge richte sich zwar »im Sinn der negativen Aufklärung« (ebd.: 383) aus, habe aber gewissermaßen keinen Eigenwert und reduziere sich auf einen »reine[n] Eklektizismus, der nun alle Stile kennt« (ebd.): Er »schafft nicht absolut Neues, sondern bildet frühere Stile zu Momenten eines neuen, organischen Ganzen um.« (Ebd.) Aus dieser »unzufriedenen Übergangszeit« bleibt damit allein der Blick in die Zukunft:

Einem neuen Baustil muß eine neue Form der Bildung vorausgehen: eine Bildung, welche das Chaos kritischer Gedanken, auflösender und erhaltender Tendenzen, trennender Leidenschaften, das unsere unzufriedene Übergangszeit darstellt, zu einem Zustande natürlichen, einfachen Gesamtgefühls aufgehoben haben muss […]. (Ebd.: 386)

Diese Gedankengänge setzen sich in der Behandlung der Dichtkunst zwar in dieser Explizitheit nicht fort, jedoch erhebt Vischer jene zu einer Art ›Metakunst‹, in der alle Künste und sogar das übergeordnete System der Ästhetik zusammenlaufen: »So wiederholt sich in der Dichtkunst nicht nur das System der Künste, als deren Totalität sie sich nun bestimmter […] erweist, sondern zugleich das ganze System der Ästhetik« (Vischer 1923, Bd. 6 [1853]: 124).Footnote 21 Nimmt man diese in kunstästhetischer Hinsicht sicherlich streitbare Position ernst, so wird deutlich, dass sich – wiederum in literaturästhetischen Kontexten – wohl durchaus zeitliche Implikationen in der Auffassung von ›Kunst‹ und ihrer Funktionenzuschreibung ausfindig machen lassen. Goethe etwa schreibt 1824 in einem Brief an Karl Ludwig von Knebel von einer Epoche, »die vorüber ist, nicht wiederkommt und dennoch bis auf den heutigen Tag fortwirkt« (Goethe 1949 [1824]: 620); dieser Metakommentar ist an anderer Stelle auch seiner Novelle zu entnehmen, die sich damit in den vorliegenden Kontext einordnen ließe (vgl. Feldt 1982: 93). Und auch Heines allseits bekannte Äußerung zum »Ende der Kunstperiode« stellt klare Bezüge her zwischen der Kunstästhetik, Literatur und Zeit:

Meine alte Prophezeiung von dem Ende der Kunstperiode, die bei der Wiege Goethes anfing und bei seinem Sarge aufhören wird, scheint ihrer Erfüllung nahe zu sein. Die jetzige Kunst muß zugrunde gehen, weil ihr Prinzip noch im abgelebten, alten Regime, in der heiligen römischen Reichsvergangenheit wurzelt. Deshalb […] steht sie im unerquicklichsten Widerspruch mit der Gegenwart. (Heine 1964 [1831], Bd. 8: 48 f.)

Es handelt sich demnach nicht um irgendeine Periode, sondern dezidiert um eine Kunstperiode, die ferner am Namen Goethes – dem Dichterfürsten – festgemacht wird. Und doch wird die literarische Kunst an das Heilige Römische Reich Deutscher Nation – ein politisch motivierter Terminus – und an die Gegenwart gekoppelt. Noch weiter geht schließlich Hauff, der den Dichter gar zum Historiker umdeutet:

Es war eine seltsame Zeit, wird man in 100 Jahren sagen, wenn man von unserer jetzigen Epoche spricht. Beinahe nie so sonderbar und doch zugleich so wenig auffallend mischten sich die verschiedensten Elemente […], und die Dichter, weit entfernt, mit ihrem idealen Gebiet zufrieden zu sein, stiegen herab in das mühsamste Feld des Realen und wurden – Historiker. (Hauff 1970 [1827]: 178)

Wir stellen fest: Die Maßnahme, Formen der Relevantsetzung von ›Kunst‹ und literarische Selbstreflexion eingehender zu betrachten, erlaubt es, allgemeine Aussagen über das Verhältnis von Kunst und Öffentlichkeit, Kunst und Geschichte, Kunst und Kultur zu treffen, wie auch Aussagen über die Auffassung von ›Kunst‹ als Austragungsort und Reflexionsmedium, und dies wiederum nicht nur hinsichtlich eigener Verschiebungen (wie im vorliegenden Fall: Verschiebungen im Sinne eines literarischen Wandels), sondern eben auch hinsichtlich solcher der Ästhetik und mentalitätsgeschichtlicher Prozesse.

4.5.2 Selbstreflexion als zeitreflexive Funktion 2: Das Strukturmuster der Entromantisierung

Von dem Phänomen der Entromantisierung war bereits mehrfach die Rede, ohne dass das Strukturmuster systematisch gefasst worden wäre. Angesichts der Auseinandersetzung mit selbstreflexiven Formen erscheint dies nun jedoch angebracht. Um zu rekapitulieren: Genannt worden ist die Entromantisierung bei der Bestimmung der Temporalsemantik des Raums. Auffallend ist, dass Texte dezidiert ›romantische‹ Topografien entwerfen, anhand derer sie ihre Ereignisstruktur aufbauen. Im Zusammenhang mit der Erörterung von Möglichkeiten der figürlichen Temporalsemantik war das Gegensatzpaar von Romantisierung und Entromantisierung in Spiel gebracht worden: In Imagina Unruh steht die romantisierende Perspektive der Figur im Verhältnis zur Entromantisierung auf Ebene des (postromantischen) Textes. Eine Abkehr von romantischen Denk- und Handlungsmodellen wird auch in Entwürfen der radikalen Negativierung sichtbar, die konsekutiv aus der Defektivität goethezeitlicher Konzepte hervorgeht (wie dies auf unterschiedliche Weise Hebbels Der Brudermord und Eichendorffs Das Schloß Dürande illustrieren). Als Entromantisierung wurde ferner die ästhetische Dimension bei Überlagerungen regressiver und progressiver Strukturen berücksichtigt. Aufgefasst werden kann sie dahingehend als Phänomen der Strukturüberlagerung, bei der zu gleichen Teilen goethezeitlich-romantische Elemente und goethezeitnegierende beziehungsweise -modifizierende Elemente kombiniert werden. Dies äußert sich in der für die Zwischenphase bezeichnenden Schichtung von zirkulären und linearen Zeitmodellen, die zwar für sich genommen auch in Texten voriger Literatursysteme (seit der Aufklärung) auftreten mögen, nun aber eine eigene Spezifik aufweisen, die sie von anderen Realisierungen unterscheidet – erkennbar, so hatten wir erläutert, etwa am entromantisierenden Text Waldeinsamkeit.Footnote 22 Schließlich wurde im voranstehenden Kapitel auch mit Blick auf die Integration lyrischer Texteinheiten in Prosatexten von postromantischem Erzählen gesprochen, einem Erzählen, das nicht nur zeitlich nach der Romantik stattfindet, sondern vorzugsweise an der Verwendung von Lyrik die Rückbezüglichkeit und die Loslösung von romantischen Denkmodellen, Darstellungsmustern und Rede- und Erzählverfahren durchexerziert.

Von anderer Seite aus besehen steht die Entromantisierung in Verbindung mit – in Kapitel 3 eingangs gelisteten – Konzepten der ›Auflösung der Romantik‹ (Schmidt) oder auch ›Metamorphosen der Romantik‹ (Hauser) und wird beschrieben als ein von Texten transportiertes »Wissen um das Ende der Epoche« (Lukas 1998b: 264), in dessen Zusammenhang »noch einmal spielerisch-ironisch ein bewußtes Gegenprogramm gesetzt« (ebd.) wird. Die in Texten gestaltete ›Romantik‹ werde inszeniert und gerate zu einem »Spiel mit einem etablierten Zeichenvorrat« (ebd.). So entwerfe Tieck in Das alte Buch und die Reise in’s Blaue hinein (1834) eine Apotheose der Goethezeit, in Waldeinsamkeit verkomme die Romantik zum »bloßen Topos« (ebd.). Auch in Des Lebens Überfluß lasse sich eine »Re-Lektüre der Romantik« (Kremer/Kilcher 2015: 183) ausmachen. Und als gemeinsames Kennzeichen der schwäbischen Schule um Ludwig Uhland, Justinus Kerner und Gustav Schwab lasse sich gar ein »Zug zur Popularisierung« (ebd.: 310) festlegen, »der die Ambivalenzen romantischer Lyrik einebnet und ihre Radikalität in Richtung auf Formen des geselligen, feuchtfröhlichen Umgangs abmildert« (ebd.). Und auch mit Blick auf den Gegenspieler Heine – etwa in seinem Lyrischen Intermezzo (»Aus alten Märchen winkt es«, 1822/23), in Die Heimkehr (»Ich weiß nicht, was soll es bedeuten«, 1823/24), im Buch der Lieder (1827) oder in seinen Neuen Gedichten (1844) (»Das Fräulein stand am Meere«) – kann gleichermaßen von »kritischer Entzauberung« und von einem »romantische[n] Spiel mit Inventaren und Zitaten« (ebd.: 313) gesprochen werden. Eine wichtige Erkenntnis ist hinsichtlich von alledem, dass hier eine »Progression der reflexiven Spirale« (ebd.: 314) zu beobachten ist mit der »Haltung einer Metareflexion« (ebd.): »Diese garantiert eine kritische oder ironische Distanzierung zur romantischen Tradition, ohne sie gänzlich aufgeben zu müssen.« (Ebd.) Man kann sogar so weit gehen, zu behaupten, dass gar »frührealistisches Erzählen […] die Heterogenität romantischen Erzählens« (Stockinger 2005: 55) fortsetze, ohne es auf seinen bloßen Ausstellungswert hin zu reduzieren.Footnote 23 Auch dahingehend wird – etwa bei Tieck und Hauff – eine »erzählerische Umkehrung« (ebd.: 56) festgestellt: »Im romantischen Erzählen wird das Reale zu einem Teil des Wunderbaren; im frührealistischen das Wunderbare zu einem Teil des Realen« (ebd.: 62) – es finde eine »Abkehr von der ›wunderbaren‹ Welt« (ebd.: 67) statt. Erinnert sei in unserem Zusammenhang an Zschokkes Der tote Gast oder auch an Das Schloß Dürande (vgl. ebd.: 66).

Unter Berücksichtigung dieser Überlegungen und der vorangegangenen Analysen ist die nachstehende Folgerung naheliegend:

›Entromantisierung‹ soll in einem weiten Sinne als regressiv-progressive Überlagerungsstruktur, in einem engeren Sinne als postromantisches Erzählen aufgefasst werden. Als (narrative) Struktur ist sie reflexiv: Das heißt, sie ist gegebenenfalls selbstreflexiv grundiert, in jedem Fall aber metatextuell ausgerichtet. Romantische Darstellungsverfahren, Erzählmuster und Denkmodelle und -figuren liegen konventionalisiert vor und werden vor einem dezidiert nichtromantischen/nichtgoethezeitlichen Hintergrund als ›romantisch‹ inszeniert, zum Beispiel durch romantisierende Figuren im Rahmen einer ironisierenden Textlogik. Derartige Textlogiken sind so reguliert, dass ›Romantik‹ zwar präsent ist, zugleich aber ‍– im Erzählen und in der erzählten Welt ‍– als unhaltbar klassifiziert wird. Beobachtbar ist die Struktur circa von Beginn der 1820er-Jahre (bei Zschokke und Hauff) bis in die 1840er-Jahre (bei Eichendorff, Tieck und Stifter) hinein.

4.5.3 Selbstreflexion als zeitreflexive Funktion 3: Selbstreflexion, Metatextualität, Metaisierung

Um das Profil der selbstreflexiven Zeitstrukturierung, wie sie unseren Zeitraum kennzeichnet, konturieren zu können, sind ebenfalls die Phänomene ›Metatextualität‹ und ›Metaisierung‹ zu berücksichtigen, die notwendig aus einer Kunstrelevantsetzung und dem Strukturprinzip der Entromantisierung resultieren. Vor allem sind es selbstreflexive Texte‍, an denen die reflexive Stufung von Selbstbezüglichkeit und Metareferenz hervortritt und anhand derer sich die These plausibilisieren lässt, dass sich die literarische Zwischenphase selbst als ›Zwischenphase‹ modelliert.

Imagina Unruh richtet die dargestellte Welt nach der Dichotomie ›Kunst/Gesellschaft‹ aus. Der Text spezifiziert die Relevantsetzung von ›Kunst‹ dabei dadurch, dass er romantische Versatzstücke, Strukturelemente, appliziert, und die Heldin aufgrund ihrer Eigenschaft scheitern lässt, modifiziert-romantische, eben postromantische Künstlerin zu sein. Ihr Scheitern ist ein Scheitern an der Gesellschaft (= einer Ordnung im Umbruch), nicht wie in der Romantik ein Scheitern an sich selbst oder der Welt insgesamt. Und sogar dieser Punkt wird vom Text reflexiv angegangen und im Spannungsfeld von romantischer Wirklichkeitspotenzierung (in Perspektive Imaginas und ihren Werken) und Wirklichkeitskonsolidierung (der vom Text selbst dargestellten Welt) verhandelt. Die Textaussage lautet dahingehend: So, wie Kunst konstituiert ist ‍– mit dominantem Hang zur Romantik – und gemessen an den (kulturellen) Rahmenbedingungen, denen folgend sie betrieben wird, kann sie allenfalls unter Abstrichen Geltung haben. ›Kunst‹ gibt es nur in resignativ-reduzierter Rahmung. Der Text transportiert das Wissen um die Dominanz der Goethezeit und zugleich das Selbstverständnis, dem Literatursystem selbst nicht mehr anzugehören. Diese metatextuell-selbstreflexive Anlage bindet er an reflexive Zeitstrukturen im Zeitarrangement (narrative Retrospektive) und an Zeitstrukturen in der Semantisierung von Teilwelten; auch die thematisierten ästhetischen Artefakte sind zeitstrukturell signifikant im Verhältnis mit ihrer extradiegetischen Rahmung (Retardierung, Regressivität) und zeitsemiotisch dreifachcodiert als quasiromantische Texte, als Speichermedium des ›romantischen‹ Kindheitserlebnisses und als Kristall, mit dessen Hilfe über die Zukunft entschieden wird. Auch greift Imagina Unruh die Initiationsgeschichte als Modell auf, welches gegenüber der Goethezeit abgeändert wird. Zu beobachten ist diese Metakommentierung flächendeckend beginnend in den 1820er-Jahren (bei Hauff), über extreme Darstellungen in den 1830ern (bei Eichendorff, Mundt, Ungern-Sternberg), bis in die 1840er-Jahre hinein (bei Auerbach und Stifter). Gleiches wäre für das Liebesmodell zu konstatieren. Kurzum: Das, was Imagina Unruh im Hinblick auf Kunst, die Romantik und die Modellierung eines Lebenslaufs im eigenen System verhandelt, ist folglich ein Problem des übergeordneten Literatursystems der Zwischenphase insgesamt, das angewiesen auf tradierte Modelle ist, zugleich aber die Findung neuer Modelle anstrebt.

Auszumachen ist demnach immer wieder die Projektion des eigenen Selbstverständnisses des Literatursystems in Text- oder Textteilsystemen sowie der Abgleich zwischen applizierten Mustern und ihren Modifikationen. Realisiert ist dies allgemein gesprochen in der dominanten Orientierung an der Vergangenheit, in der Gestalt der fokussierten Gegenwart als Krise, als Zeit der Störung und als Bruch mit Kontinuitätslinien, wie auch in der Potenzialität von ›Zukunft‹ mit genereller Tendenz zur Kappung.

Diese hochkomplexen Problemkonstellationen, die an dieser Stelle unter dem Begriff der ›Metatextualität‹ firmieren, können auch als Phänomene der Metaisierung beschrieben werden. Die Metaisierung wäre demzufolge als eine der drei wesentlichen Komponenten der epochenspezifischen Zeitreflexion zu beschreiben. Definitorisch gefasst bezeichnet sie ein Phänomen, »das im Einziehen einer Metaebene in ein semiotisches System (ein Werk, eine Gattung oder ein Medium) besteht, von der aus Metareferenz erfolgt« (Wolf 2007: 38). Metareferenz (oder besser: Metareflexivität) wiederum kann aufgefasst werden als

Sonderfall der Selbstreflexivität, bei der innerhalb eines semiotischen Systems von einer Metaebene Aussagen […] über dieses System als solches oder über Teilaspekte desselben gemacht oder impliziert werden. Dergleichen Metaaussagen setzen das Bewußtsein von der Natur des Aussageobjektes nicht als natürlich gegebenes, sondern als (Teil) eines semiotischen Systems voraus. (Ebd.)

Nun weisen Metatexte der Zwischenphase mehrheitlich ‍– Ausnahmen sind Tiecks Vogelscheuche, Heines Lyrik oder Gaudys Die Gefangenen ‍– implizit metareferenzielle Vertextungsverfahren auf,

die zwar per se nicht in der erläuterten Weise als Metaaussagen zitierbar sind, aber Elemente enthalten, durch welche indirekt auf Sachverhalte oder Probleme aus dem Bereich der Fiktion bzw. des textuellen Artefaktcharakters aufmerksam gemacht bzw. eine Aussage impliziert wird. (Ebd.: 42; Hervorhebung im Original)

Die implizite Metareferenz »wird durch eine bestimmte (meist deviante oder sonstwie auffällige) Gestaltung des verwendeten inhaltlichen oder medialen Materials nahegelegt, bedarf jedoch zu ihrer Identifizierung als solcher einer Markierung (in der Regel durch explizite Metareferenz).« (Ebd.: 45)

Die Ergebnisse unserer Auseinandersetzung mit der Grundachse der metatextuellen Selbstreflexion ließen sich dahingehend folgendermaßen zusammenführen: Die vorwiegend implizite Metareflexion, die die Zwischenphase (mit Blick auf die ›Tendenzliteratur‹ wie auch die ›stile- und wertekonservative‹ Literatur, die auslaufende goethezeitliche Literatur und die sich konstituierende realistische Literatur) kennzeichnet, bezieht sich auf den Systemwandel am Ausgang der Goethezeit, ist temporalsemantisch attribuiert und wird in reflexiven Zeitstrukturen auf mehreren Textebenen umgesetzt. Getragen wird sie teils von expliziten Metareferenzen (zum Beispiel auf Goethe oder die Romantik), ansonsten aber hauptsächlich durch eine literaturästhetische und -poetologische Quasi-Epistemologie (rund um Merkmalszusammenhänge der Literatur des Sturm und Drang, der Weimarer Klassik, der Romantik, wie auch eines neuen, andersartigen Systems), die nicht explizit vorliegt, aber beim zeitgenössischen Rezipienten vorausgesetzt wird und als Bedeutungsteilkomponente in den Texten selbst enthalten ist.

Vermittels Metareflexion ‍– oder metatextueller Selbstreflexion ‍– formuliert die Zwischenphase dadurch Selbstaussagen über die eigene (System-‍)Konstitution, die zusätzlich zeitsemantisch fundiert sind: Als determiniert durch die tradierten Merkmale und Regularien des Vorgängersystems und gleichzeitig als zukunftsoffen ‍– zukunftsunsicher und -planend.

4.6 Reflexive Zeitstruktur III: Zeitreflexive Metatexte und Selbstreflexion in der Zwischenphase

Die dritte Zeitstruktur der Zwischenphase ergibt sich aus einem spezifischen Profil selbstreflexiven Erzählens. Selbstreflexivität und die Reflexion von Zeit stehen in einem engen, zugleich aber asymmetrischen Verhältnis: Nicht alle Formen selbstreflexiven Erzählens müssen zugleich auch zeitreflexiv funktionalisiert sein, umgekehrt aber steht Zeitreflexion in einem Implikationsverhältnis zu einem Sonderfall von Selbstreflexion. In diesem Fall sprechen wir von metatextuell-selbstreflexiven Texten, die das Nachdenken über Zeit semiotisieren. In anderen Fällen ‍– das heißt bei nicht selbstreflexiven Texten ‍– kann zumindest ein metatextuelles Moment angenommen werden (welches wiederum bei selbstreflexiven Texten besonders deutlich ausgeprägt ist). Diese Form der Selbst- oder Metareferenz ist, so unsere Annahme, stets gegeben; wir haben dies im Basiskonzept aufgezeigt. Metatextuell-selbstreflexive Texte im engeren Sinne standen im Fokus dieses Kapitels. Sie bilden eine untergeordnete Teilmenge zeitreflexiver Metatexte, denen alle Texte des Korpus ‍– mehr oder weniger deutlich – angehören (Abbildung 4.1).

Abbildung 4.1
figure 1

Selbstreflexiv-zeitreflexive Texte bilden eine Teilmenge zeitreflexiver Metatexte

Wie auch die signifikanten Zeitstrukturen I und II setzt sich Zeitstruktur III aus mehreren Teilkomponenten zusammen, die ‍– im Gegensatz zur Zusammensetzung von Zeitstruktur II ‍– gleichwertig nebeneinanderstehen. Allein Komponente 4 blieb in diesem Kapitel unbehandelt, da sie eine Schnittstelle mit Zeitstruktur IV konfiguriert und ihr daher ein eigener Teil dieser Studie gewidmet ist (Abbildung 4.2).

Abbildung 4.2
figure 2

Übersicht über die Komponenten der reflexiven Zeitstruktur III

Der Ausgangspunkt bestand in der Beobachtung, dass die Zwischenphase eine Art doppelgelagerte Metareflexion vornimmt. Ist die Literatur der Romantik durch das Merkmal des Selbstreflexiven gekennzeichnet, in dessen Zuge die Romantik um die Romantik kreist, konzipiert sich die Zwischenphase nicht nur selbst als Zwischenphase ‍– mit einer Charakteristik als Umbruch, Übergang, Interim ‍–, sondern bezieht damit auch die eigene literarhistorische Stellung ein und denkt den Wandel, dem sie als Literatursystem unterworfen ist, mit. Sie kreist um den eigenen Status als Kunstform als auch um literaturgeschichtliche Problemkonstellationen ‍– eine reflexive Doppellagerung. Die Annahme war dabei die, dass dieser metatextuell-selbstreflexive Komplex in der Thematisierung und Relevantsetzung von ›Kunst‹ und in Entromantisierungsstrukturen codiert wird, die wiederum beide zeitreflexiv semantisiert sind.

Aufgabe war es, herauszustellen, wie Selbst- und Zeitreflexion in Texten korreliert sind ‍– unter Berücksichtigung des systemrelevanten Phänomens der Metatextualität. Dazu wurde bei zwei Großbereichen angesetzt. Der erste Bereich – die Relevantsetzung von ›Kunst‹ – gliedert sich in figürliche und artifizielle Konkretisationen: ›Kunst‹ tritt textstrukturell in Form von Künstlerfiguren und thematisierten ästhetischen Artefakten und ›Texten‹ in Erscheinung. Für Künstlersubjekte gilt: Entweder werden Lebensläufe entworfen oder bloß entscheidende Lebensabschnitte präsentiert. Neben Texten mit Fokus auf emphatische Künstler waren wiederum solche zu berücksichtigen, die dilettantische Künstlertypen einbeziehen. Zwar wird zwischen diesen Typen differenziert, nicht aber zwischen den hervorgebrachten Werken und nur bedingt zwischen Lebensdarstellungen entsprechender Figuren. Vielmehr verbindet sie, dass es sich um dezidiert junge Figuren handelt und durch sie Zeitprobleme zur Darstellung gebracht werden. Künstlersubjekte und Figurenkonstellationen sind als zeitreflexive Größen aufgebaut und können daher zeitsemiotisch analysiert werden. Im Zuge dessen wurde deutlich, dass in der Personen-Konzeption, im Verhältnis des Subjekts zu seinem Umfeld, in der Verarbeitung von Wahrnehmung, in poetologischen Ansprüchen und persönlich-individuellen Problemen, wie auch in Beziehungen zu anderen Künstlerfiguren und in der dynamischen Handlungsstruktur Epochenreflexionen und insbesondere Entromantisierungsprozesse verankert werden, die in Beziehung zu der Frage stehen, welche Regularitäten in der erzählten Welt gelten und wie der Text auf seiner Präsentationsebene damit umgeht. Sinnfällig sind dabei Homologierelationen: Eine Figur verhält sich zur dargestellten Welt wie der Text zum Literatursystem; oder: Eine Figurenkonstellation verhält sich zur dargestellten Welt wie das Literatursystem zum unmittelbaren literaturgeschichtlichen Wandel. Zu folgern war daher, dass das Literatursystem nicht nur die Auffassung von Literatur als Kunst übernimmt, sondern im Rahmen singulärer Textsysteme Voraussetzungen, Möglichkeiten und Bedingungen von ›Kunst‹ benennt, problematisiert und im Rahmen einer dynamischen Ereignisstruktur abwägt und erprobt. Texte zeigen damit einen erhöhten Verhandlungsbedarf an und diagnostizieren aber angesichts eines nüchtern-resignativen Resümees letztlich auch ein problematisches Selbstverständnis.

Ästhetische Artefakte in Texten übernehmen die Funktionen einer zeitkristallinen Archivierung und der Wirklichkeitsregulierung: Erstens bilden sie ›Zeit‹ ab, indem sie ›Vergangenheit‹ codieren, sie für eine vergangene Kunstauffassung stehen oder eine vergangene Realität verarbeiten. Sie speichern und archivieren Zeit. Zweitens strahlen sie ›Zeit‹ aber auch kristallin aus. Die Entdeckung und Decodierung von Kunstwerken führt dazu, dass ›Vergangenheit‹ und ›Gegenwart‹ einander gegenübergestellt werden, dass über die Vergangenheit nachgedacht, ihre Relevanz für die gegenwärtige Handlung erkannt wird. Mit ihnen zeigt sich in gebündelter Form der Konflikt der Gegenwart mit der Vergangenheit. Drittens regulieren sie ›Wirklichkeit‹, insofern sie ‍– mit Blick auf die dargestellte Handlung ‍– konfliktauslösend oder -tilgend fungieren und einen entscheidenden Einfluss darauf nehmen, was für die Zukunft möglich und unmöglich ist. Dies alles kanalisieren Texte in der diegetischen Rückkopplung, einer selbstreflexiven Textlogik, gemäß derer Elemente der Textwelt mit solchen der Artefakte äquivalent gesetzt werden und diese Verschaltung nachhaltige Folgen für das Geschehen hat. Eröffnet wird dadurch ein Zwiespalt in poetologischer Hinsicht: Denn einerseits wird ›Kunst‹ die Eigenschaft zugesprochen, auf die ›Wirklichkeit‹ Einfluss nehmen zu können und in ›Kunst‹ ›Wirklichkeit‹ zu potenzieren – ein wesentliches Credo der Romantik. Anderseits erfolgt im Umgang mit dieser Möglichkeit immer auch eine Absage an ›Kunst‹ oder zumindest eine Reduktion ihres Potenzials infolge einer stringenten Wirklichkeitskonsolidierung: Diegetische Rückkopplungseffekte sind möglich und lassen sich entsprechend beobachten – und sie werden zugleich abgewogen und ›Kunst‹ in ihrem Geltungsbereich beschnitten und reduziert.

Der zweite Bereich zur narrativen Selbstreflexion versammelte Beziehungsverhältnisse erzählerischer Klassen. Hier bestätigte sich zum einen die Tendenz zur Wirklichkeitskonsolidierung. Die (oft unbestimmbare) Diffusion von Traum/Kunst/Wahrnehmung und Realität, wie sie für die Romantik prägend gewesen war, sehen Texte der Zwischenphase zwar noch vor, sie verabschieden sich aber zugleich davon und ebnen die potenzierte Auffächerung der Diegese ‒ primär im Sinne einer fantastischen Wirklichkeit ‒ zugunsten einer prosaisch nicht wunderbaren Welt ein. Diese Doppelläufigkeit findet sich formal in einer Struktur von Rahmen- und Binnenerzählung wieder, der ›romantische‹ Code der diegetischen Rückkopplung liegt im Verhältnis der narrativen Ebenen zueinander, die Problemlösungsstrategie (der Zwischenphase) besteht in einer ›Entzauberung von Welt‹, bei der alle transzendenten Elemente trivialisiert, banalisiert, verharmlost und in den (im Endzustand abgeschlossenen) Bereich der Fiktion verbannt werden. Die Reflexion von ›Zeit‹ basiert in diesem Feld augenscheinlich auf einem In-Beziehung-Setzen von ›Vergangenheit‹ und ›Gegenwart‹, das als fragil-brüchig gekennzeichnet ist: Denn die Gegenwart funktioniert signifikant anders als die Vergangenheit, hat diese aber zu überwinden, um einen möglichst harmonischen Zukunftszustand ansteuern zu können. Ähnliches begegnete uns bereits in den reflexiven Zeitstrukturen I und II. Relationen, in die erzählerische Klassen gesetzt werden können, bestehen neben der diegetischen Rückkopplung in der Kontrastierung und Parallelisierung. Diese zielen stets auf die Engführung von Vergangenheitssegmenten mit dem Gegenwartssegment ab, mit dem Unterschied, dass bei der Kontrastierung die Merkmalsunterschiede, bei der Parallelisierung die (strukturellen oder semantischen) Merkmalsgemeinsamkeiten in den Vordergrund rücken. Allerdings erscheint die Kontrastierung als das übergeordnete Verfahren: Auch bei der Parallelisierung heben Texte offenkundig darauf ab, die Gegenwart von der Vergangenheit abzusetzen. Zwar muss diese sich mit ähnlichen Problemen auseinandersetzen wie jene, sie muss aber ob veränderter Ausgangslagen und Handlungsbedingungen zu anderen Ergebnissen kommen.

Und damit gelangen wir zu einem Punkt, der schließlich auch Zeitstruktur IV betrifft: Da oftmals der Rahmen für neue Ergebnisse nicht hinnehmbar ist oder unsicher und morbide, geraten Textlogiken in eine zirkuläre Schleife, bei der die regressive Restauration der Vergangenheit in der Zukunft vollzogen wird, oder sie führen zur Negativierung/Negation von Zukunft, da ein dezidiert neues Modell nicht vorgesehen ist. Die Zukunft ist ein offener und unvorhersehbarer Möglichkeitsraum, der zugleich unsicher ist, über den man nachdenkt und mit ihm auf eine Besserung der Verhältnisse hofft, in den man sich oftmals aber nur resignativ hineinbegibt, wenn er nicht gar gänzlich gekappt oder als ›reinstallierte Vergangenheit‹ realisiert wird (die ihrerseits nicht selten negativ evaluiert wird).

Während also mit den reflexiven Zeitstrukturen I und II die Leitdifferenz ›Alt‹ vs. ›Neu‹/›Jung‹ und ihre Dynamisierung benannt werden, dreht sich die reflexive Zeitstruktur III um die Selbstbezüglichkeit von Texten in doppelter Hinsicht: einmal hinsichtlich ihres Bezuges auf das eigene Textsystem, ein andermal hinsichtlich des Bezugs auf das übergeordnete Literatursystem. Die Teilkomponenten der Relevantsetzung von ›Kunst‹ und der narrativen Selbstreflexion werden überlagert von den Komponenten der ›Entromantisierung‹ und der Metatextualität. Im Strukturbündel sind diese gleichwertig ‒ das heißt als Analysezugänge ebenso wichtig wie letztere. ›Entromantisierung‹ jedoch lässt sich als besonders hervorstechende Funktion sowohl der Kunst-Relevantsetzung als auch der narrativen Selbstreflexion beschreiben; und Metatextualität ist auch losgelöst von Zeitstruktur III zu beobachten (wenngleich sie hier besonders stark ausgeprägt und daher offensichtlicher ist als anderswo).