1 Die ökonomische Perspektive

Menschliche Arbeit ist ein Erkenntnisgegenstand, mit dem sich mehr als eine wissenschaftliche Disziplin beschäftigt. In der Psychologie nimmt die Arbeits- und Organisationspsychologie einen relativ großen Raum ein,Footnote 1 die Soziologie widmet sich dem Thema im Rahmen der Industrie- und ArbeitssoziologieFootnote 2 und innerhalb der Medizin ist die Arbeitsmedizin ein etabliertes und wichtiges Feld. Die Liste ist nicht vollständig und soll lediglich andeuten, dass man menschliche Arbeit aus sehr verschiedenen fachlichen Perspektiven betrachten kann. In diesem Aufsatz geht es um die ökonomische Perspektive auf Arbeit.

Jede disziplinäre Perspektive ist notwendig mit einer Verengung verbunden. Im Verlaufe dieses Aufsatzes wird klar werden, dass sich die ökonomische Sicht auf Arbeit in den letzten Dekaden verändert hat. Sie hat sich erweitert. Zu den mikroökonomischen Analysen, die eine vergleichsweise enge Auslegung des Arbeitsbegriffes benutzen, ist ein erweiterter Blick gekommen, der Arbeit zusätzlich in einem anderen Licht erscheinen lässt. Vorangetrieben wurde diese Entwicklung vor allem durch Erkenntnisse und Fortschritte in der Lebenszufriedenheitsforschung. Trotz dieser erweiterten Sicht bleibt es dabei, dass eine ökonomische Analyse von Arbeit Dinge ausblenden muss, deren Untersuchung anderen Disziplinen vorbehalten bleibt.

Die perspektivische Verengung, die für eine fachgebundene Analyse charakteristisch ist, begründet sich aus dem jeweiligen disziplinären Erkenntnisauftrag. Für die Wirtschaftswissenschaft ist dieser schon früh sehr klar formuliert worden. Die wohl bekannteste Definition dieses Erkenntnisauftrages wurde 1935 von Lional Robbins formuliert:

Economics is the science which studies human behaviour as a relationship between ends and scarce means which have alternative uses.Footnote 3

Wichtigster Bestandteil dieser Definition sind die „scarce means“. Damit ist ganz allgemein die leider nicht zu beseitigende Knappheit der Ressourcen gemeint, die für die menschliche Bedürfnisbefriedigung (im weitesten Sinne) zur Verfügung stehen. Das Knappheitsproblem ist dadurch gekennzeichnet, dass sich auf die vorhandenen Ressourcen stets deutlich mehr Ansprüche richten, als mit den vorhandenen Mengen befriedigt werden können. Das macht es notwendig, Entscheidungen über den Ressourceneinsatz zu treffen, die mit einer Auswahl zwischen alternativen Verwendungen einhergehen. Dieses Knappheitsproblem ist für jede Gesellschaft, unabhängig von ihrem Entwicklungstand, von allerhöchster Bedeutung. Dies wird deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, dass nahezu alle Probleme, mit denen sich moderne Gesellschaften konfrontiert sehen, im Kern Knappheitsprobleme sind. Beispielsweise sind Umweltprobleme ein solches, weil sie dadurch entstehen, dass sich auf die knappen Umweltgüter mehr Ansprüche richten, als sie befriedigen können. Ein Wald kann nicht gleichzeitig ein Hort für naturnahe Biotope sein, dem Artenschutz dienen, die Freizeitbedürfnisse der Städter befriedigen, Holz für den Bau von Möbeln bereitstellen und als Raum für eine Autobahn herhalten. Auch andere, uns sehr vertraute Probleme lassen sich leicht als Knappheitsprobleme identifizieren. Altersarmut, Probleme im Bildungswesen, im Gesundheitswesen oder die mangelhafte Ausstattung der Bundeswehr sind, nicht nur, aber im Kern, nichts anderes als Knappheitsprobleme.

Selbst Themen, bei denen man nicht unmittelbar an die Knappheit von Ressourcen denkt, lassen sich letztlich auf das Knappheitsproblem zurückführen. Ein Beispiel dafür ist die Frage, ob und wie der Bankensektor in Europa reguliert werden soll. Auf den ersten Blick hat das wenig mit der Tatsache zu tun, dass Ressourcen knapp sind. Auf den zweiten Blick schon. Banken und das gesamte Bankensystem spielen eine sehr wichtige Rolle bei der Beantwortung der Frage, wie knappe Kapitalbestände auf die Investitionsmöglichkeiten verteilt werden sollen, die sich einer Gesellschaft bieten. Das ist für sich genommen schon ein Knappheitsproblem, aber Investitionen sind grundsätzlich dazu da, Knappheiten zu entschärfen, indem sie die Produktion der Güter ermöglichen, die besonders knapp sind, d. h. bei denen die Diskrepanz zwischen Verfügbarkeit und Bedarf besonders groß ist. Ein funktionierendes Bankensystem ist eine notwendige Bedingung dafür, dass die Investitionsentscheidungen bestmöglich getroffen werden können. Insofern ist auch die Sicherung des Bankensystems ein Beitrag zur Lösung von Knappheitsproblemen.

Aber was bedeutet es, das Knappheitsproblem zu lösen? Klar ist, dass man es nicht beseitigen kann. Ressourcen sind knapp und sie werden immer knapp bleiben. Man kann Knappheitsprobleme deshalb nicht aus der Welt schaffen, aber man kann sie entspannen. Das geschieht im Wesentlichen durch die Produktion von Gütern und Dienstleistungen. Dafür aber ist es notwendig, knappe Ressourcen einzusetzen. Um zu verstehen, was ökonomisch eine gelungene ‚Lösung‘ eines Knappheitsproblems ist, muss man sich mit einem Begriff befassen, der vor allem in der Wirtschaftswissenschaft verwendet wird und der dort eine sehr große Bedeutung hat: Effizienz. Damit ist, ganz allgemein gesprochen, gemeint, dass man den Einsatz von Ressourcen so gestaltet, dass es nicht zur Verschwendung von Ressourcen kommt. Eine effiziente Verwendung von Ressourcen ist dann gegeben, wenn Verschwendung nicht vorkommt. Allerdings haben Ökonomen dabei eine ganz spezielle Vorstellung davon, was ‚Verschwendung‘ ist. Diese leitet sich aus dem speziellen Effizienzbegriff ab, den Ökonomen verwenden, der ‚Pareto-Effizienz‘. Eine Pareto-effiziente Verwendung von Ressourcen liegt vor, wenn es keine Möglichkeit gibt, durch eine Veränderung des Ressourceneinsatzes mindestens eine Person in ihrer materiellen Versorgung besser zu stellen, ohne dass dabei eine andere Person schlechter gestellt wird. Anders ausgedrückt: Solange es noch möglich ist, durch Reallokation der Ressourcen (Wahl einer anderen Form der Ressourcenverwendung) ein Individuum besser zu stellen ohne irgendjemanden dabei schlechter zu stellen, sind wir noch nicht in einem effizienten Zustand, sondern in einem Zustand, in dem Ressourcen verschwendet werden.Footnote 4

Das Pareto-Kriterium spielt in der Ökonomik eine überragende Rolle, die vor allem darauf zurückzuführen ist, dass das Kriterium den Vorteil hat, dass bei der Entscheidung darüber, wann Verschwendung vorliegt, keine Bewertung einzelner Ressourcenverwendungen vorgenommen werden muss. Das Pareto-Kriterium ist zwar nicht wertfrei, aber es enthält ein Werturteil, das ungemein konsensfähig ist. Warum sollten sich Gesellschaften mit ineffizienten Situationen zufriedengeben? Warum sollten sie darauf verzichten, Menschen besser zu stellen, wenn niemand dafür ein Opfer bringen muss? Pareto-Effizienz als gesellschaftliches Ziel ist ein Minimalkonsens, auf den man sich leicht einigen kann.

Die Produktion von Gütern entspannt das Knappheitsproblem und eine Pareto-effiziente Produktion sorgt dafür, dass die Entspannung maximal wird: Mehr ist bei gegebener Ausstattung mit Ressourcen nicht drin. Deshalb beseitigt auch eine effiziente Produktion nicht das Knappheitsproblem, aber sie ist das Beste, was sich in einer Knappheitssituation erreichen lässt. Insofern ist die Herstellung von Effizienz mit der Lösung des Knappheitsproblems gleichsetzbar, obwohl sie das Problem nicht aus der Welt schafft.

Die ökonomische Perspektive auf Arbeit leitet sich aus der Bedeutung der Produktion als Mittel zur Entspannung von Knappheiten ab. Arbeit wird als eine Ressource betrachtet, die für die Produktion eingesetzt wird. Das bedeutet, dass nicht produktive Arbeit, bei der keinerlei Güter oder Dienstleistungen entstehen, die irgendein Knappheitsproblem lösen helfen, aus ökonomischer Sicht etwas kategorial anderes ist als das, was verkürzt unter ‚Arbeit‘ verstanden wird. Neben der Arbeit subsumiert man alle anderen produktiven Ressourcen üblicherweise unter dem Begriff ‚Kapital‘. Arbeit und Kapital sind die beiden zentralen Produktionsfaktoren, die notwendig sind, um die Produktion von Gütern und Dienstleistungen zu erbringen. Damit ist eine eindeutige Abgrenzung gegenüber allen anderen Möglichkeiten seine Zeit zu verbringen geleistet. Arbeit liegt dann vor, wenn sie in dem Sinne produktiv ist, dass sie die Menge der verfügbaren Güter und Dienstleistungen vergrößert.

Man kann die Charakterisierung von Arbeit natürlich auch aus der Sicht des Individuums vornehmen, das diese Arbeit leistet. Für den einzelnen Menschen ist Arbeit von Freizeit abzugrenzen, wobei Freizeit vereinfacht alles das ist, was keine Arbeit ist. Die Arbeitsangebotsentscheidung eines Menschen, also die Frage wie viel Arbeit jemand anbieten will, wird deshalb als eine ‚Arbeits-Freizeit‘ Entscheidung thematisiert.Footnote 5 Vereinfachend kann man auch von ‚Erwerbsarbeit‘ versus Freizeit sprechen. Wichtig für den ökonomischen Arbeitsbegriff ist, dass er Arbeit nicht durch die Tätigkeit definiert, die ausgeübt wird, sondern ausschließlich dadurch, dass die Arbeit auf die Erzielung von Einnahmen gerichtet ist, also mit Erwerbstätigkeit verbunden ist. Es macht deshalb einen Unterschied, ob jemand eine Tätigkeit unentgeltlich im Ehrenamt ausführt, oder dafür Einkommen bezieht. Ersteres ist eine Form der Freizeitgestaltung, letzteres ist Erwerbstätigkeit und damit ‚Arbeit‘. Diese Art der Abgrenzung findet übrigens auch im Steuerrecht, genauer bei der Einkommensteuer, ihren Niederschlag. Für das Finanzamt ist entscheidend, ob eine Tätigkeit mit der Absicht verbunden ist, Überschüsse zu erzielen – also Gewinne – oder nicht. Wird die Gewinnabsicht nicht unterstellt, spricht das Finanzamt von „Liebhaberei“, was den unangenehmen Effekt hat, dass Aufwendungen, die mit der Tätigkeit im Zusammenhang stehen, nicht steuermindernd von den Einkünften abgezogen werden können. Ein Beispiel: Jemand, der leidenschaftlich gern Socken strickt, kann die Kosten für die Wolle nicht als Betriebsausgabe absetzen, wenn er die Socken an Freunde und Verwandte verschenkt. Anders sieht es aus, wenn damit Erträge auf dem Wochenmarkt erzielt werden und diese die Kosten für die Wolle übersteigen. In diesem Fall wird das Finanzamt zuschlagen und die Gewinne besteuern, weil es nicht länger davon ausgeht, dass es sich um Liebhaberei handelt.

2 Der Wert der Arbeit und die Arbeitsteilung

Unabhängig von der Frage der Besteuerung muss Erwerbsarbeit eine wichtige Bedingung erfüllen. Das Produkt von Arbeit muss einen Wert für andere Menschen besitzen. Der Wert der Arbeit hängt weder von den Mühen ab, die sie abverlangt, noch von der Hingabe, mit der sie ausgeübt wird, sondern vor allem davon, wie wertvoll diese Arbeit für andere ist. Das ist ein Ergebnis der Grenzproduktivitätstheorie, mit der wir uns etwas später genauer befassen werden und die besagt, dass die Produktionsfaktoren mit ihrem Wertgrenzprodukt entlohnt werden. Dieses Wertgrenzprodukt hängt unter anderem von dem Preis ab, zu dem das Produkt der Arbeit verkauft wird und der wiederum ist maßgeblich von der Nachfrage abhängig, das heißt von der Grenzzahlungsbereitschaft der Nachfrager, die nichts anderes ausdrückt, als die ‚Wertschätzung‘ der Konsumenten für das Gut.

Die Grenzproduktivitätstheorie steht im Gegensatz zur Arbeitswertlehre von Karl Marx, die den Wert von Gütern ausschließlich von der in diesen Gütern befindlichen „geronnenen Arbeit“ abhängen sah:

Der Wert einer Ware verhält sich zum Wert jeder anderen Ware wie die zur Produktion der einen notwendige Arbeitszeit zu der für die Produktion der andren notwendigen Arbeitszeit.Footnote 6

Die ökonomische Theoriebildung ist relativ geräuschlos über die Arbeitswertlehre hinweggegangen, weil diese in einem ganz offensichtlichen Widerspruch zu einer Vielzahl empirischer Beobachtungen, nicht zuletzt auf dem Arbeitsmarkt, steht. Arbeit wird in modernen Gesellschaften getauscht und dank der Existenz eines allgemeinen Tauschmittels (Geld) ist dies relativ problemlos möglich. Ein Mensch, der für seine Arbeit entlohnt wird, kann diesen Lohn einsetzen, um dafür Produkte einzutauschen, die aus der Arbeit anderer entstanden sind. Auch wenn wir es gewohnt sind, Güter für Geld einzukaufen, tauschen wir doch in Wahrheit Arbeitsleistung gegen Arbeitsleistung. Genauer gesagt tauschen wir Faktorleistung gegen Faktorleistung, denn für den Produktionsfaktor Kapital gilt letztlich das Gleiche wie für die Arbeit. Wie hoch der Tauschwert der Arbeit ist, hängt deshalb elementar davon ab, wie wichtig die geleistete Arbeit für die potenziellen Tauschpartner ist, welchen Wert das Produkt, das entsteht, für andere Menschen hat und wie knapp dieses Gut ist. So ist beispielsweise Wasser ein Gut, das für alle Menschen einen sehr hohen Wert besitzt. Dennoch verdienen die Mitarbeiter der Wasserwerke nicht übermäßig viel. Der Grund ist, dass erstens Wasser in unseren Breiten nicht sehr knapp ist und zweitens die Arbeit im Wasserwerk von vielen Menschen erledigt werden kann, weil sie nicht besonders anspruchsvoll und speziell ist. Ein Profifußballspieler, der relativ wenig Arbeit investiert (weniger als 4 h pro Tag), aber besonders gut Tore schießen kann, erbringt eine Arbeit, die ebenfalls für sehr viele Menschen einen hohen Wert hat. Das hohe Einkommen des Fußballers resultiert daraus, dass er mit seiner Fähigkeit relativ allein ist. Die von ihm angebotene Arbeit ist deshalb nicht nur wertvoll, sondern auch noch sehr knapp – das treibt den Preis nach oben. Zusammenhänge dieser Art lassen sich durch die Arbeitswerttheorie nicht erklären.

Die Tauschbeziehungen, die wir unterhalten, sind Ausdruck der Tatsache, dass moderne ökonomische Systeme arbeitsteilig organisiert sind. Tauschbeziehungen gehen notwendig mit der Arbeitsteilung einher, aber warum organisieren wir Ökonomien so, dass Tauschbeziehungen notwendig sind? Die wohl berühmteste Begründung für die Arbeitsteilung geht auf Adam Smith zurück. In seinem 1776 veröffentlichten Hauptwerk Wealth of Nations präsentiert er das beeindruckende Beispiel der Produktion von Nadeln.

Ein Arbeiter […] könnte mit dem äußersten Fleiße täglich kaum eine, gewiss aber keine zwanzig Nadeln herstellen.Footnote 7

Smith vergleicht diese Arbeitsleistung dann mit der, die möglich wird, wenn 10 Arbeiter die Herstellung von Nadeln in 14 Arbeitsschritte zerlegen und diese untereinander aufteilen:

Obgleich nun diese Menschen sehr arm und darum nur leidlich mit den nötigen Maschinen versehen waren, so konnten sie doch, wenn sie sich tüchtig daran hielten, in einem Tag zusammen etwa zwölf Pfund Stecknadeln liefern.Footnote 8

12 Pfund entsprechen 48.000 Nadeln. Durch die Aufteilung der Arbeit auf kleine Schritte, die arbeitsteilig bearbeitet werden, explodiert die Produktivität der Arbeit geradezu. Werden Nadeln arbeitsteilig hergestellt, entspannt das die Knappheitssituation 240-mal so stark wie bei einem Verzicht auf die Arbeitsteilung. Dieses sehr anschauliche Beispiel zeigt, welches gewaltige Potenzial in dem Prinzip der Arbeitsteilung steckt. In entwickelten Ökonomien wird dieses Potenzial äußerst intensiv genutzt, und bis heute wird die Arbeitsteilung immer weiter vorangetrieben. Unternehmen spezialisieren sich auf die Produktion weniger Produkte. Sie organisieren dabei die Produktion im Unternehmen arbeitsteilig und gehen Tauschbeziehungen mit anderen Unternehmen ein, um weitere arbeitsteilige Prozessschritte einzuführen. Ein Automobilhersteller teilt sich die Arbeit beispielsweise mit Tausenden von Zulieferern, die ihrerseits ebenfalls mit anderen Unternehmen in arbeitsteiligen Beziehungen stehen. In einem größeren Rahmen findet die Arbeitsteilung zwischen den Sektoren einer Ökonomie statt und vor allem zwischen den Ländern, die in einem freien Handelsverkehr miteinander arbeitsteilig in Beziehung treten. Das Prinzip des komparativen Vorteils, das auf Ricardo zurückgeht, stellt dabei sicher, dass die am Handel beteiligten Länder unabhängig von ihren absoluten Produktionsvor- oder -nachteilen von freiem Handel profitieren.Footnote 9 Die Bedeutung der internationalen Arbeitsteilung und des damit verbundenen internationalen Handels kann man gar nicht hoch genug einschätzen. Der massive Rückgang von Armut im globalen Maßstab ist darauf zurückzuführen, dass durch die Liberalisierung des internationalen Handels und die Senkung der Transportkosten immer mehr Länder in der Lage waren, sich in den Prozess der internationalen Arbeitsteilung zu integrieren. So heißt es im Bericht der Vereinten Nationen zu den Zielen für nachhaltige Entwicklung 2017:

Die internationale Armutsgrenze liegt derzeit bei 1,90 US-Dollar pro Kopf und Tag (Kaufkraftparität von 2011). 2013 lebten circa 767 Millionen Menschen unter der Armutsgrenze, während es 1999 noch 1,7 Milliarden waren. Damit ist der Anteil der extremen Armut zwischen 1999 und 2013 von weltweit 28 auf 11 Prozent gefallen. Die Fortschritte waren in Ost- und Südostasien am größten, wo 1999 noch 35 Prozent der Bevölkerung in extremer Armut lebten, 2013 hingegen 3 Prozent. In Afrika südlich der Sahara lebten trotz sinkender Armutsrate 2013 noch immer 42 Prozent der Bevölkerung in extremer Armut. Tatsächlich lebten in dieser Region fast die Hälfte der ärmsten Menschen weltweit, und zusammen mit Südasien waren es 2013 über 80 Prozent.Footnote 10

Es gibt einen klar erkennbaren Zusammenhang zwischen dem Ausmaß, in dem Regionen in die internationale Arbeitsteilung integriert sind und dem Rückgang der Armut in den entsprechenden Ländern. Südasien und vor allem Afrika südlich der Sahara sind bis heute kaum integriert, während Südostasien inzwischen sehr intensiv eingebunden ist.

Im internationalen Kontext wird deutlich sichtbar, was auch im nationalen Rahmen gilt: Arbeitsteilung und die durch sie ausgelösten Produktivitätsgewinne gehen nur zusammen mit intensiven Tauschbeziehungen, das heißt mit freiem Handel. Das ist im Übrigen der Grund, warum die gegenwärtige Tendenz in vielen Ländern, sich gegen den Freihandel zu richten, um nationale Interessen zu stärken, äußerst bedenklich ist und von vielen Ökonomen mit Skepsis gesehen wird. Intensive Tauschbeziehungen sind auch für die menschliche Arbeit von herausragender Bedeutung. Arbeit ist – bei aller Bedeutung, die Kapital für die Produktion besitzt – das wichtigste Tauschmittel in einer Ökonomie. Ein Indiz dafür ist die Verteilung der Einkommen auf die beiden zentralen Produktionsfaktoren. Die sogenannte Lohnquote, also der Anteil der Einkommen, der auf die Arbeit entfällt, liegt in Deutschland bemerkenswert konstant bei 70 %.

Die Tatsache, dass wir permanent Arbeit gegen Güter tauschen, wird durch den Umstand verdeckt, dass wir das allgemeine Tauschmittel ‚Geld‘ für diese Tauschvorgänge benutzen. Tatsächlich tauschen wir nicht Geld gegen Güter, sondern Faktoreinkommen gegen Güter, also Arbeit und Kapitaleinsatz gegen Güter. Wie viel wir für die Arbeit, die wir leisten und für das Kapital, das wir einsetzen, indem wir unsere Ersparnisse am Kapitalmarkt anlegen, eintauschen können, hängt davon ab, welchen Wert diese Faktoreinsätze haben. Das legt nahe, sich noch einmal etwas differenzierter mit der Frage zu befassen, wie sich der Wert der Arbeit bestimmt.

3 Grenzproduktivitätstheorie

In der Form, in der wir hier die Grenzproduktivitätstheorie präsentieren, kann sie bei weitem nicht alle relevanten Aspekte der Bestimmung der Faktoreinkommen beleuchten. Wir werden uns ein hoch stilisiertes Modell ansehen, das sehr einfach gestrickt ist, aber dennoch erstaunlich viele Zusammenhänge erklären kann. Dennoch muss man sich dabei stets daran erinnern, dass es sich nur um ein einfaches Modell handelt, das nicht beansprucht, die Realität vollständig zu beschreiben.

In unserem Modell existiert ein Unternehmen, in dem Kapital und Arbeit benutzt werden, um ein Gut herzustellen. Volkswirte machen es sich bei der Darstellung von Produktionsprozessen sehr einfach. Sie stellen sich ein Unternehmen als eine schwarze Kiste vor, in die auf der einen Seite die Inputs (Kapital und Arbeit) hineingehen und auf der anderen Seite die fertig produzierten Güter herauskommen. Was in der Kiste passiert, ist für Betriebswirte hochinteressant, aber Volkswirte interessieren sich dafür eher weniger. Sie bilden Produktion einfach durch eine Produktionsfunktion ab: f(l, k) = x. Dabei ist l die eingesetzte Menge Arbeit (labour) und k die eingesetzte Kapitalmenge. Jeder möglichen Kombination von Arbeit und Kapital ordnet die Produktionsfunktion die damit maximal erzeugbare Menge des Outputgutes x zu. Die partielle Ableitung der Produktionsfunktion \(\frac{\partial f(l, k)}{\partial l}\) liefert dann die Information zu folgender Frage: Um wie viel verändert sich die Produktionsmenge x, wenn bei gegebenem Kapitaleinsatz der Arbeitseinsatz marginal gesteigert wird? Diesen Wert nennt man die ‚Grenzproduktivität der Arbeit‘. Die partielle Ableitung nach k liefert entsprechend die ‚Grenzproduktivität des Kapitals‘. Es sei p der Preis, den das Unternehmen für die Güter erzielt, die es herstellt, und es sei w der Preis, der für eine Einheit Arbeit zu entrichten ist, also die Arbeitskosten pro Stunde. Wie wird sich ein Unternehmen, das seinen Gewinn maximieren möchte, verhalten? Wieviel Arbeit und wieviel Kapital wird es einsetzen, bei gegebenem Preis und gegebenem Lohn? Ohne Beweis sei das Ergebnis eines entsprechenden Optimierungskalküls genannt, das zugleich das zentrale Ergebnis der Grenzproduktivitätstheorie ist:

figure a

Auf der linken Seite dieser Gleichung steht die schon bekannte Grenzproduktivität der Arbeit und auf der rechten steht der Lohn ausgedrückt als Reallohn. Die Interpretation dieses Ergebnisses fällt leichter, wenn wir ein einfaches praktisches Beispiel heranziehen. Man stelle sich eine Bäckerei vor, die ein bestimmtes Brot produziert, das sie an Lebensmittelläden verkauft. Für jedes Brot erlöst sie 2 € (also p = 2). Das Unternehmen hat eine vorgegebene und kurzfristig nicht veränderbare Ausstattung an Räumen und Maschinen (Öfen, Knetmaschinen und so weiter). Um zu produzieren, braucht es aber auch Arbeit. Der Preis für eine Stunde Bäckerarbeit sei 20 € (einschließlich aller Steuern und Abgaben). Also w = 20. Der Reallohn ist dann 20/2 = 10. Das Unternehmen muss 10 Brote verkaufen, um eine Stunde Bäckerarbeit bezahlen zu können. Der Reallohn drückt also den Lohn in Einheiten des Gutes aus, das produziert wird. Am Anfang ist die Grenzproduktivität einer Bäckerstunde sehr hoch, das heißt die Produktion steigt bei einer zusätzlichen Stunde kräftig an und liegt deutlich über 10 Broten pro Stunde. Allerdings sinkt die Grenzproduktivität mit zunehmendem Einsatz des Faktors. Es ergeben sich Engpässe an den Maschinen und Öfen, was die zusätzliche Produktionsleistung reduziert. Aber solange die Grenzproduktivität noch über dem Reallohn liegt, lohnt es sich, weitere Bäcker einzustellen. Erst wenn das Grenzprodukt gleich dem Reallohn ist, also die Bedingung erfüllt ist, die Gleichung (*) ausdrückt, lohnt es sich nicht mehr, weiter einzustellen. Das bedeutet, dass im Gewinnmaximum genau so viel Arbeit eingesetzt wird, dass das Grenzprodukt gleich dem Reallohn ist, oder, wenn man (*) mit p multipliziert, das Wertgrenzprodukt gleich dem Lohn ist.

Die Gleichung (*) lässt sich – wie das Beispiel zeigt – relativ leicht herleiten und der Zusammenhang, den sie beschreibt, ist vergleichsweise simpel. Dennoch erklärt diese einfache Theorie eine Menge. Drei Dinge sind offensichtlich für die Lohnhöhe und für den Umfang, in dem Arbeit eingesetzt wird, entscheidend. Erstens die Höhe des Nominallohnes w, zweitens der Outputpreis p und drittens die Grenzproduktivität. Schauen wir uns den Einfluss dieser drei Dinge einmal etwas genauer an.

Der Nominallohn, mit dem Arbeit entlohnt wird, hängt von vielen Faktoren ab, die mit der Grenzproduktivitätstheorie nicht erfasst werden können. Beispielsweise ist es in Deutschland die Regel, dass Nominallöhne kollektiv ausgehandelt werden. Gewerkschaften und Unternehmerverbände einigen sich auf einen Tarifvertrag, der die nominale Bezahlung regelt. Welche Lohnhöhe dabei herauskommt, ist von verschiedenen Dingen abhängig und die Produktivität der Arbeit ist dabei nur ein Aspekt unter vielen. Aber was sagt die Grenzproduktivitätstheorie zu den Auswirkungen einer Lohnänderung? Lohnänderungen sind praktisch gleichzusetzen mit Lohnerhöhungen, denn es ist eine empirische Tatsache, dass Nominallohnsenkungen äußerst selten vorkommen.Footnote 11 Was also passiert, wenn der Nominallohn w steigt, weil die Gewerkschaften erfolgreich verhandelt haben?

In der Gleichung (*) führt ein Anstieg von w ceteris paribus dazu, dass die rechte Seite größer wird. Der Reallohn steigt an, und damit die Bedingung für eine gewinnmaximale Produktionsplanung weiterhin erfüllt ist, muss die linke Seite der Gleichung ebenfalls größer werden, d. h. die Grenzproduktivität der Arbeit muss steigen. Zwischen dem Arbeitseinsatz und der Arbeitsproduktivität besteht ein inverser Zusammenhang. Je mehr Arbeit eingesetzt wird, desto geringer ist die Grenzproduktivität.Footnote 12 Um einen Anstieg der Grenzproduktivität herzustellen, muss deshalb der Einsatz von Arbeit reduziert werden. In der kurzen Frist geht das mit der Einschränkung der Produktion einher, langfristig kann es zu einer Substitution von Arbeit durch Kapital kommen, das heißt menschliche Arbeit wird durch Maschinen ersetzt, weil sich die relativen Preise der Produktionsfaktoren geändert haben und weil eine höhere Kapitalintensität die Grenzproduktivität der Arbeit erhöht. Die Wirkung eines Nominallohnanstiegs ist deshalb in der Tendenz klar. Er führt zu einem geringeren Einsatz von Arbeit.

Dieser Zusammenhang wird oft bestritten, weil er darauf hinausläuft, dass Lohnerhöhungen nicht uneingeschränkt von Vorteil für die Anbieter von Arbeit sind. Es wäre auch vollkommen übertrieben, wenn allein auf der Grundlage der hier präsentierten einfachen Theorie der Schluss gezogen würde, dass Nominallohnänderungen stets mit einem Anstieg der Arbeitslosigkeit einhergingen. Das wäre ganz sicher unzulässig. Auf der anderen Seite wäre es höchst fahrlässig, die Zusammenhänge zwischen Nominallohn und Beschäftigung, die die Grenzproduktivitätstheorie aufdeckt, gänzlich außer Acht zu lassen. Mitunter wird gegen diese Argumentation eingewendet, dass die Beschäftigungseffekte einer Nominallohnerhöhung durchaus auch positiv sein könnten, weil die höheren Nominallöhne auch zu einer höheren Nachfrage und deshalb zu mehr Produktion führen würden. Dieses Argument ist allerdings wenig überzeugend, denn höhere Löhne gehen zu Lasten anderer ökonomischer Größen wie Gewinn oder Investitionen. Ein Euro, der nicht als Lohn ausgezahlt wird, geht deshalb nicht verloren, sondern wird auf andere Art und Weise nachfragewirksam. Die gesamtwirtschaftliche Nachfrage lässt sich nicht einfach durch eine Lohnerhöhung steigern.

Der Reallohn, der für die Arbeitsnachfrage der Unternehmen eine wichtige Rolle spielt, wird neben dem Nominallohn auch durch den Outputpreis p bestimmt. Je höher dieser Preis ist, umso geringer ist bei gegebenem Nominallohn der Reallohn. In dem Beispiel mit der Bäckerei lässt sich das leicht veranschaulichen. Steigt der Preis, für den ein Brot verkauft werden kann, von 2 € auf 2,50 €, sinkt der Reallohn von 10 Broten pro Bäckerstunde auf 8 Brote. Ein steigender Preis wird deshalb tendenziell zu einer höheren Produktion führen, weil es sich nunmehr lohnt, weitere Bäckerstunden am Arbeitsmarkt nachzufragen. Dieser Zusammenhang macht auf einen wichtigen Wirkmechanismus marktwirtschaftlicher Systeme aufmerksam. Steigende Preise signalisieren in einer Marktwirtschaft, dass die relative Knappheit des betreffenden Gutes gestiegen ist. Beispielsweise weil die Nachfrage nach dem Gut (warum auch immer) ansteigt. Dieses Preissignal führt dazu, dass die Unternehmen, die das betreffende Gut produzieren, einen Anreiz erhalten, die Produktion auszuweiten, was wiederum die Knappheit des Gutes lindert. Preissignale steuern auf diese Weise die Produktion sehr effizient. Alle Akteure folgen ihren eigenen Interessen. Konsumenten kaufen die Güter, die ihnen nützlich sind, und die Produzenten versuchen, ihren Gewinn zu maximieren. Das Preissystem sorgt dafür, dass diese Interessen in Anreize umgesetzt werden, die dazu führen, dass die Interessen aller bestmöglich erfüllt werden und eine effiziente Produktion zustande kommt, das heißt eine Produktion, die dort Knappheiten entspannt, wo die Knappheitssituation besonders ausgeprägt ist.

Ein sinkender Preis für das Outputgut hat den gegenteiligen Effekt. Er führt dazu, dass der Reallohn steigt, obwohl die Nominallöhne konstant sind. Arbeit wird teurer, obwohl sich nichts an den Löhnen ändert. Die Effekte, die das auslöst, sind die gleichen wie die eines Nominallohnanstiegs. Es wird weniger Arbeit eingesetzt, Produktion und Beschäftigung gehen zurück. Der Unterschied zwischen Nominallohnerhöhung und Preissenkung besteht darin, dass die Preissenkung die realen Kosten beider Produktionsfaktoren erhöht, während die Nominallohnerhöhung ausschließlich zu einem Anstieg der Reallöhne aber nicht der realen Kapitalkosten führt. Insofern sind die Substitutionseffekte, die von einer Nominallohnerhöhung ausgehen, deutlich ausgeprägter als die, die aus einer Preissenkung folgen.

Welche Effekte Preissenkungen haben, lässt sich an praktischen Beispielen relativ gut erläutern. Wie bereits erwähnt sind im Zuge der Globalisierung immer mehr Länder in die internationale Arbeitsteilung integriert worden. In der Tendenz handelt es sich dabei um Länder, in denen Arbeit reichlich vorhanden ist und die Löhne niedrig sind. Für solche Länder, die noch am Anfang ihrer wirtschaftlichen Entwicklung stehen, ist es eine vernünftige Strategie, Produkte anzubieten, für deren Herstellung vor allem einfache Arbeit benötigt wird. Solche Produkte können dann am Weltmarkt zu vergleichsweise niedrigen Preisen angeboten werden. Es ist der komparative Vorteil gering entwickelter Länder, solche Angebote machen zu können. Das führt dazu, dass die Preise für arbeitsintensiv hergestellte Produkte fallen. Für die entwickelten Länder, die deutlich höhere Lohnniveaus aufweisen, bedeutet das, dass die Reallöhne steigen, weil die Preise, zu denen sie ihre arbeitsintensiv hergestellten Produkte verkaufen können, sinken. Das führt dazu, dass sich die Produktion dieser Güter immer mehr in die Länder verlagert, in denen die Löhne niedrig sind. Gut zu beobachten war dieser Prozess beispielsweise in der deutschen Textilindustrie, die einmal eine bedeutende Rolle gespielt hat, inzwischen aber kaum noch in Deutschland vertreten ist.

Für die Anbieter einfacher Arbeit in den entwickelten Ländern bedeutet die Globalisierung, dass sie kaum noch Beschäftigung in dem Sektor der Wirtschaft finden, in dem handelbare Güter hergestellt werden, also Güter, die in internationalem Wettbewerb stehen. Das ist einer der Gründe dafür, warum gering qualifizierte Menschen insbesondere in Deutschland massive Probleme haben, Beschäftigung auf dem ersten Arbeitsmarkt zu finden. Gemessen an ihrer geringen Produktivität sind die Reallöhne, die für ihre Arbeit zu entrichten sind, schlicht zu hoch. Das Beschäftigungsproblem dieser Gruppe von Menschen wird noch dadurch verschärft, dass auch der Sektor der nicht handelbaren Güter keine ausreichenden Ausweichmöglichkeiten bietet. Die Nominallöhne in Deutschland schließen die Sozialabgaben ein, die in vollem Umfang (annähernd 40 % vom Bruttoarbeitsentgelt) vom ersten Euro an zu entrichten sind. Das macht einfache Arbeit auch dort sehr teuer, wo sie vor dem internationalen Wettbewerb und den dadurch niedrigen Outputpreisen geschützt ist. Die Folge ist eine hohe Arbeitslosigkeit unter gering qualifizierten Menschen.Footnote 13

Die Arbeitsmarktreformen, die 2005 die Umstellung auf das ALG II vorgenommen haben, führten in Deutschland zu einer Flexibilisierung des Arbeitsmarktes, mit der ein massiver Abbau der Arbeitslosigkeit erreicht werden konnte. Die Gruppe der gering qualifizierten Menschen hat von diesem Aufschwung zwar auch profitieren können, dennoch stellt sie auch heute noch den mit Abstand größten Teil der immer noch zu vielen Langzeitarbeitslosen.Footnote 14

Die letzte Größe, die in der Grenzproduktivitätstheorie eine wichtige Rolle spielt, ist die Grenzproduktivität der Arbeit. Wie wichtig sie ist, zeigt sich, wenn man die Gleichung (*) mit p multipliziert. Dann erhält man \(w=p\frac{\partial f(l, k)}{\partial l}\). Je höher ceteris paribus das Grenzprodukt der Arbeit, umso höher fallen die Nominallöhne aus. Mit welcher Produktivität Arbeit in den Produktionsprozess eingeht, hängt wiederum von verschiedenen Faktoren ab. Eine wichtige Komponente ist dabei die Kapitalausstattung, mit der Arbeit kombiniert wird. Dabei spielen die Kapitalmenge und die technische Qualität der Kapitalausstattung eine Rolle. Technischer Fortschritt hat dabei zwei Effekte. Einerseits macht er die eingesetzte Arbeit produktiver und sorgt für höhere Nominal- und damit auch Reallöhne. Andererseits kann er aber auch dazu führen, dass sich die relativen Preise für die Produktionsfaktoren zu Ungunsten der Arbeit verändern, sodass es zu einer Substitution von Arbeit durch Kapital kommt. Wie eine solche Substitution zu bewerten ist, hängt davon ab, in welchem Umfeld sie stattfindet. Bei hoher Auslastung der gesamtwirtschaftlichen Faktorausstattung (also bei Vollbeschäftigung) hat sie durchaus positive Folgen, denn sie bildet die Voraussetzung dafür, dass bei hoher Beschäftigung hohe Löhne möglich sind. Technischer Fortschritt, der zu einer entsprechenden Anhebung der Arbeitsproduktivität führt, ist deshalb nicht notwendig mit einem Anstieg der Arbeitslosigkeit gleichzusetzen, sondern kann durchaus mit steigender Beschäftigung und steigenden Lohneinkommen einhergehen.

Nehmen wir die beiden letzten Punkte zusammen, so ergibt sich daraus ein Bild, das eine plausible Erklärung dafür liefert, warum wir in den letzten beiden Jahrzehnten ein Phänomen beobachten, das mit dem Begriff „Lohnspreizung“ bezeichnet wird. Innerhalb der Gruppe der Bezieher von Lohneinkommen kommt es zu einer wachsenden Ungleichheit, weil die Löhne der gut qualifizierten Beschäftigten stark steigen, die der gering qualifizierten aber nicht.Footnote 15 Zwar ist seit etwa 2011 festzustellen, dass die Lohnspreizung nicht weiter zunimmt, aber der Befund ist seitdem, dass die Lohnspreizung bei insgesamt steigenden Reallöhnen auf hohem Niveau bestehen bleibt.Footnote 16

4 Wie wir mit Arbeit umgehen sollten

Nach allem was bisher gesagt worden ist, stellt sich die Frage, wie man aus ökonomischer Sicht mit Arbeit umgehen sollte. Zunächst einmal sollten wir Arbeit stets dort einsetzen, wo sie die höchste Produktivität entfaltet, das heißt dort, wo sie das höchste Wertgrenzprodukt liefert. Geschieht dies, ist die Arbeit, die ein Mensch einsetzt, am wertvollsten, gemessen an dem Vorteil, den diese Arbeit für andere Menschen hervorbringt. Zugleich führt Arbeit dann, wenn sie so eingesetzt wird, dazu, dass sie die Knappheitssituation bestmöglich entspannt. Kurz gesagt, wenn Arbeit dort eingesetzt wird, wo sie die höchste Produktivität entfaltet, wird der Produktionsfaktor Arbeit effizient eingesetzt.

Diejenigen, die die Arbeit verrichten und ihre Arbeitskraft am Markt anbieten, sollten ihrerseits versuchen, dort zu arbeiten, wo sie den höchsten Lohn erhalten. Praktischerweise ist das genau dort der Fall, wo die Produktivität der Arbeit am höchsten ist. Das ist deshalb so praktisch, weil damit der Lohn für beide Marktseiten ein Signal ist, an dem sie sich orientieren können. Dort, wo die Produktivität am höchsten ist, werden die höchsten Löhne ausgerufen und die Arbeitsanbieter orientieren sich an den für sie erreichbaren Löhnen und wandern dorthin, wo der Lohn (und damit die Arbeitsproduktivität) hoch ist. Natürlich hängt die Frage, wer wo arbeitet, in der Praxis von vielen Dingen ab. Zum Beispiel von der Qualität der Arbeit, die jemand anzubieten in der Lage ist. Gerade sehr produktive Beschäftigungen setzen eine sehr gute Ausstattung mit Humankapital voraus. Aber für eine gegebene Verteilung der Talente und Fertigkeiten bleibt es dabei, dass tendenziell die Anbieter von Arbeit dorthin drängen, wo der für sie erreichbare Lohn am höchsten ist, und dass die gebotenen Löhne von der Produktivität der zu verrichtenden Arbeit abhängen. Deshalb funktioniert ein Arbeitsmarkt, der die Lohnhöhe als den Preis für Arbeit nimmt und als Steuerungsinstrument benutzt, sehr effizient, weil er die Arbeit genau dorthin lenkt, wo die Produktivität am höchsten ist.

Der geneigte Leser wird an dieser Stelle vielleicht einwenden, dass diese Sicht der Dinge doch eine ganze Reihe von Aspekten vernachlässigt, die sehr wichtig sind. Beispielsweise sind wir es gewohnt, Löhne als ein Instrument der Verteilungspolitik zu betrachten, weil ihre Höhe doch maßgeblich dafür ist, wer wieviel vom Gesamteinkommen einer Ökonomie bekommt. Und wenn es um Verteilungsfragen geht, dann stellt sich natürlich auch die Frage nach der Gerechtigkeit. Sollten Löhne nicht ‚gerecht‘ sein?!

Das sind naheliegende Einwände und es greift zu kurz, wenn sich Ökonomen an dieser Stelle einfach darauf zurückziehen, dass ‚Gerechtigkeitsfragen‘ nicht in ihren Zuständigkeitsbereich fallen. Das ist zwar richtig, reicht als Gegenargument allein aber nicht aus. Um zu verstehen, warum sich Ökonomen vor allem der Frage der allokativen Effizienz widmen (also der Frage, wie man die Produktionsfaktoren so einsetzen kann, dass ein Pareto-effizienter Zustand herauskommt), muss man den folgenden ‚Kunstgriff‘ erläutern. Ökonomen trennen die Frage der Einkommensverteilung gedanklich von der Effizienzfrage. Man kann sich das folgendermaßen vorstellen. Bei der Gestaltung einer effizienten Produktion geht es darum, dass der ‚Kuchen‘, den Kapital und Arbeit durch ihr Zusammenwirken entstehen lassen, möglichst groß wird. Ein zu kleiner Kuchen kann nicht Pareto-effizient sein, denn wenn es gelingt, ihn größer zu machen, kann man den Zugewinn benutzen, um einzelne Gesellschaftsmitglieder besser zu stellen, ohne dass jemand schlechter gestellt werden müsste. Bei der Einkommensverteilung geht es nicht mehr um die Größe des Kuchens, sondern darum, wie ein gegebener Kuchen auf die Mitglieder der Gesellschaft verteilt wird. Diese Trennung von Effizienz und Verteilung ist deshalb ein Kunstgriff, weil tatsächlich verteilungspolitische Maßnahmen Einfluss auf die Kuchengröße haben können. Beispielsweise kann Besteuerung dazu führen, dass Arbeitsanreize verloren gehen und das zu Lasten der Produktivität geht. Dennoch ist der Kunstgriff sinnvoll, denn er erlaubt es, zumindest gedanklich die beiden Dinge auseinanderzuhalten. Das ist deshalb notwendig, weil die Verteilungsfrage eben untrennbar auch mit Gerechtigkeitsfragen verbunden ist, die sich bei der Effizienzfrage in dieser Form nicht stellen. Die Frage nach der gerechten Verteilung ist aber tatsächlich wissenschaftlich nicht zu beantworten, weil sie notwendig den Rückgriff auf Werturteile voraussetzt, die sich wissenschaftlich nicht begründen lassen (sonst wären es keine Werturteile).

Die praktische Seite des Kunstgriffes sieht wie folgt aus. Der Markt erzeugt eine Primärverteilung der Einkommen und die orientiert sich an der Produktivität der Produktionsfaktoren. Bei dieser Primärverteilung spielen Gerechtigkeitsüberlegungen keine Rolle. Erst danach greift der Staat ein, korrigiert die Primärverteilung durch ein Steuer- und Transfersystem und stellt die Sekundärverteilung her, die letztlich darüber entscheidet, wer wie viel Einkommen bekommt. Bei der Gestaltung des Steuer- und Transfersystems spielen Gerechtigkeitsfragen natürlich eine sehr große Rolle. Deshalb ist die Entscheidung darüber, wie dieses System zu gestalten ist, eine zutiefst politische Entscheidung. Wissenschaftler können dabei beraten, indem sie aufzeigen, welche Wirkungen von Umverteilungsmaßnahmen ausgehen können. Die ökonomische Beratung besteht vor allem darin, aufzuzeigen, welche Effizienzkosten Umverteilung hat, das heißt wie sie den Kuchen verkleinert. Diese Art der Beratung zielt darauf ab, den Politikern zu helfen, die als gerecht empfundene Verteilung unter möglichst geringen Kosten herzustellen. Was als gerecht zu empfinden ist, muss gesellschaftlich ausgehandelt werden und das Ergebnis dieses Prozesses kann immer nur ein Kompromiss sein.

Bei allem, was bis hierher über die Grenzproduktivitätstheorie gesagt wurde, muss natürlich eingeräumt werden, dass es sich dabei um eine abstrakte Theorie handelt, die von vielen wichtigen Dinge abstrahiert. Beispielsweise hängt die Primärverteilung nicht nur von der Arbeitsproduktivität ab. In kollektiven Lohnverhandlungen versuchen Gewerkschaften möglichst hohe Löhne für ihre Mitglieder zu verhandeln und wie erfolgreich sie dabei sind, hängt davon ab, wie die Verhandlungsmacht bei den Tarifverhandlungen verteilt ist. In Zeiten hoher Arbeitslosigkeit sind Gewerkschaften weit weniger mächtig als in Zeiten, in denen die Unternehmen verzweifelt Arbeitskräfte suchen. Trotz dieses hohen Abstraktionsgrades ist das Modell sehr hilfreich, weil es zu einem Verständnis vieler Zusammenhänge führt, die sich leicht in der ökonomischen Realität wiederfinden lassen und die hohe Relevanz besitzen.

5 Arbeitsleid und bedingungsloses Grundeinkommen

Einen Punkt haben wir bisher nicht beleuchtet, der für die Sicht auf Arbeit bedeutsam ist. Ökonomen gehen davon aus, dass Arbeit keinen Spaß macht. Sie sprechen vom „Arbeitsleid“, das Menschen auf sich nehmen, wenn sie arbeiten gehen. Wir werden im abschließenden Kapitel diese Annahme relativieren, denn tatsächlich hat Arbeit nicht nur leidvolle Erfahrungen zur Folge, sondern sie hat auch positive Aspekte – aber dazu später. Knabe et aliiFootnote 17 haben sich der Frage, wie das Arbeitsleid zu bewerten ist, empirisch genähert. Mit Hilfe der sogenannten Day Reconstruction Method haben sie Menschen danach befragt, wie sie die einzelnen Aktivitäten des vorangegangenen Tages affektiv bewerten. Dazu mussten die Teilnehmer jede einzelne Aktivität benennen und außerdem angeben, in welchem Ausmaß sie eine Reihe von negativen und positiven Affekten während der Aktivität empfunden haben. Es zeigte sich, dass alle Aktivitäten, die mit Arbeit zusammenhingen (beginnend mit der morgendlichen Fahrt zur Arbeit), einen negativen Nettoaffekt aufwiesen, also als etwas empfunden wurden, das stärker negative als positive Gefühle erzeugt.

Auf einer affektiven Ebene verursacht Erwerbsarbeit offenbar tatsächlich vor allem so etwas wie Arbeitsleid. Das steht nicht im Widerspruch dazu, dass Arbeit für den einzelnen Menschen durchaus auch einen Wert ‚an sich‘ haben kann, das heißt über die reine Funktion der Einkommenserzielung hinaus wertvoll ist. Wir werden auf diesen Punkt noch zurückkommen. Die Tatsache, dass Menschen das Arbeitsleid ertragen, ist nur vordergründig allein dadurch erklärt, dass sie dafür eine Kompensation in Form eines Lohnes bekommen. Die vollständige Erklärung muss auf die Arbeitsteilung abstellen, die nur funktionieren kann, wenn es eine Art impliziten Vertrag zwischen den Menschen gibt, die arbeiten. Jeder erträgt das Arbeitsleid, das mit seiner hoch spezialisierten Arbeitsleistung verbunden ist, und vertraut darauf, dass andere es ebenso halten und ihrerseits Arbeitsleid ertragen, damit alle Güter hergestellt werden können, die die Menschen konsumieren möchten. Arbeitsteilung ist ein Gemeinschaftsprojekt, das nur gelingt, wenn sich alle an das gegenseitige Versprechen halten, einen Beitrag in Form der Übernahme von Arbeitsleid zu leisten. Das schließt nicht aus, dass es eine weitere Übereinkunft geben kann, die vorsieht, dass denjenigen, die aufgrund bestimmter Bedingungen nicht am allgemeinen arbeitsteiligen Produktionsprozess teilnehmen können, dennoch ein Teil der Produktion zusteht. Das ist das Prinzip eines solidarischen Sozialstaates. Er besteht im Kern aus einer Versicherung, die jedem Mitglied zusichert, dass unter Bedingungen, die Arbeiten nicht zulassen, dennoch legitime Ansprüche auf die gesellschaftliche Produktion bestehen.

Wie ist in diesem Zusammenhang die Idee zu bewerten, dass man diesen Sozialstaat dahingehend reformieren solle, dass es ein bedingungsloses Grundeinkommen geben soll? Zu dieser Idee ist vieles geschrieben worden.Footnote 18 Die Befürworter betonen, dass es sich um ein gerechtes, einfaches und durchaus finanzierbares Konzept handelt, die Gegner halten dem entgegen, dass es entweder nicht zu finanzieren ist oder wirkungslos bleibt. Diese Diskussion lenkt von einer Frage ab, die von sehr grundsätzlicher Bedeutung ist: Lässt sich ein bedingungsloses Grundeinkommen ethisch rechtfertigen? Man kann sich leicht überlegen, dass ein solches Grundeinkommen, wenn es die gesamte Sozialversicherungslast mit abdecken soll, damit es wirksam ist, bei etwa 1500 € monatlich liegen müsste. Ein solches Einkommen würde es Menschen erlauben, sich aus der gesellschaftlichen Arbeitsteilung in dem Sinne zu verabschieden, dass sie selbst keinerlei Arbeitsleid auf sich nehmen, dessen ungeachtet aber die Früchte der Arbeit anderer genießen. Der entscheidende Punkt ist dabei die Bedingungslosigkeit. Jeder Mensch, der gute Gründe hat nicht zu arbeiten (weil er krank, alt, in Ausbildung und so weiter ist), wird durch den bereits existierenden Sozialstaat versorgt. Der Übergang zu einem bedingungslosen Grundeinkommen würde deshalb nur diejenigen neu betreffen, die keinen Grund haben, nicht zu arbeiten. Diese Menschen könnten einen Beitrag in der arbeitsteilig organisierten Gesellschaft leisten, nehmen sich aber das Recht heraus, darauf zu verzichten.

Man kann durchaus der Meinung sein, dass dies eine ethisch problematische Entscheidung ist. Nicht nur, weil man die privaten Güter, die man konsumiert, dann gegen die Arbeit anderer Menschen eintauscht, die dazu gezwungen werden, diese Entscheidung zu unterstützen (weil sie Steuern zahlen müssen). Es kommt hinzu, dass auch die öffentlichen Güter, die konsumiert werden (von der Landesverteidigung bis zur Infrastruktur, den Museen und Spielplätzen), entstehen, ohne dass die Bezieher eines bedingungslosen Grundeinkommens dazu einen Beitrag leisten, denn sie zahlen netto keine Steuern. Man kann es auch so ausdrücken: Die arbeitsfähigen Bezieher eines Grundeinkommens vergrößern die Knappheit der Ressourcen, denn sie nehmen diese in Anspruch, aber sie tragen nicht dazu bei, diese Knappheit zu entspannen, weil sie auf die dafür notwendigen produktiven Arbeitsleistungen verzichten.

6 Arbeit schafft nicht nur Einkommen

Im vorangegangenen Kapitel wurde darauf verwiesen, dass Arbeit tatsächlich mit einem affektiv empfundenen Arbeitsleid einhergeht. Dieser empirische Befund ist relativ eindeutig. Ein anderer Befund ist allerdings ebenso klar. Der Verlust der Erwerbsarbeit führt dazu, dass die Lebenszufriedenheit massiv zurückgeht.Footnote 19 Und es ist auch klar, dass das nicht allein deshalb der Fall ist, weil dieser Verlust mit einem Rückgang des Einkommens verbunden ist. Beschäftigt zu sein bedeutet eben nicht nur, dass man das (affektive) Arbeitsleid auf sich nehmen muss, es bedeutet auch, dass man soziales Kapital bildet, soziale Anerkennung erfährt und sozial integriert ist. Alles das hat einen ‚Eigenwert‘, der verloren geht, wenn man arbeitslos wird.

Eine wichtige Rolle dürften dabei soziale Normen spielen, die zu erfüllen zur Lebenszufriedenheit beiträgt.Footnote 20 So reagieren beispielsweise Männer und Frauen unterschiedlich stark auf eigene Arbeitslosigkeit. Sie reduziert die Lebenszufriedenheit von Männern stärker als die von Frauen. Männer und Frauen reagieren auch unterschiedlich auf die Arbeitslosigkeit des Partners. Arbeitslose Frauen reagieren positiv auf die Beschäftigung ihrer Männer, aber arbeitslose Männer reagieren negativ, wenn ihre Frauen Arbeit finden. Die Vermutung liegt nahe, dass dies mit den sozialen Rollen der Geschlechter zusammenhängt. Anders wäre es kaum zu erklären, dass arbeitslose Männer mit beschäftigten Frauen die geringste Lebenszufriedenheit aufweisen. Auf der anderen Seite ist es gerade diese Gruppe, der es im Hinblick auf die affektive Zufriedenheit am besten geht.Footnote 21 Diese Männer sind mit ihrem Leben sehr unzufrieden, kommen aber am besten von allen durch den Tag!