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Negative Diagnostik. Perspektiven einer Antithetik des gesellschaftlichen Wandels

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Zusammenfassung

Zeit- und gegenwartsdiagnostische Beschreibungen sozialer Prozesse proklamieren generalisierende, hoch abstrakte sowie bisweilen pauschalisierende gesellschaftliche Entwicklungen. Aufgrund ihres Verallgemeinerungsgrades einerseits und ihrer über fachwissenschaftliche Grenzen hinausgehenden Zielgruppe geraten sie schnell in Verruf, eher feuilletonistische Soziologisierungen anstelle fundierter Analysen zu bieten. Gleichwohl ist ihre Wirkung infolge hoher massenmedialer Aufmerksamkeit groß. Da die Interaktion zwischen Wissenschaft und Gesellschaft im Fall der Zeit- und Gegenwartsdiagnostik selbst Aufschluss über die Entwicklung gesellschaftlichen Wissens bietet, lohnt es sich, diese weit ausgreifenden Prozessdiagnosen im Hinblick auf die ihnen zuteilwerdende Kritik zu untersuchen. Wenn man sich mit der Antithetik soziologischer Prozessdiagnosen befasst, sind nicht nur Einsichten bezüglich der Konstruktion publikumswirksamer Argumente zu erwarten, sondern vor allem auch unerwartete Einsichten über die Prozesstheorie selbst.

In die Ecke,

Besen, Besen!

Seids gewesen.

Denn als Geister

ruft euch nur zu diesem Zwecke,

erst hervor der alte Meister.

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Notes

  1. 1.

    Auch in Joachim Güntners Nachruf auf Ulrich Beck in der Neuen Zürcher Zeitung vom 4.1.2015 findet sich die Feststellung, dass Beck mit seinem Buch Risikogesellschaft eine „Soziologie des Zauberlehrlings“ respektive des Golems geschaffen habe, in der die Geschichte der Technik erzählt werde, die ein ungeahntes Eigenleben entwickelt und kaum mehr in den Griff zu bekommen ist. Quelle: http://www.nzz.ch/feuilleton/soziologe-ulrich-beck-verstorben-1.18454060. (Zugegriffen: 30.10.2015).

  2. 2.

    Es gibt auch andere Formen der Beschreibung sozialer Prozesse. Die Theorie der langen Zyklen technologischer Entwicklung nach Nikolai D. Kondratiew (1926) und ihre Erweiterung durch Leo A. Nefiodow (1995) beschreibt beispielsweise einen technologischen und infolge auch einen ökonomischen sowie sozialen Wandel in Intervallen von etwa 60 Jahren. Solche bereits im Alten Testament dokumentierte Modelle mehrjähriger Konjunkturzyklen, die Phasen der Prosperität und Phasen der Rezession unterscheiden, finden bei der soziologischen Beschreibung sozialer Prozesse bemerkenswerterweise kaum Verwendung.

  3. 3.

    Das hier verwendete Konzept entspricht der Antithetik in Immanuel Kants (1974) Antinomien, greift aber nicht so weit aus. Bei soziologischer Prozessdiagnostik steht zunächst nur die erste Kantsche Antinomie im Mittelpunkt, deren Thesis auf der Feststellung beruht, dass die Welt einen Anfang in der Zeit und Grenzen im Raum habe, während die Antithesis behauptet, dass die Welt anfangslos und unendlich sei (vgl. Irrlitz 2010, S. 247 ff.).

  4. 4.

    Am Rande sei darauf hingewiesen, dass diese Antithetik auf das ganze Spektrum der Zeit- und Gegenwartsdiagnostik angewendet werden kann. Zu diesem gehören an erster Stelle auch die Gesellschaftsanalysen, zu denen man sowohl konkurrierende Entwürfe suchen kann, als auch die zu ihrer Begründung herangezogenen ‚Pappkameraden‘ vorgängiger Gesellschaftskonstruktionen. An zweiter Stelle lassen sich auch Generationsgestalten entsprechend befragen (zur soziologischen Zeitdiagnostik vgl. Dimbath 2016). Man bekommt es dann zum Beispiel mit der Frage zu tun, ob die in den 1970er und 1980er Jahren Heranwachsenden adäquat als Generation X, als Generation Golf oder doch eher als Generation Reform beschrieben werden können.

  5. 5.

    Erweitern lässt sich dies um den Bedeutungsaspekt durch das Präfix ‚Re-‘ sofern es im Sinne von ‚Rück(wärts)-‘ verwendet wird sowie um ‚Contra-‘, ‚Non-‘ oder ‚Pseudo-‘. In der Praxis wird dann mitunter die Herkunft lang etablierter Fremdwörter vergessen, was zu sprachgeschichtlich unpassenden kompositorischen Kombinationen führt. So ist in Verbindung mit dem aus dem Lateinischen stammenden Wort ‚Individualisierung‘ die Kombination mit einer deutschsprachigen Vorsilbe als ‚Entindividualisierung‘ ebenso möglich, wie die passendere Kombination mit der entsprechenden lateinischen Vorsilbe zu ‚Deindividualisierung‘. Gebraucht man für die Komposition eine geeignete griechische Vorsilbe, gelangt man zu dem Begriff einer ‚Paraindividualisierung‘. Mitunter können solche Neologismen dann eigenständige Bedeutungen entwickeln.

  6. 6.

    Der organisierte Skeptizismus, ein Begriff von Robert K. Merton (1985), ist nicht nur eine für jede moderne Wissenschaft konstitutive Institution, sondern dürfte auch Grund dafür sein, dass die Wissenschaft zum primus inter pares der gesellschaftlichen Wissensformen avancieren konnte.

  7. 7.

    Vgl. die Argumentation in dieser Richtung bei Karl-Ulrich Mayer und Walter Müller (1994) sowie die Zusammenfassung der Gegenstandpunkte bei Markus Schroer (2001, S. 407 ff.).

  8. 8.

    Von Alarmismus spricht zum Beispiel Alexander Bogner (2012).

  9. 9.

    In Karl Mannheims (1952) Unterscheidung von Ideologie und Utopie bildet sich diese stets politische Dynamik aus sozialen Prozessen ab.

  10. 10.

    Das revolutionäre Potenzial der Prozessdiagnose haben schon Karl Marx und Friedrich Engels erkannt, indem sie die Kritische Theorie als Vermittlungsinstanz des Klassenbewusstseins begriffen. Auch Theorien der Revolution integrieren die Sprengkraft sozialer Selbsterkundung und Selbstvergewisserung im Hinblick auf Momente der Abweichung von Entwicklungs- oder Fortschrittserwartungen (vgl. zum Beispiel Davies 1970).

  11. 11.

    Zum Begriff des semantischen Paravents vgl. zuletzt Oliver Dimbath (2012).

  12. 12.

    Bei Elias ist von dem ‚Prozess der Zivilisation‘ die Rede – das Kompositum ‚-ation‘ wird jedoch eher dazu verwendet, einen Weltzustand zu beschreiben und nicht einen Prozess. Wenn nun aber ‚-isierung‘ der Prozesslogik vorbehalten ist, wäre wohl passender das Wort ‚Zivilisierung‘ zu gebrauchen. Solche Fragen finden sich übrigens auch in anderen Kontexten, wenn etwa festgestellt wird, dass der Begriff ‚Organisation‘, der alltagssprachlich leicht mit dem Prozess des ‚Organisierens‘ gleichgesetzt wird, letztlich eine Momentaufnahme sozialer (Herrschafts-)Struktur darstellt, während die Verlaufsform ‚Organisieren‘ dessen Konstituierungsbedingungen in den Blick nimmt (vgl. daher zum Beispiel Weick 1985).

  13. 13.

    Vgl. die Einschätzung, zu der Thomas Kleinspehn (2002, S. 188) mit Blick auf das Fazit des Werkes über den Zivilisationsprozess gelangt.

  14. 14.

    Annette Treibel (2008, S. 67 f.) zeigt dies in ihrer Einführung in Elias’ Werk am Beispiel des berühmten Kopfstoßes des Fußballers Zinedine Zidane im Finale der Fußballweltmeisterschaft 2006. Aber auch mit Émile Durkheim (1970) lässt sich der Normverstoß nicht als Widerlegung eines soziologischen Tatbestands begreifen. So führt die Abweichung – bei Durkheim geht es um das Verbrechen – zu sozialer Sanktionierung und stärkt dadurch letztlich wieder die Institution.

  15. 15.

    Man kann allerdings auch nicht sagen, dass die Geschichte Elias eingeholt habe. So entstand das Buch vom Zivilisationsprozess bereits im englischen Exil. Dass es im Zuge einer Aufarbeitung der Fluchterfahrung mit Blick auf die Gegenwart der späten 1930er Jahre geschrieben worden wäre, ist eine Interpretation, der sich auch Elias (1996) später angeschlossen hat. Die Entstehung des Buches lässt sich aber auch als ‚Beschäftigungstherapie‘ eines Flüchtlings verstehen, der im Rahmen der von ihm entwickelten Forschungsmethodik Anschluss an das vorangehende Buchprojekt, die Abhandlung über die höfische Gesellschaft sucht.

  16. 16.

    Vgl. die Zitate aus einem Interview mit Elias bei Kleinspehn (2002, S. 184). Bei Annette Treibel (2008, S. 66) findet sich auch eine Gleichsetzung der Begriffe Entzivilisierung und Dezivilisierung.

  17. 17.

    Dieser Argumentation wird im Übrigen auch von Historikern widersprochen – vgl. zum Beispiel die Ausführungen bei Peter Wehling (1992).

  18. 18.

    Zur Auseinandersetzung mit dieser Kritik vgl. Michael Schröter (1997).

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Dimbath, O. (2017). Negative Diagnostik. Perspektiven einer Antithetik des gesellschaftlichen Wandels. In: Pfadenhauer, M., Grenz, T. (eds) De-Mediatisierung. Medien • Kultur • Kommunikation. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-14666-5_15

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