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Zur Schreibtechnik Kleists im ›Käthchen von Heilbronn‹

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Kleist-Jahrbuch 2003

Part of the book series: Kleist-Jahrbuch ((KLJA))

Zusammenfassung

Am ›Käthchen von Heilbronn‹ scheiden sich bekanntlich die Geister. Nicht nur die Hauptintentionen Kleists stehen immer wieder zur Debatte,1 sondern auch entscheidende Fragen darüber, was im Drama eigentlich geschieht, bleiben noch kontrovers. Was das Verständnis der Handlung angeht, so herrscht beispielsweise auch in Forschungsbeiträgen aus jüngster Zeit immer noch keine Einigkeit darüber, ob Käthchen ihren Traum in der Silvesternacht vergessen habe oder nicht.2 Man darf auf dieser Basis behaupten, daß ›Das Käthchen von Heilbronn‹ mehr als alle anderen Dramen Kleists in einer rezeptionsgeschichtlichen Grenzsituation angesiedelt ist, da der eine Deutungsversuch geradezu zwangsläufig einen diesem widersprechenden heraufzubeschwören scheint. Diese Divergenz galt bereits für die ersten zeitgenössischen Reaktionen auf den Text. So lautet etwa das Fazit eines der ersten Rezensenten, daß das Hauptanliegen des Stücks nicht »eine Parodie auf den romantischen Schnickschnack unserer Zeit« darstelle, sondern vielmehr »dem Hrn. v. Kleist barer, brennender Ernst sei«; andere verstanden dagegen die darin enthaltenen Dissonanzen, Übertreibungen und abrupten Kurswechsel eher im Zeichen des Komischen, des Parodistischen oder gar der »Selbsttravestie« — um eine weitere Rezension aus dem Jahre 1810 zu zitieren.3 Die Frage, was für ein handwerkliches Können bei der Verfassung des Stücks diese markante und lang andauernde Uneinigkeit in der Rezeption veranlaßt haben mag, ist bislang von der Forschung kaum adäquat beantwortet worden.

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Notizen

  1. Die neuere Forschungsliteratur zum ›Käthchen von Heilbronn‹ läßt sich, was ihre Grundbeurteilung der Intentionen Kleists angeht, in zwei Gruppen teilen: die eine, die idealisierende Momente im Text hervorhebt, und die andere, die das Drama eher im Zeichen des Komischen bzw. des Parodistischen versteht. Zur ersten Gruppe gehören unter anderen Günter Oesterle (Vision und Verhör. Kleists ›Käthchen von Heilbronn‹ als Drama der Unterbrechung und Scham. In: Gewagte Experimente und kühne Konstellationen. Kleists Werk zwischen Klassizismus und Romantik, hg. von Christine Lubkoll, Günter Oesterle und Stephanie Waldow, Würzburg 2001, S. 303–328) und Hans Dieter Zimmermann (Der Sinn im Wahn: der Wahnsinn. Das »große historische Ritterschauspiel« ›Das Käthchen von Heilbronn‹. In: Heinrich von Kleists Erzählungen und Dramen, hg. von Paul M. Lützeler und David Pan, Würzburg 2001, S. 203–213); zur zweiten gehören Gerd Ueding (Zweideutige Bilderwelt: ›Das Käthchen von Heilbronn‹. In: Kleists Dramen und Erzählungen, hg. von Walter Hinderer, Kleists Dramen. Neue Interpretationen, Stuttgart 1981, S. 172–187) und Chris Cullen und Dorothea von Mücke (›Das Käthchen von Heilbronn‹. In: Interpretationen: Kleists Dramen, hg. von Walter Hinderer, Stuttgart 1997, S. 138–141).

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  2. So verbleibt etwa Gonthier-Louis Fink bei der Ansicht, Käthchen habe den Inhalt ihres Traums bis zur Holunderbusch-Szene vergessen: »Von Käthchens Traum hören wir erst in IV,2, zwar aus ihrem eigenen Mund, aber nur dadurch, daß Graf vom Strahl sie im Schlaf ausfragt, denn nur so kann sie ihm offenbaren, was ihr im Wachzustand unbewußt ist. […] Zwischen dem Unbewußten und dem Bewußtsein gibt es für sie keine Verbindung.« Gonthier-Louis Fink, Der doppelte Traum in Kleists ›Käthchen von Heilbronn‹. In: »Verborgenes Enthüllen«. Zur Theorie und Kunst dichterischen Verkleidens. Festschrift für Martin Stern, hg. von Wolfram Malte Fues und Wolfram Mauser, Würzburg 1995, S. 160–175, hier S. 168 ff. — Falk Horst vertritt dagegen eher den Konsens in der Sekundärliteratur, der von Käthchens oft zum Ausdruck gebrachter Überzeugung, der Graf ›wisse‹ ja, warum sie ihm folgt, ausgeht, indem er feststellt: »Der Agnostiker Kleist ironisiert aber dieses Übersinnliche, […] denn obgleich Käthchen ihren Ritter aus dem Traum […] in der väterlichen Werkstatt auf den ersten Blick wiedererkennt, finden die beiden dadurch nicht zusammen«. Falk Horst, Kleists ›Käthchen von Heilbronn‹ — oder hingebende und selbstbezogene Liebe. In: Wirkendes Wort 46 (1996), S. 224–245, hier S. 225.

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  3. Vgl. die Rezensionen von Friedrich Weisser vom Dezember 1810 (LS 374) und D.G. Quandt vom Juli 1811 (LS 371).

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  4. Vgl. Theobalds Ablehnung des Urteils des Fehmgerichts in 1/2: »Ihr hochverehrten Herrn, ihr sprecht ihn schuldlos? / Gott sagt ihr, hat die Welt aus nichts gemacht; / Und er, der sie durch nichts und wieder nichts / Vernichtet, in das erste Chaos stürzt, / Der sollte nicht der leid’ge Satan sein?« (345) — hier und im folgenden nach DKV II die Zitate aus dem ›Käthchen von Heilbronn‹ mit Seitenzahlen in Klammern (vgl. zur Zitierweise auch Anm. 6). — Als Kunigunde nach der Badeszene mit dem Mißlingen ihrer Intrige rechnen muß, ist dies von ihrer Perspektive aus: »Gift! Asche! Nacht! Chaotische Verwirrung!« (416) Mit dem »Chaos« korrelieren auch der »Wahn«, den Graf Wetter vom Strahl am Anfang der Holunderbuschszene beim Käthchen vermutet (405), und auch der ›Wahnsinn‹, von dem er sich selbst am Ende dieser Episode bedroht fühlt: »Weh mir! Mein Geist, von Wunderlicht geblendet, / Schwankt an des Wahnsinns grausem Hang umher!« (410)

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  5. Beim Vergleich zur ›Sakontala‹ geht es nicht etwa darum, andere literarische Reminiszenzen oder Anleihen im Text des ›Käthchen von Heilbronn‹, wie sie etwa Hinrich C. Seeba unter der Rubrik »Quellen« in DKV II 867–874 einer kritischen Prüfung unterzogen hat, in Zweifel zu ziehen oder gar für die ausschlaggebende Bedeutung einer neuen ›Quelle‹ zu plädieren. ›Sakontala‹ hat gegenüber anderen möglichen Vergleichstexten dennoch den Vorteil, daß dieses Drama nicht nur ein positives Modell, sondern zugleich auch ein Gegen-Modell für wesentliche Aspekte von Kleists literarischer Praxis im ›Käthchen‹ bietet.

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  6. Georg Forsters Werke. Sämtliche Schriften, Tagebücher, Briefe, hg. von der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Siebenter Band: Kleine Schriften zu Kunst und Literatur. Sakontala, bearbeitet von Gerhard Steiner, Berlin 1963. Im folgenden werden Zitate aus diesem Band im Text mit Sigle ›F‹ und Seitenzahl gekennzeichnet, also: (F 486).

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  7. Leslie A. Wilson, A Mythical Image: The ideal of India in German Romanticism, Durham (USA) 1964, S. 153–162.

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  8. Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, hg. von Ernst Behler unter Mitwirkung von Jean-Jacques Anstett und Hans Eichner, Abteilung I, Band 8: Studien zu Philosophie und Theologie, Über die Sprache und Weisheit der Inder, Darmstadt 1975, S. 311–313.

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  9. Vgl. Richard H. Samuel und Hilda M. Brown, Kleists Lost Year and the Quest for ›Robert Guiskard‹, Leamington Spa 1981, S. 57 und 67 f.: »Comparison of all these available sources immediately throws up the question of where Kleist actually came to rest around the first days of January 1804. […] He was clearly not yet in any mood to enlighten Ulrike too much, and it seems he was equally reluctant to bring into the open the name of Dr Wedekind, his medical adviser. Might this possibly be because of the latter’s well-known political (i.e. extreme Jacobin) involvement with Georg Forster back in the 1790’s? […] Wedekind was certainly well-remembered in Paris, where he had wide-ranging contacts, and it is highly probable that Kleist would have heard all about him in the German circles in which he moved, for example those of Graf Gustav von Schlabrendorf or the Pobigheims.«

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  10. Vgl. den Brief an Marie von Kleist vom Mai 1811 (DKV IV, 484).

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  11. Zum Paradigma der ›romantischen Liebe‹ in bezug auf Kleists ›Käthchen‹ vgl. Yixu Lü, Die Fährnisse der verklärten Liebe. Über Kleists ›Käthchen von Heilbronn‹. In: Heinrich von Kleist und die Aufklärung, hg. von Tim Mehigan, New York 2000, S. 177–181.

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  12. Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, I. Abt., 8. Band (wie Anm. 8), S. 311–313.

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  13. Gerd Ueding, Zweideutige Bilderwelt (wie Anm. 1), S. 182.

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  14. Kommentar von Hinrich C. Seeba in DKV II, 1034.

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  15. Angesichts der engen Parallelen zwischen ›Sakontala‹ und dem ›Käthchen von Heilbronn‹ grenzt Hans Dieter Zimmermanns Argument, Kleist habe sich allen Ernstes in diesem einen Werk der christlichen Religion verschrieben, ans Absurde: »Zur Motivation der Handlung des ›Käthchen von Heilbronn‹ ist die christliche Religion unumgänglich. Was erst nach und nach sich erschließt, ist nämlich folgendes: an allerhöchster Stelle, also im Himmel — die Ehen werden bekanntlich im Himmel geschlossen — wurden Käthchen und der Ritter vom Strahl füreinander bestimmt.« Zimmermann, Der Sinn im Wahn: der Wahnsinn (wie Anm. 1), S. 210.

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  16. Ruth Klüger, Die andere Hündin: Käthchen. In: KJb 1993, S. 103–115, hier S. 111: »Im Kontrast zu Kunigunde tritt Käthchen in ihrer unbekümmerten Bereitschaft zu handeln einem gesellschaftlich ausgebildeten Frauenideal geradezu entgegen, wird darum auch mehrmals als ›Metze‹ und ›Dirne‹ bezeichnet […]. Sie träumt, aber das ist nicht ihre Hauptbeschäftigung. So wirkt sie zum Beispiel als Botin in wichtiger Sache […]. Hier wird ihr plötzlich eine strategisch wesentliche Information abgefragt, als wäre sie ein Unteroffizier […]. So rettet sie den Grafen, der sie eben noch hinauspeitschen wollte, in einer Unterredung, die weniger einem Liebesgeplauder als der Besprechung eines Offiziers mit seinem Adjutanten gleicht, eine männliche Gesprächsebene also.«

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  17. Yixu Lü, »Mienen sind schlechte Rätsel, die auf vieles passen«. Transparenz und Verschleierung in den Figurenbeziehungen bei Kleist. In: Aurora 60 (2000), S. 45–73.

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  18. Fritz Martini, ›Das Käthchen von Heilbronn‹. Kleists drittes Lustspiel? In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 20 (1976), S. 420–447; ähnlich auch bei Klüger, Die andere Hündin: Käthchen (wie Anm. 16), S. 115.

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  19. Kommentar von Hinrich C. Seeba in DKV II, 1034.

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  20. Vgl. Klüger, Die andere Hündin: Käthchen (wie Anm. 16), S. 107: »Des Grafen Bedauern, die Ehe mit Käthchen sei so unstandesgemäß, daß er sie nicht einmal in Erwägung ziehen könne, hat dem Dichter wiederholt den Vorwurf von extremem Standesdünkel eingetragen. Doch Kleist macht sich gerade in diesem Stück über den Adel lustig. So treten die Tanten von Thurneck […] mit dem Wehgeschrei: ›Wir sind verloren! Wir sind gespießt!‹ (Vs. 1802) auf. Ähnlich lächerlich sind die Herren von Thurneck, die in der vorletzten Szene mit den Fingern auf die verschmähte Braut zeigen […], als hätte man Kunigunde nur versehentlich stehen lassen.«

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  21. Hans Meyer, Heinrich von Kleist. Der geschichtliche Augenblick, Pfullingen 1962, S. 41 f.

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  22. Chris Cullen und Dorothea von Mücke, Love in Kleists ›Penthesilea‹ and ›Käthchen von Heilbronn‹. In: DVjs 63 (1989), S. 487.

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  23. Zimmermann, Der Sinn im Wahn: der Wahnsinn (wie Anm. 1), S. 203.

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  24. Klüger, Die andere Hündin: Käthchen (wie Anm. 16), S. 108, hat das Verhalten des Grafen in dieser Szene einsichtig kommentiert: »Graf Wetter vom Strahl verstößt mehrfach gegen die Forderungen der idealisierten Männlichkeit, wie sie die romantische Ritterliteratur liebte. In den Szenen des dritten Aktes, die vor dem brennenden Schloß spielen, ist der Graf unfähig, auf eine vernünftige Weise einzugreifen. […] Der Graf Wetter vom Strahl wird im Laufe dieser Unfälle zu einer komödienhaften Figur.«

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  25. Vgl. Kleists ›Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden‹: »Denn nicht wir wissen, es ist allererst ein gewisser Zustand unsrer, welcher weiß« (DKV III, 540).

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  26. Gotthilf Heinrich Schubert, Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft, 1808, Neudruck: Darmstadt 1967, S. 349: »Dagegen findet sich […] im gewöhnlichen Wachen auch nicht die Spur einer Erinnerung an den Zustand des Somnambulismus, eben so wenig als sich in diesem eine an das zeigt, was im Doppelschlaf mit dem Kranken vorging.«

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  27. Anthony Stephens hat gezeigt, daß auratische ›Wahrheitsrelationen‹ in den Dichtungen Kleists im Grunde als Machtrelationen zu verstehen sind und daß Kleist in dieser Hinsicht in seiner dichterischen Praxis den in der Aufklärung geläufigen Wahrheitsvorstellungen widerspricht. Vgl. Anthony Stephens, Kleists Szenarien der Wahrheitsfindung. In: Ders., Kleist — Sprache und Gewalt, Freiburg i. Br. 1999, S. 300f.: »Meine These wäre daher, daß Kleist mit solchen Ironien ein subversives Spiel mit der Vorstellung absoluter und greifbarer Wahrheiten treibt. Er bedient sich mit Vorliebe parodistischer Modelle, weil seine eigene Wahrheitsauffassung in der Zeit vor der Krise vom März 1801 im Rückblick als überaus naiv erscheint. […] Kleists Szenarien der Wahrheitsfindung spielen geradezu zwangsläufig auf diesen Vorgang der Desillusionierung immer wieder an, und sie rekapitulieren ihn in zahlreichen Variationen. Dabei legen sie die durchgängige Tendenz an den Tag, Wahrheitsrelationen als Machtspiele zu entlarven […]. Subvertiert wird jedoch zuletzt der substantielle Unterschied zwischen Wahr und Falsch selbst […].«

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  28. Siehe oben Anm. 3.

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  29. Vgl. Lü, Die Fährnisse der verklärten Liebe (wie Anm. 11).

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  30. Es ist ein Unglück für Deutungen des Stücks, die auf der Psychologie Lacans basieren, daß ausgerechnet das »Begehren« im Text durchweg standesgemäß kodiert zu sein scheint. Dies wird durch den rituellen Austausch zwischen dem Kaiser und Wetter vom Strahl in V/11 um die Zustimmung zur Heirat bestätigt: »Der Kaiser […] Das Käthchen ist die Erst’ itzt vor den Menschen, / Wie sie’s vor Gott längst war; wer sie begehrt, / Der muß bei mir jetzt würdig um sie frein. Graf vom Strahl beugt ein Knie vor ihm: Nun, hier auf Knien bitt ich: gib sie mir!« (429).

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Lü, Y. (2003). Zur Schreibtechnik Kleists im ›Käthchen von Heilbronn‹. In: Blamberger, G. (eds) Kleist-Jahrbuch 2003. Kleist-Jahrbuch. J.B. Metzler, Stuttgart. https://doi.org/10.1007/978-3-476-02897-6_22

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